BT-Drucksache 15/195

Der Weg für die Osterweiterung ist frei: Abschluss der Beitrittsverhandlungen auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen

Vom 17. Dezember 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 15/195
15. Wahlperiode 17. 12. 2002

Antrag
der Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Gerd Müller, Michael Stübgen, Peter Altmaier,
Veronika Bellmann, Kurt-Dieter Grill, Olav Gutting, Gunther Krichbaum, Patricia
Lips, Dr. Georg Nüßlein, Albert Rupprecht (Weiden), Thomas Silberhorn, Matthias
Wissmann, Otto Bernhardt, Roland Gewalt, Georg Girisch, Josef Göppel, Michael
Grosse-Brömer, Ursula Heinen, Klaus Hofbauer, Bernhard Kaster, Michael
Kretschmer, Erwin Marschewski (Recklinghausen), Franz Obermeier, Dr. Friedbert
Pflüger, Thomas Rachel, Dr. Wolfgang Schäuble, Dr. Andreas Schockenhoff,
Annette Widmann-Mauz und der Fraktion der CDU/CSU

Der Weg für die Osterweiterung ist frei: Abschluss der Beitrittsverhandlungen
auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen

Der Bundestag wolle beschließen:
Der Europäische Rat hat in Kopenhagen am 12./13. Dezember 2002 eine histo-
rische Entscheidung getroffen und die Beitrittsverhandlungen mit insgesamt
zehn Staaten abgeschlossen. Damit ist der Weg frei für eine Mitgliedschaft zum
1. Mai 2004 von Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Slowakische
Republik, Slowenien, die Tschechische Republik, Ungarn und Zypern in der
Europäischen Union. Die künstliche Trennung des europäischen Kontinents in
Ost und West wird endgültig überwunden, die Europäische Union wird eine
echte gesamteuropäische Gemeinschaft. Länder, die kulturell immer zu Europa
gehörten, erhalten endlich die Chance, am Projekt der europäischen Integration
teilzunehmen.

I. Politisch, kulturell und wirtschaftlich ist die Erweiterung der Europäischen
Union ein epochales Ereignis. Frieden, politische Stabilität, Demokratie,
Beachtung der Menschenrechte und Minderheitenschutz sind Werte, die
dann in insgesamt 25 Staaten Europas mit fast 450 Millionen Menschen
Geltung haben werden. Von Kopenhagen nach Kopenhagen – diese Formel
der dänischen Ratspräsidentschaft steht für die dauerhafte Überwindung
der Teilung Europas und seine Neuordnung auf einem soliden und tragfähi-
gen Wertefundament.
Mit der erweiterten EU entsteht einer der größten einheitlichen Wirtschafts-
räume der Welt, der für die Herausforderungen des globalen Wettbewerbs
gut gerüstet ist. Die europäische Integration ist Garant für die Wettbewerbs-
fähigkeit des Standorts Europa. Das Wirtschaftspotential der Beitrittskandi-
daten ist groß, die Europäische Union integriert mit diesen Ländern ausge-
sprochene Wachstumsmärkte. Die Erweiterung wird diesseits und jenseits
ihrer bisherigen Grenzen Märkte entwickeln, Arbeitsplätze sichern und den
Menschen mehr Wohlstand bringen. Erhöhtem Anpassungsdruck in den
Grenzregionen muss durch den beschleunigten Ausbau der Infrastrukturen,
gezielten Einsatz von Förderinstrumenten sowie durch eine wirksame

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Strukturpolitik begegnet werden. Die Fähigkeit, Europas Umwelt zu erhal-
ten, Kriminalität und illegale Einwanderung zu bekämpfen sowie das
Wohlstandsgefälle zwischen der EU und den Beitrittsstaaten zu vermin-
dern, wird durch die Erweiterung verbessert werden. Die Erweiterung wird
zudem die Position der EU auf internationaler Ebene stärken. Das gilt vor
allem in der Handelspolitik, aber auch in der Außen- und Sicherheits-
politik.
Die Früchte der Erweiterung sind bereits heute sichtbar: In den ehemals vom
Kommunismus beherrschten Staaten Mittel- und Osteuropas haben sich sta-
bile Demokratien herausgebildet. Offene Gesellschaften und funktions-
fähige Marktwirtschaften sind durch mutige Schritte der Bevölkerungen
entstanden, die durch die Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der Europäi-
schen Union unterstützt wurden. Die Kopenhagener Kriterien – Verfas-
sungsstaatlichkeit, Binnenmarktfähigkeit und Integrationsfähigkeit – wer-
den von allen zehn Kandidatenstaaten erfüllt. Die aktuellen Fortschritts-
berichte der Kommission vom Oktober dieses Jahres zeigen dabei, dass die
Kandidatenländer beträchtliche Fortschritte insbesondere bei der Über-
nahme des EU-Rechts gemacht haben. Verbesserungen sind auch beim
Aufbau der Verwaltungs- und Justizstrukturen erzielt worden, die für die
Umsetzung des gemeinschaftlichen Besitzstandes besonders wichtig sind.
Die Bundesregierung wird aufgefordert, gerade in diesem Bereich auch
nach Abschluss der Beitrittsverhandlungen noch besondere Bemühungen
aufzuwenden. Die Absicht der Kommission, den Prozess der Rechts-
angleichung bis zum Beitritt mit einem Monitoring zu begleiten, wird den
Beitrittsländern helfen, sich optimal auf den Beitritt vorzubereiten, damit
EU-weit einheitliche Bedingungen gelten. Nur dann wird die Erweiterung
der Erfolg, den sich die Befürworter der europäischen Idee wünschen.
Die in der Europäischen Union geltende Freizügigkeit und Niederlassungs-
freiheit ist ein Schritt hin zur Verwirklichung des Rechts auf die Heimat
auch der deutschen Vertriebenen, die in einem Europa das sich als Rechts-
und Wertegemeinschaft versteht, eine wichtige Brückenfunktion bei der
Zusammenarbeit mit Deutschlands östlichen Nachbarstaaten haben. Wir
wollen ein Europa, in dem die Völker und Volksgruppen einträchtig und
ohne rechtliche Diskriminierung auch aus der Vergangenheit zusammen-
leben können. Auch nach der Erweiterung bleiben die Vertreibungsdekrete
und -gesetze Unrecht.
Von der Erweiterung profitieren alle; Europa wird nicht nur größer, es wird
auch moderner. Das gilt auch für Deutschland. Für unsere innenpolitische
Reformunfähigkeit ist außenpolitischer Reformdruck durchaus heilsam. Im
Wettbewerb um die besten Lösungen entsteht ein Europa, das die gemein-
same Geschichte nicht nur als Schicksal, sondern vor allem als Chance be-
greift.

II. Die Europäische Union muss die jetzt beschlossene Erweiterung um zehn
neue Mitgliedstaaten sowohl politisch als auch wirtschaftlich verkraften.
Ihre Integrationsfähigkeit muss gewahrt bleiben. Dies gilt insbesondere mit
Blick auf die Forderung der Türkei, möglichst bald Beitrittsverhandlungen
mit der EU zu beginnen.
Die Türkei hat in letzter Zeit im Lichte der beim Gipfel von Kopenhagen
1993 von den Staats- und Regierungschefs für die Aufnahme von Beitritts-
verhandlungen verbindlich festgelegten Kriterien wichtige Fortschritte ins-
besondere auf dem Gebiet der Rechtssetzung gemacht. Die Türkei muss auf
ihrem Weg des Ausbaus der demokratischen und rechtsstaatlichen Struk-
turen, der vollen Verwirklichung der Menschen- und Minderheitenrechte

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und der Implementierung der hierzu nötigen Reformen nach Kräften unter-
stützt werden.
Die Europäische Kommission hat in ihrem letzten Bericht über den Fort-
schritt der Beitrittskandidaten festgestellt, dass die Türkei sich auf gutem
Weg befindet, die Kriterien von Kopenhagen zu verwirklichen, sie diese
jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht erfüllt. Der Deutsche Bun-
destag begrüßt, dass die Staats- und Regierungschefs der Europäischen
Union auf die Nennung eines konkreten Datums zur Aufnahme von Bei-
trittsverhandlungen ausdrücklich verzichtet haben.
Unbeschadet der Frage der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien muss die
Frage eines Beitritts der Türkei zur Europäischen Union im Zusammen-
hang mit den Vorstellungen zur politischen Identität Europas gesehen wer-
den, die gegenwärtig vom Europäischen Konvent entwickelt werden. Die
Europäische Union als handlungsfähige politische Einheit muss sich Klar-
heit über ihre Grenzen verschaffen und darüber, ob Länder, die nur teil-
weise zu Europa gehören, uneingeschränkt Mitglied werden können. Des-
halb sollten während der Arbeiten des Europäischen Konvents und mitten
im Prozess der Erweiterung der EU um zehn Staaten weitere Festlegungen
bezüglich eines Beitritts der Türkei vermieden werden. Die Ergebnisse der
Arbeiten des Konvents werden dann gemeinsam mit der Türkei zu erörtern
sein. Sie können dazu führen, dass in beiderseitigem Interesse neue Formen
der Zusammenarbeit gesucht werden insbesondere vor dem Hintergrund,
dass die strategische Rolle der Türkei unter den veränderten Sicherheitsbe-
dingungen nochmals gewachsen ist. Die Frage eines Beitritts der Türkei zur
EU bedarf im Deutschen Bundestag und in der deutschen Öffentlichkeit
einer gründlichen Erörterung. Wir wollen die Türkei wirtschaftlich, poli-
tisch und institutionell außerhalb einer Mitgliedschaft eng mit der Europäi-
schen Union verbinden.

Vor diesem Hintergrund fordert der Deutsche Bundestag die Bundes-
regierung auf,
1. sich bei den Partnern in der EU dafür einzusetzen, dass jedes Verhand-

lungsangebot an die Türkei auch die Perspektive einer engen, privilegier-
ten Partnerschaft mit der Europäischen Union enthält und dass der Euro-
päischen Kommission der Auftrag erteilt wird, Möglichkeiten zu
präsentieren, wie ein solches besonderes Verhältnis der Türkei zu Europa
angemessen formalisiert werden kann;

2. den Deutschen Bundestag und die deutsche Öffentlichkeit in die Erörte-
rung eines Beitritts der Türkei in die EU ausreichend einzubeziehen.

III. Die Erweiterung muss von politischen Reformen in der Europäischen
Union begleitet werden. Der dazu berufene Konvent wird bis Mitte 2003
einen Entwurf für eine europäische Verfassung erarbeiten. Eine effizientere
Handlungsfähigkeit, eine überzeugendere Legitimität und höhere Transpa-
renz für die EU und in der EU sind die Ziele dieses Verfassungsvertrags.
Der vom Präsidenten des Konvents, Giscard d´Estaing, vorgelegte Vorent-
wurf eines Verfassungsvertrages ist eine gute Grundlage, die in den nächs-
ten Monaten mit Leben erfüllt werden muss.
Der Deutsche Bundestag spricht sich dafür aus, dass sich die Europäische
Union in ihren Zuständigkeiten auf ihre Kernaufgaben konzentriert und
dort Handlungsfähigkeit sichert. Ein durch ein neues Frühwarnsystem er-
gänztes Subsidiaritätsprinzip wird dazu beitragen Kompetenzstreitigkeiten
zwischen der europäischen und der nationalen Ebene gar nicht erst entste-

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hen zu lassen. Zu den europäischen Zuständigkeiten gehören neben dem
Binnenmarkt mit funktionierendem wirtschaftlichen Wettbewerb, einer ge-
meinsamen Währung und einer reformierten Agrarpolitik auch Gebiete, die
grenzüberschreitenden Charakter haben wie Verkehrs- und Umweltpolitik.
Die Europäische Union sollte angesichts einer veränderten globalen Kräfte-
konstellation und von daraus resultierenden sicherheitspolitischen Heraus-
forderungen weitere Integrationsschritte in den Bereichen Außen- und
Sicherheitspolitik sowie bei der Justiz- und Innenpolitik gehen. Hier ist
eine deutliche Stärkung der Effizienz und des Profils der Europäischen
Union notwendig. Eine Zusammenlegung des Amtes des Außenkommis-
sars mit dem des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicher-
heitspolitik und damit der Beseitigung von Doppelstrukturen ist dabei der
richtige Weg. Der neue außenpolitische Vertreter der EU wäre dann Vertre-
ter des Rates und gleichzeitig Vize-Präsident der Kommission. Der ge-
trennte Unterbau dieser beiden Funktionen sollte mittelfristig verschmolzen
werden. Europäisches Parlament und Europäische Kommission sind zu
stärken. Die Einrichtung eines Kongresses der Völker sowie die Schaffung
eines von den Regierungen ernannten europäischen Präsidenten lehnt der
Deutsche Bundestag ab. Nationale und europäische Ebene müssen von-
einander abgegrenzt sein, um die demokratische Verantwortlichkeit klar zu-
ordnen zu können. Aus diesem Grunde sollte auch der Kommissionspräsi-
dent auf Vorschlag des Rates durch das Europäische Parlament gewählt
werden, wobei der Rat das Ergebnis der Europawahl zu berücksichtigen
hat. Dies gewährleistet ein Mindestmaß an demokratischer Verantwortung
gegenüber dem Europäischen Parlament und berücksichtigt den Gedanken
der Gewaltenteilung. Ein so gewählter Kommissionspräsident könnte auch
den Vorsitz im Rat übernehmen. Die Grundrechtecharta sollte in den Ver-
fassungsvertrag aufgenommen, die bisherige Säulenstruktur der Europäi-
schen Union aufgelöst und der Europäischen Union sollte Rechtspersön-
lichkeit verliehen werden.

IV. Die Wirtschafts- und Währungsunion mit der Einführung des Euro war der
größte integrationspolitische Fortschritt in den letzten Jahren auf dem Weg
zu einer vertieften Europäischen Union. Der Stabilitäts- und Wachstums-
pakt ist dabei das zentrale Instrument im stabilitätspolitischen Konzept die-
ser Wirtschafts- und Währungsunion. Er ist Grundlage der finanzpoliti-
schen Solidarität und des Vertrauens zwischen den Staaten der Eurogruppe
und auf den Finanzmärkten weltweit. Eine Lockerung seiner Kriterien
würde nicht nur die Bemühungen der Euro-Staaten konterkarieren, die sich
um eine gesunde Haushaltspolitik bemühen, sondern würde die junge Wäh-
rung in eine tiefe Vertrauenskrise stürzen. Bestrebungen, neben dem Haus-
haltsdefizit auch Inflation und Arbeitsmarktlage in den Stabilitätsprogram-
men der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen oder bestimmte Haushalts-
posten aus der Defizitberechnung herauszurechnen, gehen in die falsche
Richtung. Statt neue Kriterien zu erfinden, muss alles daran gesetzt werden,
die bestehenden Kriterien zu erfüllen. So mahnt die Europäische Zentral-
bank als Hüterin der Geldpolitik zu Recht ein striktes Einhalten der Stabili-
tätsregeln an. Der Stabilitätspakt bietet auch heute schon genügend Flexi-
bilität, um auf eine schwierige Haushaltslage in den Mitgliedsländern
reagieren zu können. Die derzeitige Haushaltskrise ist der verhängnisvollen
Wirtschafts-, Arbeits- und Haushaltspolitik der Bundesregierung in den
letzten vier Jahren zuzuschreiben. Die Einführung einer gemeinsamen
Währung als der bedeutsamste Integrationsschritt der letzten Jahre darf
nicht aufs Spiel gesetzt werden. Die Bundesregierung muss sich den Rege-
lungen, die den Euro gegen unsolide Haushaltspolitik absichern, unterwer-
fen und alles daran setzen, die Staatsfinanzen zu sanieren. Dazu gehört

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/195

nicht nur die Zurückführung der Neuverschuldung unter die Schwelle von
3 % mit dem Ziel eines ausgeglichen Haushalts bis 2006, sondern auch, die
Staatsverschuldung unter die 60 %-Grenze zu drücken. Deutschland als der
größten Volkswirtschaft der EU kommt hier eine besondere Bedeutung zu.

Berlin, den 17. Dezember 2002
Peter Hintze
Dr. Gerd Müller
Michael Stübgen
Peter Altmaier
Veronika Bellmann
Kurt-Dieter Grill
Olav Gutting
Gunther Krichbaum
Patricia Lips
Dr. Georg Nüßlein
Albert Rupprecht (Weiden)
Thomas Silberhorn
Matthias Wissmann
Otto Bernhardt
Roland Gewalt
Georg Girisch
Josef Göppel
Michael Grosse-Brömer
Ursula Heinen
Klaus Hofbauer
Bernhard Kaster
Michael Kretschmer
Erwin Marschewski (Recklinghausen)
Franz Obermeier
Dr. Friedbert Pflüger
Thomas Rachel
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Schockenhoff
Annette Widmann-Mauz
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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