BT-Drucksache 15/1236

Mehr Rechte für Fahrgäste im öffentlichen Personenverkehr

Vom 24. Juni 2003


Deutscher Bundestag Drucksache 15/1236
15. Wahlperiode 24. 06. 2003

Antrag
der Abgeordneten Peter H. Carstensen (Nordstrand), Dirk Fischer (Hamburg),
Ursula Heinen, Gitta Connemann, Albert Deß, Henry Nitzsche, Gerda Hasselfeldt,
Eduard Oswald, Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach), Georg Brunnhuber, Renate
Blank, Peter Bleser, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Cajus Caesar, Hubert Deittert,
Enak Ferlemann, Ingrid Fischbach, Dr. Michael Fuchs, Peter Götz, Markus Grübel,
Helmut Heiderich, Uda Carmen Freia Heller, Klaus Hofbauer, Dr. Peter Jahr,
Julia Klöckner, Norbert Königshofen, Dr. Hermann Kues, Werner Kuhn (Zingst),
Eduard Lintner, Klaus Minkel, Marlene Mortler, Anita Schäfer (Saalstadt), Norbert
Schindler, Georg Schirmbeck, Bernhard Schulte-Drüggelte, Kurt Segner, Gero
Storjohann, Volkmar Uwe Vogel, Gerhard Wächter und der Fraktion der CDU/CSU

Mehr Rechte für Fahrgäste im öffentlichen Personenverkehr

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Fahrgastrechte von Bahnkunden und Verbrauchern im sonstigen öffentlichen
Verkehr sind im Vergleich zu anderen Bereichen des Geschäftsverkehrs immer
noch unterentwickelt. In keinem Bereich des täglichen Lebens ist der Bürger
zurzeit so rechtlos wie als Fahrgast. Verbraucherschutz im öffentlichen Perso-
nenverkehr ist nicht mehr als ein Modewort.
Bei der Fahrplanauskunft im Internet werden im Fernverkehr nur Züge der
Deutsche Bahn AG ausgewiesen; weiter geht es beim Verkauf von Fahrschei-
nen im Bahnhofsgebäude, wo lediglich Fahrscheine für Verbindungen der
Deutsche Bahn AG, nicht aber der von Wettbewerbern angebotenen Relationen
erworben werden können. Das Wahlrecht des Verbrauchers wird somit einge-
schränkt. Fahrpläne und Auskünfte sind ohne Gewähr. Fahrscheine sind oft un-
verständlich. Tarife sind dem Fahrgast oft unbekannt.
Der Bahnkunde, dessen Zug sich verspätet oder ganz ausfällt und der dadurch
wesentliche Nachteile erleidet (z. B. Versäumen von Anschlussverbindungen
oder wichtige Geschäftstermine), hat den vollen Fahrpreis zu zahlen und keinen
Anspruch auf Entschädigung. In keinem anderen rechtlichen Bereich muss der
Verbraucher für eine mangelhafte Leistung den vollständigen Preis bezahlen
bzw. gegen seinen Willen die mangelhafte Ware annehmen.
Rechtliche Instrumentarien, die in anderen Rechtsgebieten selbstverständlich
sind, stehen dem Verbraucher in diesem Bereich dagegen kaum oder gar nicht
zur Verfügung. Er ist auf das Entgegenkommen des Verkehrsunternehmens an-
gewiesen.
Nach bürgerlichem Recht ist der Beförderungsvertrag ein Werkvertrag. Danach
hätte der Fahrgast den Fahrpreis erst nach ordnungsgemäßer Leistung zu zah-
len. Bei mangelhaften Leistungen hätte er ein Recht auf Nacherfüllung, Min-

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derung, Rücktritt oder Schadenersatz. Diese üblichen Verbraucherrechte sind
im Öffentlichen Personenverkehr durch öffentlich-rechtliche Sonderregelungen
in Gestalt des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG), des Personenbeförde-
rungsgesetzes (PBefG) sowie der dazugehörigen Verordnung über die All-
gemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Omnibusver-
kehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen (VO-ABB) und der eben-
falls dazugehörigen Eisenbahn-Verkehrsordnung (EVO), insbesondere dem
Haftungsausschluss gemäß § 17 EVO, faktisch außer Kraft gesetzt.
Es bedarf eines rechtlichen Rahmens zur einheitlichen Regelung von Ansprü-
chen bei der Benutzung von Bahnen und Bussen sowie für den Luftverkehr, die
Schifffahrt und den Fernbus-Linienverkehr.
Insbesondere die Rechte von Bahnkunden sind kurzfristig zu verbessern. Die
Reform der Eisenbahnverkehrsordnung (EVO) durch Umsetzung des von der
Bundesregierung unterzeichneten Protokolls vom 3. Juni 1999 betreffend die
Änderung des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr
– COTIF – in nationales Recht, wonach bei Ausfall, Verspätung und Anschluss-
versäumnis Schadenersatz nur dann vorgesehen ist, wenn die Reise nicht am
selben Tag fortgesetzt werden kann oder dies unzumutbar ist, hat keine echte
Verbesserung des Verbraucherschutzes erbracht. Denn Leistungsstörungen zu
Beginn oder zum Ende der Reise werden nicht erfasst.
Der immer noch geltende Haftungsausschluss gemäß § 17 EVO für Ansprüche
des Verbrauchers auf Schadenersatz und Entschädigung wegen Verspätung ist
unangemessen, weil er ein starkes Missverhältnis zwischen den vertraglichen
Rechten und Pflichten zwischen Verbraucher und Bahn aufrechterhält. Spätes-
tens nach Umwandlung der Bahn in ein Bundesunternehmen in privater Rechts-
form im Jahr 1994 ist dieses Sonderrecht nicht mehr gerechtfertigt. Gerade auf-
grund dieser rechtlichen Konstruktion müssen die Rahmenbedingungen der
Bahn auch am Kundeninteresse ausgerichtet sein und nicht nur am Unterneh-
mensinteresse.
Vor allem gibt es keine Spezifika des öffentlichen Verkehrs, die diese Sonder-
regelungen öffentlicher Verkehrsunternehmen rechtfertigen würden. Beför-
derungsleistungen rechtfertigen per se keine Abweichung von allgemeinen
Verbraucherschutzvorschriften. Das Rechtsverhältnis zwischen Fahrgast und
Verkehrsunternehmen ist zivilrechtlicher Natur und muss auch so geregelt wer-
den. Die Ausgestaltung des Beförderungsvertrags im Einzelnen kann durch all-
gemeine Geschäftsbedingungen ausgestaltet werden.
Sicherlich muss auch im Recht des öffentlichen Personenverkehrs den Interes-
sen der Beförderungsunternehmen hinreichend Rechnung getragen werden.
Daher ist der Ausschluss von Ersatzansprüchen bei Verschulden Dritter (Suizid,
Zuparken von Schienen durch Autofahrer etc.) oder Naturkatastrophen berech-
tigt. Sofern die Ursache der Verspätung oder aber des Ausfalls aber in der Sphäre
des Verkehrsunternehmens liegt, besteht kein sachlicher Grund für einen solchen
Ausschluss. Und dies ist häufig der Fall. So sind die meisten Verspätungen im
Eisenbahnverkehr auf die Überschreitung von Sperrpausen und dann auf techni-
sche Störungen (z. B. Triebfahrzeugmängel etc.) zurückzuführen. Erst an dritter
Stelle der Verspätungsgründe steht die Behinderung durch Suizid.
Es ist an der Zeit, das Rechtsverhältnis zwischen Fahrgast und Verkehrsunter-
nehmen neu zu definieren. Zwar sind die Anstrengungen der Bahn zur Verbes-
serung des Kundenservice sehr zu begrüßen und anzuerkennen und werden
auch von den Fahrgästen honoriert. Ziel muss aber weiterhin sein, den Fahrplan
und den Fahrbetrieb ständig zu optimieren und damit Störungen so weit wie
möglich zu verhindern. Eine gelungene Reform der Fahrgastrechte muss als Er-
gebnis auch vorweisen können, dass sich die Fahrgäste nicht nur auf die Kulanz
der Verkehrsunternehmen verlassen müssen, sondern sich auch rechtlicher In-

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strumentarien bedienen können, die in anderen Rechtsverhältnissen selbstver-
ständlich sind. Solche Instrumentarien können gerade zur Verbesserung von
Fahrplan und Fahrbetrieb beitragen und damit letztlich zur Verminderung von
tatsächlichen Schadenersatzansprüchen und Entschädigungsansprüchen.
Und dabei darf nicht auf internationale Verträge oder EU-Regelungen gewartet
werden. Es bestehen zwar Handlungsbemühungen auf EU-Ebene. So fordert
die EU-Kommission von den Europäischen Bahnen eine Qualitäts-Charta, die
verbindliche Fahrgastrechte für Zugverspätungen und -ausfälle beinhalten soll.
Aber weder das EU-Recht noch internationale Verträge stehen einer Verbesse-
rung der Rechte der Verbraucher auf nationaler Ebene entgegen. Im Reisever-
tragsrecht hat der deutsche Gesetzgeber von dieser Möglichkeit Gebrauch
gemacht. Der Kunde im öffentlichen Personenverkehr darf nicht schlechter
behandelt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf:
1. Das Recht der Personenbeförderung für die Benutzung von Eisenbahnen

und andere öffentliche Personenverkehrsunternehmen wie Straßenbahnen,
Omnibussen, Kraftfahrzeugen einheitlich zu regeln und verkehrsmittelüber-
greifend auszugestalten.

2. Die das Rechtsverhältnis zwischen Fahrgast und Verkehrsunternehmen
betreffenden Regelungen aus AEG, PBefG sowie den darauf basierenden
Verordnungen EVO und VO-ABB herauszulösen und im bürgerlichen Recht
zu verankern; dabei sollte auf ein Sondergesetz verzichtet werden.

3. Die geplante Neuregelung auf die privatrechtlichen Rahmenbedingungen
eines Beförderungsvertrages zu beschränken und die weitere Ausgestaltung
des Vertragsverhältnisses den Vertragsparteien durch z. B. Verwendung All-
gemeiner Geschäftsbedingungen zu überlassen, die einer vollumfänglichen
Überprüfung nach dem Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen ge-
mäß §§ 305 ff. BGB zugänglich sind.
l Hinsichtlich des Beförderungsvertrages ist zu definieren, wann und durch

welche tatsächlichen Handlungen ein Vertrag zustande kommt und wel-
che Rechtsbeziehungen sich aus dem Umstand ergeben, dass an der
Erbringung der Beförderungsleistung mehrere Unternehmen beteiligt
sein können. Aus dem Vertragsschluss muss ein unmittelbarer Anspruch
des Fahrgastes auf die vereinbarte Beförderungsleistung erwachsen. Ent-
sprechend des Reisevertragsrechts muss der Fahrgast berechtigt sein,
auch denjenigen in Anspruch zu nehmen, in dessen Namen der Beförde-
rungsvertrag abgeschlossen worden ist.

l DieUnternehmen sind zu verpflichten, die zu erbringende Leistung klar zu
definieren, damit anhand dessen die Gewährleistungsrechte festgelegt
werden können. Dazu muss die Gewährübernahme gehören für den – auch
elektronisch – veröffentlichten Fahrplan mit allen Anschlüssen bei einer
durchgehenden Reisekette auch zu anderen Verkehrsmitteln und die
versprochenen Komfortmerkmale wie die Wagenklasse oder die Zug-
kategorie.

4. Die Beförderungspflicht als solche weiterhin als Aufgabe des Staates im
öffentlichen Recht zu regeln.

5. Folgende Haftungsgrundsätze wegen Ausfall, Verspätung und Anschluss-
versäumnis einzuhalten:
l Bei der Nacherfüllung durch eine vom Fahrplan abweichende Beförde-

rung, die Verkehrsunternehmen vorrangig zugestanden werden sollte,
sind durch die Fahrgäste hinzunehmende zeitliche Toleranzgrenzen sowie

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zusätzlich zu gewährende Entschädigungen je nach ursprünglicher Fahr-
zeit festzulegen.

l Darüber hinaus sollte bei Überschreiten einer bestimmten Zeitspanne, ge-
staffelt je nach ursprünglicher Fahrzeit, ein Rücktrittsrecht eingeräumt
werden, wenn infolge von Verspätungen oder nachträglichen Fahrplanän-
derungen die beabsichtigte Reise nicht durchgeführt wird bzw. die wei-
tere Verkehrsnutzung unzumutbar wird. Als Folge des Rücktritts muss
der Verbraucher neben dem Umtausch der Fahrkarte zumindest auch die
Erstattung des vollen Fahrpreises verlangen können.

l Bei Ausübung des Rücktrittsrechts und der Geltendmachung des vollen
Erstattungsanspruchs sollte zudem ein Anspruch auf Schadenersatz in
Gestalt der Mehrkosten der Weiterbeförderung auch durch andere Ver-
kehrsmittel eingeräumt werden.

l Ein Haftungsausschluss oder -minderung für von dem Verkehrsunterneh-
men zu vertretende Mängel muss unzulässig sein. Bei einem Haftungs-
ausschluss sollten Regelungen für eine zeitliche und örtliche Begrenzung
gefunden werden.

l Eine betragsmäßige Haftungsbegrenzung ist gerechtfertigt, wobei diese
unter Berücksichtigung der typischen Haftungsrisiken ausgestaltet sein
muss.

l Beweisregelungen müssen sich an den Verantwortungsbereichen der Ver-
tragspartner und an der Leistbarkeit eines durchschnittlichen Verbrau-
chers orientieren und, wenn gegebenenfalls geändert werden (z. B. hin-
sichtlich der Sicherung der Anschlussverbindung).

Da § 17 EVO diesen Grundsätzen nicht im mindesten entspricht, ist insbe-
sondere diese Vorschrift aufzuheben.

6. Durch rechtliche Regelungen sicherzustellen, dass sowohl die Fahrplanaus-
kunft als auch der Erwerb von Fahrscheinen im Bahnhofsgebäude und im
Internet hinsichtlich aller im Wettbewerb stehenden Eisenbahnunternehmen
und für jedes Eisenbahnunternehmen möglich ist.

7. Die Pflicht zur Preisangabe nach der Preisangabenverordnung im Interesse
der Verbraucher an der Übersichtlichkeit und Transparenz von Preisen auf
öffentliche Verkehrsmittel auszudehnen, so dass auch von öffentlichen
Verkehrsunternehmen in Angeboten und Werbung der vom Verbraucher zu
zahlende Gesamtpreis, also inklusive aller Gebühren, Zuschläge und Steu-
ern anzugeben ist.

8. Bei der Höhe der Stornogebühr zwischen der Rückgabe und dem Umtausch
ungenutzter Fahrscheine zu unterscheiden. Es sollte geprüft werden, ob die
Quote der Stornierungen durch eine Verlängerung der Gültigkeitsdauer der
Fahrscheine unter Wegfall einer etwaigen Sitzplatzreservierung gesenkt
werden könnte.

9. Ergänzend eine Schlichtungsstelle für den Fernverkehr nach demModell der
Schlichtungsstelle NRW für den Nahverkehr einzurichten, durch die
Verbraucheransprüche unbürokratisch und nach vereinfachten Regelungen
geklärt werden können.

Berlin, den 24. Juni 2003
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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