BT-Drucksache 15/1138

zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Peter Altmaier, Dr. Gerd Müller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU -15/918- Ein Verfassungsvertrag für eine bürgernahe, demokratische und handlungsfähige Europäische Union

Vom 4. Juni 2003


Deutscher Bundestag Drucksache 15/1138
15. Wahlperiode 04. 06. 2003

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union
(20. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Peter Altmaier, Dr. Gerd Müller,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
– Drucksache 15/918 –

Ein Verfassungsvertrag für eine bürgernahe, demokratische und handlungs-
fähige Europäische Union

A. Problem
Der durch Beschluss des Europäischen Rates von Laeken eingesetzte Konvent
zur Zukunft Europas hat am 28. Februar 2002 seine Arbeit aufgenommen. Der
Konvent, bestehend aus 105 Delegierten, davon 72 Abgeordnete der nationalen
Parlamente und des Europäischen Parlaments, soll unter Leitung seines Präsi-
denten Valéry Giscard d’Estaing, seine Arbeit in den nächsten Wochen ab-
schließen, um die Ergebnisse beim Europäischen Rat im Juni 2003 in Thessalo-
niki vorzustellen. Zu den bisherigen Vorschlägen des Präsidiums des Europäi-
schen Konvents, mit dem ein vom Konventpräsidenten vorgelegter Vorentwurf
eines Verfassungsvertrages ausgestaltet wird, liegen bereits zahlreiche Ände-
rungsanträge vor.
Der Antrag geht auf diese bislang vorgestellten Entwürfe für eine europäische
Verfassung ein.

B. Lösung
Ablehnung des Antrags mit den Stimmen der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Fraktion der CDU/
CSU bei Stimmenthaltung der Fraktion der FDP

C. Alternativen
Keine

D. Kosten
Wurden nicht erörtert.

Drucksache 15/1138 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Beschlussempfehlung

Der Bundestag wolle beschließen,
den Antrag – Drucksache 15/918 – abzulehnen.

Berlin, den 4. Juni 2003

Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Matthias Wissmann
Vorsitzender

Michael Roth (Heringen)
Berichterstatter

Peter Altmaier
Berichterstatter

Anna Lührmann
Berichterstatterin

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Berichterstatterin

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/1138

Bericht der Abgeordneten Michael Roth (Heringen), Peter Altmaier, Anna
Lührmann und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

1. Beratungsverfahren
Der Antrag der Fraktion der CDU/CSU – Drucksache 15/
918 – wurde in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestages
am 8. Mai 2003 zur federführenden Beratung an den Aus-
schuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den
Innenausschuss, den Sportausschuss, den Rechtsausschuss,
den Finanzausschuss, den Haushaltsausschuss, den Aus-
schuss für Wirtschaft und Arbeit, den Ausschuss für Ver-
braucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, den Vertei-
digungsausschuss, den Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend, den Ausschuss für Gesundheit und
Soziale Sicherung, den Ausschuss für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit, den Ausschuss für Menschenrechte
und humanitäre Hilfe, den Ausschuss für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung, den Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, den
Ausschuss für Tourismus sowie den Ausschuss für Kultur
und Medien überwiesen.
Der Auswärtige Ausschuss hat in seiner 16. Sitzung am
21. Mai 2003 den Antrag mit den Stimmen der Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen
der Fraktion der CDU/CSU bei Stimmenthaltung der Frak-
tion der FDP abgelehnt.
Der Innenausschuss hat in seiner 13. Sitzung am 21. Mai
2003 den Antrag mit den Stimmen der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Frak-
tion der CDU/CSU bei Stimmenthaltung der Fraktion der
FDP abgelehnt.
Der Sportausschuss hat in seiner 14. Sitzung am 21. Mai
2003 den Antrag mit den Stimmen der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Frak-
tion der CDU/CSU bei Stimmenthaltung der Fraktion der
FDP abgelehnt.
Der Rechtsausschuss hat in seiner 19. Sitzung am 21. Mai
2003 den Antrag mit den Stimmen der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Frak-
tion der CDU/CSU bei Stimmenthaltung der Fraktion der
FDP abgelehnt.
Der Finanzausschuss hat in seiner 18. Sitzung am 21. Mai
2003 den Antrag mit den Stimmen der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Frak-
tion der CDU/CSU bei Abwesenheit der Fraktion der FDP
abgelehnt.
Der Haushaltsausschuss hat in seiner 20. Sitzung am
21. Mai 2003 den Antrag mit den Stimmen der Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen
der Fraktion der CDU/CSU bei Stimmenthaltung der Frak-
tion der FDP abgelehnt.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit hat in seiner
20. Sitzung am 21. Mai 2003 den Antrag mit den Stimmen
der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ge-

gen die Stimmen der Fraktion der CDU/CSU bei Stimm-
enthaltung der Fraktion der FDP abgelehnt.
Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft hat in seiner 14. Sitzung am 21. Mai 2003
den Antrag mit den Stimmen der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Frak-
tion der CDU/CSU bei Stimmenthaltung der Fraktion der
FDP abgelehnt.
Der Verteidigungsausschuss hat in seiner 15. Sitzung am
21. Mai 2003 den Antrag mit den Stimmen der Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen
der Fraktion der CDU/CSU bei Stimmenthaltung der Frak-
tion der FDP abgelehnt.
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend hat in seiner 13. Sitzung am 21. Mai 2003 den Antrag
mit den Stimmen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Fraktion der CDU/
CSU bei Stimmenthaltung der Fraktion der FDP abgelehnt.
Der Ausschuss hat darüber hinaus folgende inhaltliche Stel-
lungnahme einstimmig beschlossen: „Um der Gleichstel-
lungspolitik einen angemessenen Platz in der Verfassung
einzuräumen und nicht hinter den gegenwärtigen Acquis zu-
rückzufallen, sind folgende Maßnahmen nötig:
– Verankerung der Gleichstellung in der Verfassung als

einer der Werte, am besten an „Gleichstellung“ noch
„insbesondere zwischen Männern und Frauen“ anfügen;

– VerankerungderGleichstellungnicht nur alsZiel, sondern
als übergreifendes Ziel, d. h. es bedarf einer Gender-
Mainstreaming-Klausel entsprechendArtikel 3Abs. 2des
EG-Vertrages, die sich auf alle Ziele bezieht und die
Bekämpfung von Diskriminierung und die Verpflichtung
zur Gewährleistung einer effektiven Gleichstellung von
Frauen und Männern in alle Politikbereiche der EU inte-
griert;

– im Politikteil der Verfassung sollten die verschiedenen
bestehenden Artikel zur Gleichstellungspolitik (Artikel
137 Abs. 1, Artikel 141 und Artikel 13 EG-Vertrag) in
einem eigenen Artikel zusammengefasst werden. Dieser
Artikel sollte spezifische und direkt anwendbare Vorga-
ben zur Gleichstellung der Geschlechter, zum Schutz der
Mutter- bzw. Elternschaft und zur Vereinbarkeit von Fa-
milie und Beruf enthalten;

– die Bekämpfung von Gewalt, insbesondere gegen
Frauen und Kinder, sollte als ein Ziel der Union in die
Verfassung aufgenommen werden;

– die EU-Charta der Grundrechte soll in die Verfassung in-
tegriert werden.“

Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung hat
in seiner 21. Sitzung am 21. Mai 2003 den Antrag mit
den Stimmen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN gegen die Stimmen der Fraktion der CDU/CSU
bei Stimmenthaltung der Fraktion der FDP abgelehnt.

Drucksache 15/1138 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
hat in seiner 12. Sitzung am 21. Mai 2003 den Antrag mit
den Stimmen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN gegen die Stimmen der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP abgelehnt.
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit hat in seiner 14. Sitzung am 21. Mai 2003 den An-
trag mit den Stimmen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Fraktion der
CDU/CSU bei Stimmenthaltung der Fraktion der FDP abge-
lehnt.
Der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre
Hilfe hat in seiner 15. Sitzung am 21. Mai 2003 den Antrag
mit den Stimmen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Fraktion der CDU/
CSU bei Stimmenthaltung der Fraktion der FDP abgelehnt.
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung hat in seiner 12. Sitzung am 21. Mai 2003
den Antrag mit den Stimmen der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Frak-
tion der CDU/CSU bei Stimmenthaltung der Fraktion der
FDP abgelehnt.
Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung hat in seiner 15. Sitzung am 21. Mai 2003
den Antrag mit den Stimmen der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie eines Mitglieds der
Fraktion der FDP gegen die Stimmen der Fraktion der
CDU/CSU und eines Mitglieds der Fraktion der FDP abge-
lehnt.
Der Ausschuss für Tourismus hat in seiner 16. Sitzung am
21. Mai 2003 den Antrag mit den Stimmen der Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen
der Fraktion der CDU/CSU bei Abwesenheit der Fraktion
der FDP abgelehnt.
Der Ausschuss für Kultur und Medien hat in seiner
12. Sitzung am 21. Mai 2003 den Antrag mit den Stimmen
der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ge-
gen die Stimmen der Fraktion der CDU/CSU bei Abwesen-
heit der Fraktion der FDP abgelehnt.

2. Gegenstand des Antrags
Der Antrag der Fraktion der CDU/CSU hebt hervor, mit der
Erarbeitung des Entwurfs für einen europäischen Verfas-
sungsvertrag befinde sich der Europäische Konvent in sei-
ner entscheidenden Arbeitsphase. Bis zum Ende der griechi-
schen Präsidentschaft solle ein Text vorgelegt werden, mit
dem die Weichen für eine umfassende und tief greifende
Reform gestellt würden. Durch die Erweiterung auf 25 Mit-
gliedstaaten im Jahr 2004 nehme der Reformdruck weiter
zu. Europa müsse bürgernäher, demokratischer und effizien-
ter werden, um auch künftig seine Aufgaben zum Wohle
seiner Bürger und Mitgliedstaaten zu erfüllen. Auf diese
Herausforderung habe der Konvent mit seiner mehrheitlich
parlamentarischen Beteiligung und der Öffentlichkeit seiner
Arbeit die richtige Antwort. Der vom Konvent vorzu-
legende Entwurf solle alle grundsätzlichen Regelungen um-
fassen und mit der Grundrechtecharta in einen Verfassungs-
vertrag münden, dem eine Präambel, in der die grundlegen-
den Werte der europäischen Demokratien formuliert und die

christliche Tradition Europas hervorgehoben werden soll-
ten, vorangestellt werde. Der Verfassungsvertrag müsse die
Prinzipien der Demokratie, der Achtung der grundlegenden
Freiheits- und Menschenrechte sowie der Gleichberechti-
gung von Frauen und Männern als gemeinsame Werte aller
Mitgliedstaaten verankern.
Der Deutsche Bundestag werde weiterhin die Arbeiten des
Konvents und der anschließenden Regierungskonferenz
zeitnah begleiten und im Rahmen seiner Möglichkeiten Ein-
fluss auf den Verlauf der Beratungen nehmen. Der Öffent-
lichkeit und den Parlamenten der Mitgliedstaaten sowie der
Beitrittsländer müsse umfassend die Möglichkeit zur Mit-
wirkung, zur Diskussion und zur Bewertung der Ergebnisse
von den Regierungen eingeräumt werden.
Die Antragsteller sind der Auffassung, dass mit dem Verfas-
sungsvertrag der Prozess der europäischen Integration eine
neue Qualität erlangt. Auch in Zukunft müsse den National-
staaten die Zuständigkeit für die Verteilung der Aufgaben
zwischen europäischer und nationaler Ebene vorbehalten
bleiben. Die Nationalstaaten brauchten aber auch Europa.
Nation und Europa bedingten sich gegenseitig. Die Europä-
ische Union werde entsprechend eines Begriffs des Bundes-
verfassungsgerichts ein Staatenverbund, dessen Mitglied-
schaft auf dem Prinzip der ständigen Freiwilligkeit beruhe.
In einer Union mit 25 und mehr Mitgliedstaaten sei der Zeit-
punkt gekommen, in dem das Verhältnis von Einheit und
Vielfalt durch eine Verteilung der Aufgaben neu geordnet
werden müsse. Die Europäische Union müsse sich auf euro-
päische Kernaufgaben konzentrieren. Die Fähigkeiten, in
der Europäischen Union zügig zu entscheiden und zu han-
deln, müssten wesentlich verbessert werden. Darüber hinaus
müsse für den Bürger klar erkennbar sein, wer für welche
Entscheidung verantwortlich sei. Die nachvollziehbare und
präzise Abgrenzung von Kompetenzen der Mitgliedstaaten
und der der Europäischen Union sei daher eine zentrale
Aufgabe des Reformprozesses.
Die Antragsteller sind der Ansicht, dass das Subsidiaritäts-
prinzip das maßgebliche Leitprinzip bei der Aufgabenzu-
weisung sein müsse. Der Europäischen Union sollten nur
solche Aufgaben übertragen werden, die auf der Ebene der
Mitgliedstaaten nicht ausreichend erfolgreich erledigt wer-
den könnten. Eine darüber hinausgehende Vergemeinschaf-
tung von Zuständigkeiten bedürfe einer besonderen Begrün-
dung.
Die Mitgliedstaaten müssten auch künftig Herren der Ver-
träge bleiben und die Kompetenz-Kompetenz behalten.
Deshalb liege die Zuständigkeitsvermutung bei den Mit-
gliedstaaten. Eine Zuständigkeit der Europäischen Union
müsse ausdrücklich mittels konkreter und klarer Handlungs-
ermächtigungen begründet werden. Ausschließliche Kom-
petenzen seien deshalb als solche im Vertrag zu kennzeich-
nen. Dort müsse auch festgelegt werden, dass vertragliche
Zielbestimmungen keine Kompetenzen der Europäischen
Union begründeten. Deren Zuständigkeiten müssten er-
kennbar, vorhersehbar und begrenzt sein.
Die Europäische Union müsse im Wesentlichen Zuständig-
keiten haben für die Außen-, Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik, für einen einheitlichen Binnenmarkt mit funk-
tionierendem wirtschaftlichem Wettbewerb nach den
Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft, eine einheitliche

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/1138

Außenvertretung und gemeinsame Währung, eine refor-
mierte Agrarpolitik und – bei grenzüberschreitenden Di-
mensionen – für Rechtspolitik, innere Sicherheit, Verkehr
sowie Umwelt- und Gesundheitsschutz. Ohne eine Rege-
lungskompetenz zu begründen, sollte die Europäische
Union eine Zuständigkeit für grenzüberschreitende Rege-
lungen zur Wahrung der Grundfreiheiten der europäischen
Verträge haben. Bei der Ausübung dieser Kompetenzen
solle der Schutz von Ehe und Familie berücksichtigt wer-
den.
Grundsätzlich müsse alles, was zu den gewachsenen Tradi-
tionen in Zivilisation und Kultur und der so genannten
Zivilgesellschaft gehöre, der Zuständigkeit der Mitglied-
staaten vorbehalten bleiben. EU-Regelungen im Bereich des
Strafrechts seien auf Tatbestände mit gemeinschaftsweiter
Auswirkung zu beschränken. Eine Zuständigkeitserweite-
rung in den Bereichen Sozialpolitik sowie wirtschaftlicher
und sozialer Zusammenhalt lehnen die Antragsteller ab. Sie
fordern, in den Verfassungsvertrag eine Bestimmung aufzu-
nehmen, die die Europäische Union verpflichte, bei der
Ausübung ihrer Kompetenzen die nationale Identität der
Mitgliedstaaten einschließlich ihrer verfassungsmäßigen
und föderalen Strukturen sowie der kommunalen Selbstver-
waltung zu achten.
Das Instrument der intergouvernementalen Zusammenarbeit
werde vorläufig unverzichtbar bleiben, um gemeinsames
Handeln in den Bereichen zu ermöglichen, zu deren voller
Vergemeinschaftung nicht alle Mitgliedstaaten bereit seien.
Neben einer klareren Kompetenzabgrenzung benötige die
Europäische Union eine grundlegende Reform ihrer Institu-
tionen. Die europäischen Entscheidungsprozesse müssten
überschaubar und die politische Verantwortung dafür er-
kennbar werden. Das Verhältnis zwischen den Institutionen
müsse nach den Prinzipien der Gewaltenteilung neu geord-
net werden.
Die Gesetzgebung einschließlich des Budgetrechts – so for-
dern die Antragsteller – müsse künftig dem Europäischen
Parlament als Kammer der Bürger und dem Rat als Kammer
der Mitgliedstaaten gemeinsam zustehen. Im Bereich verge-
meinschafteter Zuständigkeiten solle der Rat seine Ent-
scheidungen grundsätzlich mit doppelter Mehrheit, d. h.
sowohl der Mehrheit der Mitgliedstaaten als auch der
Mehrheit der Bevölkerungen, treffen. Wenn der Rat als Ge-
setzgeber fungiere, solle er öffentlich und in fester Zusam-
mensetzung tagen. Das bisherige Rotationssystem müsse
bei der Leitung der Räte überwunden werden. Im Euro-
päischen Parlament sollte jeder Abgeordnete in etwa die
gleiche Anzahl von Bürgern repräsentieren, wobei eine
Mindestrepräsentanz der kleinen Mitgliedstaaten gewahrt
bleiben müsse. Die politisch verantwortliche Exekutive sei
allein die Kommission. Ihr Präsident benötige eine klare
Organisations-, Koordinations- und Richtlinienkompetenz
und solle künftig vom Europäischen Parlament auf Vor-
schlag des Europäischen Rates gewählt werden. Dabei habe
der Europäische Rat das Ergebnis der Wahlen zum Euro-
päischen Parlament zu berücksichtigen. Die reformierte
Kommission solle zahlenmäßig begrenzt werden, um dauer-
haft handlungsfähig zu bleiben.
Das Scheitern Europas im Zusammenhang mit der Irak-
Krise habe die dringende Notwendigkeit unterstrichen, eine

gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik
zu entwickeln.
Um das Zustandekommen gemeinsamer außenpolitischer
Entscheidungen zu erleichtern, sollten diese künftig mit
Mehrheit getroffen werden. Die Mitgliedstaaten sollten ver-
pflichtet werden, in internationalen Fragen zuerst der Euro-
päischen Union Gelegenheit zur Festlegung eines euro-
päischen Standpunktes zu geben. Dies gelte auch für die ge-
meinsame Positionsfindung der Europäer im Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen.
Um zu einer wahren Stärkung der gemeinsamen Euro-
päischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu
gelangen, müssten zuerst die in Helsinki 1999 vereinbarten
Leitziele im vollen Umfange verwirklicht werden. In den
Europäischen Verfassungsvertrag solle eine Beistandsklau-
sel aufgenommen werden, wonach die Mitgliedstaaten mit
allen der Union zur Verfügung stehenden Mitteln einem
Mitgliedstaat Unterstützung leisten für den Fall, dass er Ziel
eines terroristischen Anschlags werde. Darüber hinaus solle
eine Verpflichtung zum gegenseitigen Beistand aufgenom-
men werden, die derjenigen des WEU-Vertrages entspreche.
Die weitere Entwicklung der ESVP mit gemeinsamer Rüs-
tungsagentur und integrierten militärischen Fähigkeiten
solle als Teil eines Prozesses, an dessen Ende langfristig die
Schaffung einer gemeinsamen europäischen Armee stehen
müsse, allen EU-Mitgliedstaaten offen stehen, die sich an
dieser Politik beteiligen wollten.
Ziel des Antrages ist es, der Deutsche Bundestag solle be-
grüßen, dass sich im Konvent nach dem derzeitigen Stand
der Beratungen Konsens zu verschiedenen Punkten abzeich-
net:
– Der Konvent werde der Regierungskonferenz einen ein-

heitlichen Entwurf für einen Verfassungsvertrag vor-
legen.

– Die Europäische Union werde Rechtspersönlichkeit er-
halten.

– Die Grundrechtecharta werde rechtsverbindlich und
sollte als erstes Kapitel in den Verfassungsvertrag aufge-
nommen werden.

– Die Rechte der Kirchen und Religionsgemeinschaften
würden als rechtlich verbindlich in den Verfassungsver-
trag aufgenommen.

– Die nationalen Parlamente könnten künftig im Rahmen
eines Frühwarnsystems ihre Bedenken gegen eine Ver-
letzung des Subsidiaritätsprinzips bereits zu Beginn des
Gesetzgebungsverfahrens deutlich machen.

– Das System der Kompetenzausübung werde durch ein
eigenes Kapitel im Verfassungsvertrag neu und über-
sichtlicher geordnet.

– Harmonisierungen seien bei den ergänzenden Maßnah-
men der Europäischen Union künftig grundsätzlich aus-
geschlossen.

– Die Zahl der Europäischen Rechtsakte werde reduziert
und vereinfacht.

– Entscheidungen des Rates, der in Gesetzgebungsangele-
genheiten öffentlich tage, würden künftig grundsätzlich
mit doppelter Mehrheit gefasst.

Drucksache 15/1138 – 6 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

– Es werde einen Europäischen Außenminister geben, der
die Funktionen des für Außenpolitik zuständigen EU-
Kommissars und des Hohen Vertreters in einer Person
vereinige.

– Die Europäische Kommission werde künftig vom Euro-
päischen Parlament gewählt und die Zahl ihrer Mitglie-
der reduziert.

Für die abschließende Arbeit des Konvents halten es die
Antragsteller für wichtig, dass als zentrale Forderungen be-
rücksichtigt werden:
– Es bedürfe der Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten,

wenn Kompetenzgrundlagen begründet oder geändert
werden.

– Es sei unverzichtbar die Teile I und II des Verfassungs-
vertrages gemeinsam zu verabschieden.

– Die EU-Kompetenzen müssten besser abgegrenzt wer-
den, um unkontrollierte Zentralisierung zu verhindern
und die Eigenverantwortung von Bürgern, Regionen und
Mitgliedstaaten zu sichern. Die Kompetenzen der EU
könnten nur aus konkreten Einzelermächtigungen er-
wachsen. Es müsse in Teil I, Artikel 10 Abs. 6 des Ver-
fassungsvertrages sichergestellt werden, dass die Reich-
weite von EU-Zuständigkeiten allein in Teil II des
Verfassungsvertrages bestimmt werde.

– Die Koordinierung der Wirtschaftspolitik müsse bei den
Mitgliedstaaten verbleiben.

– Die Finanzierung der Europäischen Union müsse weiter-
hin auf Beiträgen der Mitgliedstaaten beruhen, eine
EU-Steuer sei abzulehnen. Beim Eigenmittelbeschluss
müsse die Einstimmigkeit beibehalten werden.

– Maßnahmen für unvorhergesehene Notfälle außerhalb
einer Rechtsharmonisierung sei durch eine Flexibilitäts-
klausel zu ermöglichen. Hierauf gestützte Rechtsakte
müssten einstimmig verabschiedet und zeitlich befristet
werden.

– Eine Verbesserung der verfahrensrechtlichen Absiche-
rung des Subsidiaritätsgrundsatzes sei erforderlich. Den
Regionen sei daher ein eigenständiges Klagerecht zum
Schutze ihrer Gesetzgebungsbefugnisse einzuräumen.
Beide Kammern der nationalen Parlamente müssten in
das Frühwarnsystem zur Subsidiaritätskontrolle einbezo-
gen werden und unabhängig vom Mitgliedstaat ein un-
mittelbares Klagerecht zur Rüge von Subsidiaritätsver-
stößen vor dem Europäischen Gerichtshof erhalten.

– Die Präambel des Verfassungsvertrages solle einen Got-
tesbezug enthalten, in dem zumindest deutlich auf die
religiösen Werte hingewiesen werde, die eine der Grund-
lagen der Union bildeten.

– Wenn die Methode der offenen Koordinierung, die aller-
dings die Bemühungen um eine verbesserte Kompetenz-
abgrenzung erschwere, in den Verfassungsvertrag auf-
genommen werde, müssten sie außerhalb von EU-
Kompetenzen auf Informations- und Erfahrungsaus-
tausch beschränkt sein.

– Im Bereich der Einwanderung sei klarzustellen, dass die
Mitgliedstaaten weiterhin berechtigt blieben, über das
Maß der Einwanderung und den Zugang von Drittstaats-

angehörigen zu ihrem nationalen Arbeitsmarkt zu ent-
scheiden.

Die Antragsteller sind der Ansicht, dass die Übertragung
von weiteren Rechtsetzungskompetenzen auf die Euro-
päische Union und deren Ausübung durch die Organe der
Europäischen Union effizientere Mitwirkungs- und Kon-
trollrechte der nationalen Parlamente erfordere. Im Zuge
des Ratifizierungsverfahrens des Europäischen Verfas-
sungsvertrages müsse daher das Beteiligungsverfahren von
Bundestag und Bundesrat nach Artikel 23 GG neu geregelt
werden. Dabei sei sicherzustellen, dass der Deutsche Bun-
destag bei zentralen europäischen Entscheidungen und Ge-
setzgebungsvorhaben besser als bisher in die Erarbeitung
der deutschen Verhandlungsposition eingebunden werde.

3. Beratungsverfahren – federführender
Ausschuss

Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union hat frühzeitig darauf hingewirkt, dass unter maßgeb-
licher Beteiligung der nationalen Parlamente der EU-Mit-
gliedstaaten und des Europäischen Parlaments mit der Ein-
setzung des Europäischen Konvents zur Zukunft Europas
eine breite Debatte über die zukünftige Architektur und die
Aufgaben der Europäischen Union angestoßen worden sind.
Er hat nicht nur den Prozess bis zum Beschluss der Staats-
und Regierungschefs beim Europäischen Rat im belgischen
Laeken am 14. und 15. Dezember 2001 begleitet, sondern
insbesondere den Europäischen Verfassungskonvent, seit er
am 28. Februar 2002 unter seinem Präsidenten, Valéry
Giscard d’Estaing, erstmals zusammengetreten ist. Gegen-
stand der Erörterungen im Ausschuss waren sowohl der
nach den Beratungen in den Arbeitskreisen des Europäi-
schen Konvents vorgelegte Vorentwurf eines Verfassungs-
vertrages durch den Konventpräsidenten als auch die seit
Februar 2003 bei den jeweiligen Plenartagungen des Euro-
päischen Verfassungskonvents vorgelegten Vorschläge und
die dazu von den Delegierten erarbeiteten Änderungsan-
träge. In jeder Sitzung des Ausschusses für die Angelegen-
heiten der Europäischen Union befassen sich die Mitglieder
mit den Beratungsgegenständen der jeweiligen Sitzungen
des Europäischen Verfassungskonvents. Sie lassen sich
dazu regelmäßig durch die Delegierten des Deutschen
Bundestages, Professor Dr. Jürgen Meyer, und seinen
Stellvertreter, Abg. Peter Altmaier, sowie durch das stell-
vertretende Mitglied der Bundesregierung, Staatsminister
im Auswärtigen Amt Hans Martin Bury, unterrichten. In der
18. Sitzung des Ausschusses am 7. Mai 2003 lagen der An-
trag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
„Der Europäischen Verfassung Gestalt geben – Demokratie
stärken, Handlungsfähigkeit erhöhen, Verfahren verein-
fachen“ (Bundestagsdrucksache 15/548) und der Antrag der
Fraktion der FDP „Das neue Gesicht Europas – Kern-
elemente einer europäischen Verfassung“ (Bundestags-
drucksache 15/577) den Beratungen zu Grunde. Mit Be-
schlussempfehlung und Bericht vom 7. Mai 2003 (Bundes-
tagsdrucksache 15/950) wurde der Antrag der Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angenommen und
der Antrag der Fraktion der FDP abgelehnt.
Der Ausschuss hat sich in zahlreichen Begegnungen, auch
mit Parlamentariern anderer EU-Mitgliedstaaten und aus
den Beitrittsländern, bei öffentlichen Anhörungen – jüngst

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7 – Drucksache 15/1138

am 21. Mai 2003 – und im Rahmen einer Delegationsreise
im Vorfeld der am 1. Juli 2003 beginnenden italienischen
Ratspräsidentschaft nach Rom in der Zeit vom 12. bis
14. Mai 2003 über den Fortgang der Vorbereitungen einer
europäischen Verfassung informiert und ausgetauscht, um
das Ziel, nach einer kurzen Regierungskonferenz das Ratifi-
zierungsverfahren einzuleiten, erreichen zu können.
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union hat den Antrag der Fraktion der CDU/CSU –
Drucksache 15/918 – in seiner 20. Sitzung am 21. Mai 2003
mit den Stimmen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Fraktion der CDU/
CSU bei Stimmenthaltung der Fraktion der FDP abgelehnt.

Berlin, den 4. Juni 2003
Michael Roth (Heringen)
Berichterstatter

Peter Altmaier
Berichterstatter

Anna Lührmann
Berichterstatterin

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Berichterstatterin

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