BT-Drucksache 15/1014

Klarheit über Rentenfinanzen und Alterssicherung schaffen - Notwendige Reformmaßnahmen nicht auf die lange Bank schieben

Vom 20. Mai 2003


Deutscher Bundestag Drucksache 15/1014
15. Wahlperiode 20. 05. 2003

Antrag
der Abgeordneten Andreas Storm, Annette Widmann-Mauz, Dr. Wolf Bauer,
Monika Brüning, Verena Butalikakis, Dr. Hans Georg Faust, Ingrid Fischbach,
Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, Holger Haibach, Michael Hennrich,
Hubert Hüppe, Volker Kauder, Julia Klöckner, Michael Kretschmer, Dr. Günter
Krings, Barbara Lanzinger, Stephan Mayer (Altötting), Laurenz Meyer (Hamm),
Maria Michalk, Hildegard Müller, Albert Rupprecht (Weiden), Matthias Sehling,
Thomas Silberhorn, Jens Spahn, Matthäus Strebl, MarcoWanderwitz, GeraldWeiß
(Groß-Gerau), Wolfgang Zöller und der Fraktion der CDU/CSU

Klarheit über Rentenfinanzen und Alterssicherung schaffen – Notwendige
Reformmaßnahmen nicht auf die lange Bank schieben

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1. Mit ihrer im Sommer 2001 verabschiedeten Rentenreform wollte die rot-
grüne Bundesregierung den Rentenbeitrag mittelfristig stabilisieren und den
Anstieg des Beitrages im Jahr 2030 auf 22 % begrenzen. Zugleich wollte sie
ein angemessenes Netto-Rentenniveau sicherstellen. Bereits rd. zwei Jahre
nach Verabschiedung der Reform ist klar, dass die Reformziele weit verfehlt
werden und die Rentenreform gescheitert ist. Die Bundesregierung steht vor
einem rentenpolitischen Scherbenhaufen.
Derzeit liegt der Rentenbeitrag bei 19,5 % und damit um 0,8 Beitragssatz-
punkte oberhalb der Zielgröße nach der Rentenreform. Nicht zuletzt nach der
erneuten Absenkung der Wachstumsprognose für das laufende Jahr und der
dramatischen Entwicklung am Arbeitsmarkt zeichnet sich bereits jetzt ab, dass
der Beitrag kurzfristig weiter ansteigen wird. So geht die jüngste Prognose des
Schätzerkreises, an dem neben den Rentenversicherern auch das Bundesminis-
terium für Gesundheit und Soziale Sicherung beteiligt ist, im nächsten Jahr von
einem Anstieg des Rentenbeitrages auf 19,8 % aus. Bei einem noch schwäche-
ren Konjunkturverlauf hat die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte im
Vorfeld der Sitzung des Schätzerkreises ausdrücklich einen Rentenbeitrag von
20 % nicht ausgeschlossen. Zudem besteht wegen der deutlichen Absenkung
der Schwankungsreserve die Gefahr, dass die Rentenversicherung im Laufe des
Jahres 2003 in Zahlungsschwierigkeiten kommt und die Renten nur weiter ge-
zahlt werden können, wenn der Bund der Rentenversicherung eine Liquiditäts-
hilfe leistet. Das Darlehen des Bundes muss dann im Folgejahr 2004 wieder zu-
rückgezahlt werden. Deshalb spricht vieles dafür, dass die Prognose der Bun-
desversicherungsanstalt für Angestellte nur eine Untergrenze sein wird und im
nächsten Jahr mit einem Anstieg des Rentenbeitrages sogar auf über 20 % zu
rechnen ist. Nach aktuellen Berechnungen des Verbandes Deutscher Rentenver-
sicherungsträger wird der Rentenbeitrag im Jahr 2030 bei 24,6 % liegen.

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Ursache für die derzeitige Finanzsituation der gesetzlichen Rentenversicherung
ist die falsche Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung.
Infolge des Anstiegs der Arbeitslosigkeit nehmen die Beschäftigtenzahl und
damit die Beitragseingänge der Rentenversicherung deutlich ab. In seiner
Regierungserklärung am 14.März 2003 ist Bundeskanzler Gerhard Schröder auf
die Finanzsituation der Rentenversicherung nur unzureichend eingegangen. Das
Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung hält unbeirrt an ihrer
Prognose fest, wonach trotz der dramatischen Arbeitsmarktentwicklung der
Rentenbeitrag für 2004 bei 19,5 % stabil gehalten werden kann, und verharmlost
damit erneut wider besseres Wissen die dramatische Finanzlage der Rentenver-
sicherung. Bereits im letzten Jahr hat die Bundesregierung das ganze Jahr über
von einem stabilen Rentenbeitrag gesprochen, um am Jahresende die Anhebung
des Rentenbeitrages für unausweichlich zu erklären. In der Sitzung des 1. Unter-
suchungsausschusses der 15. Wahlperiode ist vorletzte Woche deutlich gewor-
den, dass bereits im Sommer 2002 Berechnungen vorlagen, wonach der Renten-
beitrag für 2003 weitaus stärker ansteigen muss als damals von der Bundes-
regierung propagiert. Mit ihren beschönigenden Aussagen zur Entwicklung des
Beitragssatzes für 2004 droht sich dies in diesem Jahr zu wiederholen.
2. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung immerhin eingestan-
den, dass sich die Annahmen, die der Rentenreform zugrunde liegen, als unzu-
treffend erwiesen haben. Die Annahmen zur Beschäftigungsentwicklung seien
zu optimistisch und die zur Entwicklung der durchschnittlichen Lebenserwar-
tung zu pessimistisch ausgefallen. Er sprach deshalb von einem Nachjustieren
der Rentenreform und kündigte eine Neufassung bzw. Anpassung der Renten-
formel an. Diese Begründung für eine neue Rentenreform kommt einem Offen-
barungseid gleich.
Richtig ist allerdings, dass eine Neufassung der Rentenformel unabdingbar ist.
Dabei geht es zunächst um den sog. Altersvorsorgeanteil. Der nach der gelten-
den Rentenformel vorgesehene Abzug des Altersvorsorgeanteils im Rahmen
der Rentenanpassung erfolgt unabhängig vom Umfang der tatsächlich gezahl-
ten Beiträge der Beschäftigten für die zusätzliche Altersvorsorge. Angesichts
der auch aus Sicht des Kommissionsvorsitzenden, Professor Dr. Bert Rürup,
bisher enttäuschenden Abschlusszahlen von „Riester-Verträgen“ ist die Kür-
zung der Rentenanpassung um den vorgesehenen Altersvorsorgeanteil rechtlich
äußerst problematisch.
Um die Ausgabendynamik in der gesetzlichen Rentenversicherung wirksam zu
begrenzen, muss die geltende Rentenformel durch Einfügung eines demogra-
phischen Faktors ergänzt werden. Einen demographischen Faktor in der Ren-
tenformel hat die Union bereits mit dem Rentenreformgesetz 1999 eingeführt.
Dieses Gesetz hat die rot-grüne Bundesregierung nach dem Regierungswechsel
1998 aber ausgesetzt. Jetzt zeigt sich, dass dies ein schwerer Fehler war. Denn
durch die systematische Ergänzung der Rentenformel mit einem demographi-
schen Faktor könnten die zunehmenden Finanzierungslasten der Alterssiche-
rung gleichmäßig und gerecht auf alle Generationen verteilt werden. Objektiver
Maßstab dafür ist die Entwicklung der Lebenserwartung, von der es ganz we-
sentlich abhängt, wie lange die Menschen Rente beziehen und welche Kosten
sich daraus ergeben. Mit einem demographischen Faktor wären willkürliche
Manipulationen der Rentenanpassung, wie sie die Rentner im Jahre 2000 beim
angeblichen „Inflationsausgleich“ erleben mussten, ausgeschlossen.
Schließlich brauchen wir einen Paradigmenwechsel in der Debatte zur Erhö-
hung des Renteneintrittsalters. Um das tatsächliche Renteneintrittsalter an die
derzeitige Regelaltersgrenze von 65 Jahren anzunähern, müssen zunächst alle
Anreize zur Frühverrentung konsequent beseitigt werden. Darüber hinaus sollte
der Renteneintritt künftig stärker an die tatsächliche Lebensarbeitszeit der Ver-
sicherten gekoppelt werden, in dem die Rentenabschläge bei vorzeitigem Ren-

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teneintritt auch von der Beschäftigungsdauer abhängig gemacht werden. Dabei
wird es vor allem Ausnahmen für langjährig beschäftige Personen geben, die
45 Beitragsjahre (einschließlich Kindererziehungszeiten) zurückgelegt haben.
3. Am 17. März 2003 hat die Sachverständigenkommission zur „Neuordnung der
steuerrechtlichen Behandlung vonAltersvorsorgeaufwendungen undAltersbezü-
gen“ ihren Abschlussbericht vorgelegt. Die Kommission ist eingerichtet worden,
nachdem das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 6. März 2002 festgestellt
hatte, dass die unterschiedliche steuerrechtliche Behandlung von Pensionen und
Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung gegen den Gleichheitsgrundsatz
des Artikels 3 Abs. 1 Grundgesetz verstößt und daher verfassungswidrig ist.
Gleichzeitig wurde der Gesetzgeber verpflichtet, bis spätestens zum 1. Januar
2005 eine verfassungskonforme neue Regelung in Kraft zu setzen.
Die Sachverständigenkommission hat in ihrem Abschlussbericht vorgeschla-
gen, bei der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen
und Altersbezügen schrittweise zur nachgelagerten Besteuerung überzugehen.
Eine nachgelagerte Besteuerung der Renten hat zwangsläufig Auswirkungen
auf das Rentenniveau. So sind bei einer nachgelagerten Besteuerung die in der
aktiven Erwerbsphase eines Arbeitnehmers geleisteten Vorsorgeaufwendungen
abzugsfähig und erst die im Alter bezogenen Versorgungsleistungen zu besteu-
ern. Durch die Abzugsfähigkeit der Vorsorgeaufwendungen steigt das Nettoein-
kommen der Aktiven. Weil sich steuerliche Änderungen nicht mehr auf die
Höhe der Rentenanpassung auswirken, führt dies dazu, dass das Renteniveau
bereits rein rechnerisch sinkt. Wenn die Renten in Zukunft dann noch besteuert
werden, verringert sich das verfügbare Einkommen der Rentner. Dies führt zu
einem weiteren Absinken des Rentenniveaus. Wegen der Wechselwirkungen
zwischen Rentenbesteuerung und Rentenniveau ist es erforderlich, dass die
Neuregelung der Rentenbesteuerung mit der vom Bundeskanzler angekündig-
ten Neufassung der Rentenformel verzahnt wird.
4. Neben der desaströsen finanziellen Perspektive der gesetzlichenRente hat sich
die als zweites Standbein gedachte „Riester-Rente“ als Fehlkonstruktion erwie-
sen. Die Abschlusszahlen des Jahres 2002 sind weit hinter den Erwartungen
geblieben. Von den über 40Millionen potentiell förderberechtigten Personen hat
mit rd. 5,4MillionenBerechtigten nicht einmal jeder Sechste einen „Riester-Ver-
trag“ abgeschlossen. Verantwortlich hierfür ist die rot-grüne Regulierungswut.
Die Förderung der privaten Altersvorsorge ist praxisfremd und überbürokrati-
siert. Die betriebliche Altersvorsorge wurde zudem durch die Ende 2002 be-
schlossene Anhebung der Beitragbemessungsgrenze zusätzlich geschwächt.
Hinzu kommt die fatale Signalwirkung, die von einemangeblichenRentenniveau
von langfristig mindestens 67 % auf die Bereitschaft zur ergänzenden Vorsorge
ausgeht. Den Bürgern wird dadurch eine staatlich garantierte Sicherheit ihrer
Alterssicherung vorgegaukelt, die nicht existiert und die über die Notwendigkeit
einer zusätzlichen privaten und betrieblichen Vorsorge hinwegtäuscht.
Um den Menschen bei einer unvermeidlichen Absenkung des Leistungsniveaus
der gesetzlichen Rentenversicherung die Sicherung ihres Lebensstandards im
Alter zu ermöglichen, ist der flächendeckende Ausbau ergänzender kapital-
gedeckter Vorsorgeformen unabdingbar und muss durch staatliche Fördermaß-
nahmen tatkräftig unterstützt werden. Damit der Einstieg in eine funktionie-
rende ergänzende kapitalgedeckte Altersvorsorge mit einer wesentlich breiteren
Palette attraktiver Altersvorsorgeprodukte rasch und flächendeckend gelingt,
muss die staatliche Förderung umgehend und grundlegend neu gestaltet wer-
den. Dazu bedarf es zunächst einer deutlichen Entschlackung der Förderkrite-
rien. Unverzichtbare Qualitätskriterien für förderfähige Vorsorgeprodukte sind
eine Garantie der eingezahlten Beiträge sowie die Möglichkeit eines bedingten
Kapitalwahlrechts bei der Verwendung der eingesparten Beiträge und der staat-
lichen Förderung frühestens ab dem 60. Lebensjahr.

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Auch das Wohneigentum als die am weitesten verbreitete und stabilste Form
der Altersvorsorge muss wirksam gefördert werden. Darüber hinaus ist die
gesicherte Mitarbeiterbeteiligung – das heißt die Kapitalbeteiligung am arbeit-
gebenden Unternehmen, die durch einen den Nominalwert der Beteiligung ab-
sichernden Versicherungsvertrag ergänzt wird – in die Förderung einzubezie-
hen. Bei der vorgesehenen Neuregelung der Rentenbesteuerung muss darauf
geachtet werden, dass keine falschen Signale für die künftige Alterssicherung
gesetzt werden (z. B. durch Streichung des im Zusammenhang mit der Förde-
rung des Wohneigentums erst mit der Rentenreform 2001 eingeführten Alters-
vorsorge-Eigenheimbetrages).
Die staatliche Förderung muss vor allem auf Familien mit Kindern und Bezie-
her niedriger Einkommen konzentriert werden, damit vor allem diejenigen un-
terstützt werden, die aus eigener Kraft keine Eigenvorsorge betreiben können.
Nur auf diese Weise kann die ergänzende private Altersvorsorge zu einer
echten Förderrente für die ganze Bevölkerung umgeformt werden, mit der die
absehbaren Versorgungslücken der umlagefinanzierten Alterssicherungssys-
teme geschlossen werden können.
5. Am 24. April 2003 hat die Arbeitsgruppe Rentenversicherung der Rürup-
Kommission die Vorstellung ihrer Vorschläge für eine neue Rentenreform vor-
gezogen. Vor diesem Hintergrund ist unverständlich, aus welchem Grund die
Bundesregierung die notwendigen Reformmaßnahmen auf die lange Bank
schieben will – zumal nach der ausdrücklichen Empfehlung des Kommissions-
vorsitzenden, Professor Dr. Bert Rürup, die Rentenformel schon von 2005 an
zu ändern. Die Bundesregierung ist gefordert, noch in diesem Jahr ein Konzept
für eine neue Rentenformel zusammen mit dem für diesen Zeitpunkt bereits
angekündigten Gesetzentwurf zur Rentenbesteuerung vorzulegen. Auch die
Arbeitsgruppe Rentenversicherung der Rürup-Kommission hat in ihren Vor-
schlägen die Überlegungen der Sachverständigenkommission zur Renten-
besteuerung bereits einbezogen. Nachdem sich die Arbeitsgruppe nach eigener
Aussage auch mit der Fortentwicklung der „Riester-Rente“ befasst, sollte das
Konzept zudem mit einer Neukonzeption der staatlich geförderten privaten und
betrieblichen kapitalgedeckten Altersvorsorge verknüpft werden. Nur durch
eine konzeptionell schlüssige Verzahnung der Reform der gesetzlichen Renten-
versicherung mit der Nachfolgeregelung für die „Riester-Rente“ und der Neu-
regelung der Rentenbesteuerung kann das verloren gegangene Vertrauen in die
Handlungsfähigkeit der Alterssicherungspolitik zurückgewonnen werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. unter Zugrundelegung realistischer Annahmen umgehend Auskunft über die

kurz-, mittel- und langfristige Entwicklung der Rentenfinanzen, insbeson-
dere des Beitragssatzes, zu geben und

2. noch in diesem Jahr ein Konzept vorzulegen, bei der die vorgesehene Neure-
gelung der Rentenbesteuerung sowie die zu erwartenden demographischen
Veränderungen mit der angekündigten Neufassung der Rentenformel und
mit einer Neukonzeption der staatlich geförderten privaten und betrieblichen
kapitalgedeckten Altersvorsorge verknüpft werden.

Berlin, den 20. Mai 2003
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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