BT-Drucksache 14/9974

Pflicht der Bundesregierung zur Beobachtung der Schutzwirkung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (SchKG)

Vom 13. September 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/9974
14. Wahlperiode 13. 09. 2002

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Monika Brudlewsky, Martin Hohmann, Ilse Aigner,
Dr. Wolf Bauer, Dr. Norbert Blüm, Jochen Borchert, Klaus Brähmig,
Georg Brunnhuber, Manfred Carstens (Emstek), Hubert Deittert, Axel E. Fischer
(Karlsruhe-Land), Norbert Geis, Georg Girisch, Dr. Wolfgang Götzer,
Kurt-Dieter Grill, Manfred Heise, Josef Hollerith, Siegfried Hornung, Hubert Hüppe,
Dr. Egon Jüttner, Volker Kauder, Hartmut Koschyk, Karl-Josef Laumann,
Werner Lensing, Eduard Lintner, Dr. Michael Luther, Dr. Michael Meister,
Anton Pfeifer, Helmut Rauber, Christa Reichard (Dresden), Erika Reinhardt,
Kurt J. Rossmanith, Anita Schäfer, Heinz Schemken, Heinz Seiffert,
Carl-Dieter Spranger, Peter Weiß (Emmendingen), Heinz Wiese (Ehingen),
Klaus-Peter Willsch, Elke Wülfing und Wolfgang Zöller

Pflicht der Bundesregierung zur Beobachtung der Schutzwirkung
des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (SchKG)

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 28. Juni 1993
die Schutzpflicht für das Leben herausgestellt. „Sie obliegt aller staatlichen
Gewalt.“ (BVerfGE 88, 203, 252). Der Gesetzgeber hat seine Schutzpflicht ge-
genüber dem ungeborenen Leben nicht bereits abschließend durch den Erlass
eines Gesetzes zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs erfüllt: „Er muss
sich in angemessenen zeitlichen Abständen in geeigneter Weise – etwa durch
periodisch zu erstattende Berichte der Regierung – vergewissern, ob das Gesetz
die erwartete Schutzwirkung tatsächlich entfaltet oder ob sich Mängel des Kon-
zeptes oder seiner praktischen Durchführung offenbaren, die eine Verletzung
des Untermaßverbotes begründen (vgl. BVerfGE 56, 54 [82 ff.]).“ (BVerfGE
88, 203, 310). Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, dass der Gesetz-
geber aufgrund seiner Schutzpflicht weiterhin dafür verantwortlich bleibt, dass
das Gesetz auch tatsächlich einen angemessenen und als solchen wirksamen
Schutz vor Schwangerschaftsabbrüchen bewirkt. „Stellt sich nach hinreichen-
der Beobachtungszeit heraus“, so das Bundesverfassungsgericht, „dass das Ge-
setz das von der Verfassung geforderte Maß an Schutz nicht zu gewährleisten
vermag, so ist der Gesetzgeber verpflichtet, durch Änderung oder Ergänzung
der bestehenden Vorschriften auf die Beseitigung der Mängel und die Sicher-
stellung eines dem Untermaßverbot genügenden Schutzes hinzuwirken (Kor-
rektur oder Nachbesserungspflicht)“ (BVerfGE 88, 203, 309).
Anders als bei den meisten Gesetzen nimmt das Bundesverfassungsgericht
beim Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) aufgrund des hohen Ranges
des Schutzgutes und der Art der Gefährdung also eine dauernde Beobachtungs-
pflicht des Gesetzgebers an, um die Schutzwirkungen des Gesetzes zu sichern.
Es folgert aus dieser Beobachtungspflicht, „dass die für die Beurteilung der
Wirkungen des Gesetzes notwendigen Daten planmäßig erhoben, gesammelt

Drucksache 14/9974 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

und ausgewertet werden. Verlässliche Statistiken mit hinreichender Aussage-
kraft, wie über die absolute Zahl der Schwangerschaftsabbrüche, über die
relativen Quoten, die sich aus dem Verhältnis der Abbruchzahl zur Gesamt-
bevölkerung, zur Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter, zur Zahl der Schwan-
gerschaften oder der Lebend- und Totgeburten insgesamt errechnen, …, sind
dazu unerlässlich“ (BVerfGE 88, 203, 310 f.).
Das Bundesverfassungsgericht regt periodisch zu erstattende Berichte der
Bundesregierung über die Schutzwirkung des jeweiligen Schutzkonzeptes an.
Der Gesetzgeber hat dementsprechend in Artikel 1 Abschnitt 4 Schwangeren-
und Familienhilfeänderungsgesetz vom 21. August 1995 in den §§ 15 bis 18
SchKG Regelungen für die Erhebung von Daten im Zusammenhang mit
Schwangerschaftsabbrüchen geschaffen. Gemäß § 16 SchKG sind folgende
Erhebungsmerkmale vierteljährlich vom Statistischen Bundesamt zu erfassen:
1. Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen im Berichtszeitraum (auch Fehl-

anzeige),
2. rechtliche Voraussetzungen des Schwangerschaftsabbruchs (Beratungsrege-

lung oder Indikationsstellung),
3. Familienstand und Alter der Schwangeren sowie die Zahl ihrer Kinder,
4. Dauer der abgebrochenen Schwangerschaft,
5. Art des Eingriffs und beobachtete Komplikationen,
6. Bundesland, in dem der Schwangerschaftsabbruch vorgenommen wird und

Bundesland oder Staat im Ausland, in dem die Schwangere wohnt,
7. Vornahme in Arztpraxis oder Krankenhaus oder im Falle der Vornahme des

Eingriffs im Krankenhaus die Dauer des Krankenhausaufenthaltes.
Darüber hinaus sind die Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen verpflichtet,
die ihrer Beratungstätigkeit zugrunde liegenden Maßstäbe und die dabei gesam-
melten Erfahrungen jährlich in einem schriftlichen Bericht niederzulegen. Als
Grundlage für den schriftlichen Bericht hat die beratende Person über jedes
Beratungsgespräch eine Aufzeichnung zu fertigen (unter Wahrung der Anony-
mität der schwangeren Frau und der zum Beratungsgespräch hinzugezogenen
weiteren Person), welche den wesentlichen Inhalt der Beratung und der ange-
botenen Hilfsmaßnahmen festhält. Die zuständige Landesbehörde hat mindes-
tens im Abstand von drei Jahren zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für die
Anerkennung nach § 9 SchKG vorliegen. Sie kann sich zu diesem Zweck die
Berichte der Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen vorlegen lassen und
Einsicht in die angefertigten Aufzeichnungen nehmen (vgl. § 10 SchKG).
Während der Gesetzgeber also den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes,
umfassend die Daten von Schwangerschaftsabbrüchen zu erheben, nachgekom-
men ist, hat die Bundesregierung die Anregung des Bundesverfassungsgerich-
tes bislang offenbar nicht aufgegriffen, die erhobenen Daten auszuwerten und
anhand der Ergebnisse die Schutzwirkung des Beratungsmodells für das un-
geborene Leben zu überprüfen.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Aus welchen Gründen hat die Bundesregierung bislang die Anregung des

Bundesverfassungsgerichtes nicht aufgegriffen, anhand der erfassten Daten
periodisch über die Schutzwirkung des derzeitigen Schwangerschaftskon-
fliktgesetzes zu berichten?

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/9974

2. a) Wie haben sich die vom Bundesverfassungsgericht als „relative Quoten“
(BVerfGE 203, 310) bezeichneten Verhältnisse
– Abbruchzahl/Frauen im gebärfähigen Alter
– Abbruchzahl/Gesamtbevölkerung
in den Jahren 1997 bis 2000 entwickelt?

b) Wie bewertet die Bundesregierung die Entwicklung der vom Bundes-
verfassungsgericht als „relative Quoten“ bezeichneten Verhältnisse
– Abbruchzahl/Frauen im gebärfähigen Alter
– Abbruchzahl/Gesamtbevölkerung
der Jahre 1997 bis 2000?

c) Wie bewertet die Bundesregierung vor dem Hintergrund, dass die Zahl
der Schwangerschaftsabbrüche seit 1997 leicht zugenommen und die
Zahl der Geburten seit 1997 immer stärker abgenommen hat, die kontinu-
ierliche Erhöhung der Anzahl von Schwangerschaftsabbrüchen im Ver-
hältnis zu Geburten?

3. a) Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, die schriftlichen Erfah-
rungsberichte, die die Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen gemäß
§ 10 Abs. 1 SchKG jährlich niederzulegen verpflichtet sind, auszuwerten
und periodisch dem Gesetzgeber vorzustellen, um so über die statisti-
schen Erhebungen hinaus die Hintergründe und Motive von Schwanger-
schaftsabbrüchen zu ergründen und den Schutz des ungeborenen Lebens
zu verbessern?

b) Wenn nein, welche anderen Initiativen ergreift die Bundesregierung, um
den Gesetzgeber zu unterstützen, die ihm vom Bundesverfassungsgericht
zugewiesenen Kontroll- und Nachbesserungspflichten nachzukommen?

4. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über den Zusammenhang von
Schwangerschaftsabbrüchen und der finanziellen Belastung von Familien
mit Kindern durch
– Bezug von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe,
– mangelnde steuerliche Entlastung,
– Verluste von Rentenansprüchen durch die Aufgabe von Erwerbsarbeit,
– höhere Wohnraumkosten,
– steigende Lebenshaltungskosten?

5. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Rolle der Kindesvä-
ter und ihren Einfluss auf die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch
ausgelöst durch
– Beziehungs- und Partnerschaftsprobleme,
– mangelndes Verantwortungsbewusstsein,
– Bindungslosigkeit,
– mangelndes Verhütungsverhalten?

6. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, wie häufig die
Unvereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie für den Schwangerschafts-
abbruch ausschlaggebend ist, insbesondere durch
– mangelnde Kinderbetreuungsmöglichkeiten, vor allem für Kinder von

0 bis 3 Jahren und Schulkinder,

Drucksache 14/9974 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
– mangelnde familienbegleitende Dienste/Hilfen, besonders für junge
Familien, Alleinerziehende und Mehr-Kinder-Familien,

– die Problematik des beruflichen Einstiegs bzw. Wiedereinstiegs nach der
Kinder- und Familienphase auch in anspruchsvolleren Berufen und Lei-
tungspositionen,

– schwierige Arbeitsbedingungen für Eltern aufgrund fehlender Teilzeit-
stellen, aufgrund fehlender Teilzeitausbildungsstellen und aufgrund eines
zu geringen Angebotes von Arbeitsplätzen mit flexibler Arbeitszeitge-
staltung?

7. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über strukturelle Besonder-
heiten im Lebensumfeld der Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen,
wie z. B. Betriebsschließungen, regionale hohe Arbeitslosenquoten, struk-
turschwache Gebiete und deren Auswirkung auf die Entscheidung zum
Schwangerschaftsabbruch?

8. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Zusammenhänge
von gesellschaftlichen Bewusstseinsprozessen und der Bereitschaft, sich für
ein Leben mit Kindern zu entscheiden, unter besonderer Berücksichtigung
– allgemeiner, wirtschaftlicher und sozialer Benachteiligung von Familien,
– der ungleichen Rollen- und Lastenverteilung zwischen Frauen und

Männern,
– erschwerter gesellschaftlicher Bedingungen für Menschen mit Behinde-

rung,
– ungenügender bewusstseinsbildender Arbeit in Schulen, Bildungseinrich-

tungen und Medien?

Berlin, den 13. September 2002
Monika Brudlewsky
Martin Hohmann
Ilse Aigner
Dr. Wolf Bauer
Dr. Norbert Blüm
Jochen Borchert
Klaus Brähmig
Georg Brunnhuber
Manfred Carstens (Emstek)
Hubert Deittert
Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)
Norbert Geis
Georg Girisch
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Manfred Heise
Josef Hollerith
Siegfried Hornung
Hubert Hüppe
Dr. Egon Jüttner
Volker Kauder

Hartmut Koschyk
Karl-Josef Laumann
Werner Lensing
Eduard Lintner
Dr. Michael Luther
Dr. Michael Meister
Anton Pfeifer
Helmut Rauber
Christa Reichard (Dresden)
Erika Reinhardt
Kurt J. Rossmanith
Anita Schäfer
Heinz Schemken
Heinz Seiffert
Carl-Dieter Spranger
Peter Weiß (Emmendingen)
Heinz Wiese (Ehingen)
Klaus-Peter Willsch
Elke Wülfing
Wolfgang Zöller

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