BT-Drucksache 14/9891

Handeln für mehr Arbeit - sinnvolle Reformvorschläge der Hartz-Kommission jetzt beraten und umsetzen

Vom 26. August 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/9891
14. Wahlperiode 26. 08. 2002

Antrag
der Abgeordneten Dr. Irmgard Schwaetzer, Rainer Brüderle, Dirk Niebel,
Dr. Heinrich L. Kolb, Ina Albowitz, Hildebrecht Braun (Augsburg), Ernst
Burgbacher, Jörg von Essen, Ulrike Flach, Gisela Frick, Paul K. Friedhoff, Horst
Friedrich (Bayreuth), Rainer Funke, Hans-Michael Goldmann, Joachim Günther
(Plauen), Dr. Karlheinz Guttmacher, Klaus Haupt, Dr. Helmut Haussmann, Ulrich
Heinrich, Walter Hirche, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Ulrich Irmer,
Dr. Klaus Kinkel, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Ina Lenke, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Günther Friedrich Nolting, Hans-Joachim Otto
(Frankfurt), Detlef Parr, Dr. Günter Rexrodt, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig,
Gerhard Schüßler, Marita Sehn, Gudrun Serowiecki, Dr. Hermann Otto Solms,
Dr. Max Stadler, Carl-Ludwig Thiele, Dr. Dieter Thomae, Jürgen Türk,
Dr. Guido Westerwelle, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Handeln für mehr Arbeit – sinnvolle Reformvorschläge der Hartz-Kommission
jetzt beraten und umsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist unerträglich hoch. Das Versprechen des
Bundeskanzlers, die Arbeitslosenzahl auf 3,5 Millionen zu senken, ist längst
gebrochen. Allein im Juli 2002 lag die registrierte, saisonbereinigte Arbeitslo-
sigkeit bei 4 105 Millionen Menschen. Die Zahl der Beschäftigten geht zurück.
Es findet keine saisonale Belebung statt, wie die höchste Juli-Arbeitslosigkeit
seit 1998 zeigt.
Die Vorschläge der Hartz-Kommission für eine Reform des Arbeitsmarktes bie-
ten ein uneinheitliches Bild. Sinnvolle Elemente der Hartz-Vorschläge entspre-
chen Anträgen der Fraktion der FDP, die in der zu Ende gehenden 14. Legislatur-
periode von der Bundesregierung der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
regelmäßig abgelehnt wurden.
Zur Verbesserung der Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt, die in erster
Linie neue Arbeitsplätze entstehen lassen, äußert sich der Kommissionsbericht
jedoch nicht. Dies ist um so erstaunlicher, als nach Auffassung aller renommier-
ten Wirtschaftssachverständigen die nach wie vor zu hohen Hürden für Unter-
nehmen die wesentliche Ursache dafür sind, dass keine neuen Arbeitsplätze
entstehen. Hier müssen weitere substantielle Reformen erfolgen, etwa für eine
Flexibilisierung des Kündigungsrechts und der Lohnfindung (Tarifvertrags-
recht), für Anreize der Hilfeempfänger zur Arbeitsaufnahme, aber auch für eine
durchgreifende Steuerreform und eine grundlegende Reform der sozialen Si-
cherungssysteme, um die Arbeitskosten (Steuer- und Abgabenlast) zu senken.

Drucksache 14/9891 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
den Arbeitsmarkt nach Maßgabe der folgenden Überlegungen entscheidend zu
reformieren:
E r s t e n s müssen die sinnvollen Vorschläge der Hartz-Kommission im hierfür
zuständigen Gremium, dem Deutschen Bundestag, erörtert und in vernünftiger
Weise umgesetzt werden:
l Die gesetzlichen Beschränkungen der Zeitarbeit und damit das Arbeitneh-

merüberlassungsgesetz müssen deutlich flexibilisiert und entbürokratisiert
werden.

l Die Beweislast für die Zumutbarkeit einer angebotenen Arbeit muss umge-
kehrt werden: Während das Arbeitsamt die Zumutbarkeit der angebotenen
Arbeit darzulegen hat, muss der eine zumutbare Arbeit ablehnende Arbeits-
lose das Vorliegen eines wichtigen Grundes hierfür beweisen. Denn er ist es,
der vom Staat, respektive vom Beitragszahler, Hilfe will.

l Die Vermittlung und Beratung von Arbeitsuchenden muss neu organisiert
und soweit wie möglich privatisiert werden. Die Arbeitsvermittlung wird
durch eine Versicherungsanstalt organisiert, die dazu marktgerechte Vermitt-
lungsgutscheine ausgibt. Damit können Arbeitslose einen Arbeitsvermittler
ihres Vertrauens beauftragen. Sie gelten für private und für staatliche Ver-
mittler, so dass es einen echten Wettbewerb gibt.

l Eine gemeinsame Anlaufstelle als Job-Center für alle Erwerbsfähigen, die
nach geltendem Recht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, gewährleis-
tet, dass Beratung, gezieltere Unterstützung, medizinische Dienste, individu-
elle Kontaktanbahnung mit Unternehmen, Computertraining sowie beglei-
tende Qualifizierung bei der Arbeitsuche mit dem gebündelten Personal des
sozialen Sicherungssystems, unterstützt von Sozialarbeitern und Psycholo-
gen und unter Einbeziehung von privaten Job-Vermittlern sowie Zeitarbeit,
in einem Haus stattfinden kann. Jeder Arbeitslose muss verpflichtet werden,
mit seinem Job-Center laufenden Kontakt zu halten, denn nur so wird seine
intensive und effektive Vermittlung und Betreuung durch das Arbeitsamt ge-
währleistet.

l Das Modell einer „Ich-AG“ für Arbeitslose würde eine enorme Privilegie-
rung dieser Beschäftigungsform mit einem Zuverdienst zusätzlich zur Ar-
beitslosenunterstützung bedeuten und damit gegenüber dem normalen Ge-
werbetreibenden wettbewerbsverzerrend wirken. Um den Niedriglohnsektor
insgesamt attraktiver zu machen und die Lohnzusatzkosten zu senken, ist es
vorzuziehen, die Schwelle, von der an die volle Steuer- und Abgabenpflicht
greift, von 325 Euro auf 630 Euro zu erhöhen und zur Pauschalversteuerung
in Höhe des Eingangssatzes der Einkommensteuer zurückzukehren. Die So-
zialversicherungspflicht für diese geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse
ist abzuschaffen. Dadurch werden neue, reguläre Arbeitsplätze geschaffen:
Die Arbeitnehmer können netto mehr verdienen – die Arbeitgeber flexibler
und unbürokratisch disponieren.

l Um einen Anreiz für sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im Haus-
halt und bei familienbezogenen Dienstleistungen zu schaffen und die
Schwarzarbeit zu reduzieren, ist für private Haushalte – ähnlich wie bei an-
deren Arbeitgebern (Unternehmen) – die steuerliche Absetzbarkeit wieder
einzuführen.

Zwe i t e n s müssen darüber hinaus die nach wie vor zu hohen Hürden für Un-
ternehmer, neue Arbeitsplätze zu schaffen, angegangen werden:
l Zu einer nachhaltigen Wachstumspolitik gehört ein niedriges, einfaches und

gerechtes Steuersystem mit den Steuersätzen 15, 25 und 35 Prozent. Das gel-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/9891

tende Steuerrecht ist kaum noch verständlich und die Steuerbelastung ist viel
zu hoch. Es muss endlich mit einer systematischen Steuerreform begonnen
werden, die deutliche Steuersenkungen und Vereinfachungen beinhaltet.
Niedrigere Steuern führen zu mehr Beschäftigung und dadurch zu weniger
Staatsausgaben.

l Um die Lohnzusatzkosten zu senken, müssen grundlegende Reformen in den
sozialen Sicherungssystemen angegangen werden. Nur wenn die Lohnzu-
satzkosten der Unternehmen endlich deutlich gesenkt werden, werden vor
allem im lohn- und beschäftigungsintensiven Mittelstand wieder nachhaltig
Arbeitsplätze entstehen. So müssen in der Arbeitslosenversicherung die ar-
beitsmarktpolitischen Maßnahmen überprüft werden; etwa bei dem Arbeits-
losengeld muss die Bezugsdauer wieder auf grundsätzlich 12 Monate justiert
werden.

l Bei der Zeitarbeit muss über die Hartz-Vorschläge hinaus verändert werden:
Die Arbeitnehmerüberlassung für Arbeitsgemeinschaften zwischen Unter-
nehmen unterschiedlicher Wirtschaftszweige und mit unterschiedlichen Ta-
rifverträgen wird erlaubnisfrei. Das Verbot der Arbeitnehmerüberlassung im
Baugewerbe wird aufgehoben. Die zulässige Höchstdauer der Überlassung
eines Leiharbeitnehmers an denselben Entleiher wird von 24 auf 36 Monate
erweitert. Das Verbot, die Dauer des Arbeitsverhältnisses zwischen Leihar-
beitnehmer und Verleiher auf die Dauer der erstmaligen Überlassung an
einen Entleiher zu beschränken, wird aufgehoben. Die Verpflichtung, nach
Ablauf des 12. Monats der Überlassung dem Zeitarbeitnehmer die im
Entleihbetrieb für vergleichbare Arbeitnehmer des Entleihers geltenden
Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren, wird
gestrichen. Die Kollegenhilfe im Mittelstand wird von der Anzeigepflicht
bei den Landesarbeitsämtern befreit.

l Es gibt keine überzeugende Begründung dafür, warum es in Deutschland
mehrere steuerfinanzierte Fürsorgeleistungen für einen Tatbestand, nämlich
den der Arbeitslosigkeit, gibt. Die Arbeitslosenhilfe muss mit der Sozialhilfe
zu einem System mit einer Leistung (Sozialgeld), klaren Zuständigkeiten,
eingleisigen Verfahren und schlankerer Verwaltung zusammengefasst wer-
den. Für die durch den Wegfall der Arbeitslosenhilfe sowie weiterer Perso-
nalkosten ersparten Leistungen muss der Bund den Kommunen einen
jährlich im voraus festgelegten Betrag geben, so dass für die Kommunen ein
Anreiz zum sparsamen Haushalten geschaffen wird.

l Die Anreize in den sozialen Sicherungssystemen, insbesondere in der Ar-
beitslosen- und Sozialhilfe, wieder in das Erwerbsleben zurückzukehren,
müssen deutlich gestärkt werden. Diese müssen so ausgestaltet werden, dass
sie einerseits den tatsächlich Bedürftigen ein Leben in Würde ermöglichen,
andererseits aber zugleich die Selbständigkeit aller Hilfeempfänger stärken
und den Leistungsmissbrauch vermeiden helfen. Es darf nicht sein, dass die
subsidiäre Hilfegewährung eine ,Kultur der Unselbständigkeit‘ hervorbringt.
Es muss derjenige Hilfeempfänger, der eine Beschäftigung finden kann und
arbeiten will, finanziell deutlich besser gestellt werden als derjenige, der sich
nicht um eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt bemüht. So sind die
Freibeträge in der Sozialhilfe zu erhöhen – finanziert über eine Reform des
Finanzausgleichs – und die Anrechnungssätze müssen langsamer ansteigen.

l Das Tarifrecht muss durch gesetzliche Öffnungsklauseln und eine Erweite-
rung des Günstigkeitsprinzips flexibilisiert werden. Wenn 75 Prozent der Be-
legschaft in freier und geheimer Abstimmung sich für Abweichungen vom
Tarifvertrag entscheiden, muss das möglich werden. Die betrieblichen Bünd-
nisse für Arbeit, in denen sich Arbeitgeber wie Arbeitnehmer zu von Tarif-
verträgen abweichenden Vereinbarungen zur Rettung von Arbeitsplätzen

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verständigt haben, müssen durch eine Klarstellung des Günstigkeitsprinzips
legalisiert werden.

l Eine Reform des Kündigungsschutzgesetzes muss den Arbeitsvertragspar-
teien mehr Spielraum einräumen, welche Form des Kündigungsschutzes sie
wollen. Arbeitnehmer und Arbeitgeber sollten statt des Kündigungsschutzes
auch eine Abfindungszahlung für den Fall der Kündigung vereinbaren kön-
nen oder der Arbeitgeber sich zur Finanzierung einer Weiterbildungsmaß-
nahme verpflichten. Die kleinen Betriebe bis zu 20 Arbeitnehmer sollten
von der Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes freigestellt werden.

l Das so genannte Scheinselbständigkeits-Gesetz muss abgeschafft werden:
Bislang werden damit viele Selbständige erfasst, bei denen es nicht sinnvoll
erscheint, sie als „scheinselbständig“ anzusehen, wie etwa Kurierdienste,
Existenzgründer, Unternehmensberater, Werbeagenturen, Software-Spezia-
listen oder Ingenieur- und Architektenbüros. Damit sind viele Arbeitsplätze
vernichtet worden und im Wesentlichen die Rentenkassen finanziert und
nicht die Selbständigkeit gefördert. Dieses Gesetz muss abgeschafft und die
alte Rechtslage wieder eingeführt werden.

l Bürger über 50 Jahre dürfen nicht vom Arbeitsmarkt durch Überregulierung
ausgegrenzt werden. Die besonderen gesetzlichen und tarifvertraglichen
Einstellungshindernisse für ältere Arbeitnehmer sind zu überprüfen: Auch
das klassische Mittel zur Frühverrentung, § 428 SGB III, muss gestrichen
werden, da Arbeitslosengeld nur an diejenigen gezahlt werden darf, die auch
für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Ältere gehören auch auf dem
Arbeitsmarkt längst nicht zum alten Eisen. Angesichts der demografischen
Entwicklung brauchen wir den Erfahrungsschatz der älteren Erwerbsfähigen
mehr denn je.

l Schließlich muss die Bundesanstalt für Arbeit schlanker, effizienter und leis-
tungsorientierter, sowie stärker in den Leistungswettbewerb mit privaten
Dienstleistern gestellt werden. Die Selbstverwaltung der Bundesanstalt aus
Vertretern der öffentlichen Körperschaften, Gewerkschaften und Arbeitge-
bern wird abgeschafft. Die 10 Landesarbeitsämter sind gleichermaßen abzu-
schaffen und ihre wenigen eigene Fachaufgaben auf die örtlichen Arbeits-
ämter bzw. die Hauptstelle in Nürnberg zu verlagern.

Berlin, den 26. August 2002
Dr. Irmgard SchwaetzerRainer BrüderleDirk NiebelDr. Heinrich L. KolbIna AlbowitzHildebrecht Braun (Augsburg)Ernst BurgbacherJörg von EssenUlrike FlachGisela FrickPaul K. FriedhoffHorst Friedrich (Bayreuth)Rainer FunkeHans-Michael Goldmann

Joachim Günther (Plauen)Dr. Karlheinz GuttmacherKlaus HauptDr. Helmut HaussmannUlrich HeinrichWalter HircheBirgit HomburgerDr. Werner HoyerUlrich Irmer,Dr. Klaus KinkelGudrun KoppJürgen KoppelinIna LenkeSabine Leutheusser-Schnarrenberger

Günther Friedrich NoltingHans-Joachim Otto (Frankfurt)Detlef ParrDr. Günter RexrodtDr. Edzard Schmidt-JortzigGerhard SchüßlerMarita SehnGudrun SerowieckiDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerCarl-Ludwig ThieleDr. Dieter ThomaeJürgen TürkDr. Guido Westerwelle
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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