BT-Drucksache 14/9868

Beurteilung der Reformbeschlüsse des türkischen Parlaments durch die Bundesregierung und das geplante Abschiebeabkommen mit der Türkei

Vom 16. August 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/9868
14. Wahlperiode 16. 08. 2002

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS

Beurteilung der Reformbeschlüsse des türkischen Parlaments durch die
Bundesregierung und das geplante Abschiebeabkommen mit der Türkei

Das türkische Parlament hat Anfang August eine Reihe von Gesetzen beschlos-
sen, mit denen auch von der Europäischen Union im Zusammenhang mit dem
Beitrittsantrag der Türkei geforderte demokratische Reformen umgesetzt wer-
den sollten.
Zu den beschlossenen Gesetzen gehört die Einschränkung der Todesstrafe. De-
ren Verhängung und Vollstreckung soll nach Presseberichten nicht vollständig
unterbleiben, aber auf Kriegssituationen und Situationen von „unmittelbarer
Kriegsgefahr“ beschränkt werden. Schon verhängte Todesstrafen sollen in
lebenslange Haft unter erschwerten Bedingungen umgewandelt werden. Perso-
nen, die wegen „Terrorismus“ und ähnlicher Straftaten verurteilt wurden, sollen
weiter von allen Amnestien ausgeschlossen sein.
Der Unterricht „in anderen Sprachen und Dialekten“ als Türkisch soll an privaten
Schulen erlaubt werden können, sofern darin nicht für Gewalt oder „Separatis-
mus“ eingetreten wird. Die Kurse werden vom Bildungsministerium kontrolliert.
Auch Rundfunk- und Fernsehsendungen dürfen in „anderen Sprachen und
Dialekten“ ausgestrahlt werden. Näheres soll die staatliche Medienaufsicht
RTÜK entscheiden, die in der Vergangenheit immer wieder Radio- und Fern-
sehsender aus geringen Anlässen mit Sendeverboten belegt hatte.
§ 159 des türkischen Strafgesetzbuches, der „Beleidigung von Staatsorganen“
unter Strafe stellt, wird abgemildert. Die Nachrichtenagentur dpa spricht in
einer Übersicht davon, Journalisten würden nun „nicht mehr mit Gefängnisstra-
fen … belangt, wenn sie nur Kritik“ am türkischen Militär oder anderen Staats-
organen übten. Bisher werden selbst Frauen, die von türkischen Militärs verge-
waltigt wurden und dies vor Gericht anzeigten, wegen angeblicher Beleidigung
des türkischen Militärs angeklagt.
Außerdem soll das Vereinsrecht geändert worden sein, ausländische Vereine
dürfen nun Niederlassungen in der Türkei gründen, türkische Vereine Nieder-
lassungen im Ausland. Demonstrationen dürfen nun auch von Ausländern
durchgeführt werden. Schlepperkriminalität wird mit Haftstrafen von 2 bis 5
Jahren geahndet. Christliche und jüdische Stiftungen dürfen Immobilien erwer-
ben und mit Zustimmung des Ministerrats Mitglied in ausländischen Stiftungen
und Einrichtungen werden.
Schließlich soll zu dem beschlossenen Reformpaket auch noch die Lockerung
von Auflagen für ausländische Firmen in der Türkei gehören (Reuters, 3. Au-
gust, AFP, 3. August, dpa, 4. August 2002).
Die beschlossenen Gesetze sind in der Türkei weiter umstritten. Die Partei
MHP, die in der bis vor kurzem bestehenden Regierungskoalition die Ver-

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abschiedung dieser Gesetze immer wieder blockiert hatte, hat bereits eine Ver-
fassungsklage gegen das gesamte Paket angekündigt.
Zahlreiche weitere undemokratische Bestimmungen wie die Privilegien und
Sonderrechte der Militärs im Nationalen Sicherheitsrat, die Gesetze und Ver-
fassungsbestimmungen gegen „Separatismus“, die 10-Prozent-Klausel für die
Wahlen zur Türkischen Nationalversammlung, die Sonderbestimmungen für
die kurdischen Gebiete (Ausnahmezustandsgesetze und Folgebestimmungen,
Dorfschützer etc.) sind weiter in Kraft.
Vertreter der EU und auch der Bundesregierung haben die Beschlüsse des tür-
kischen Parlaments in ersten Stellungnahmen begrüßt. Was das praktisch
bedeutet, ist noch unklar. In der Türkei gibt es Stimmen, die fordern, die EU
müsse nun auf ihrem Gipfeltreffen im Dezember dieses Jahres einen förmlichen
Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beschließen.
Bundesminister des Innern, Otto Schily, hat kurz nach den Beschlüssen des tür-
kischen Parlaments eine baldige Reise nach Ankara angekündigt. In der Presse
verlautet, der Abschiebung des derzeit in der Bundesrepublik Deutschland
inhaftierten so genannten Kalifen von Köln, Metin Kaplan, stünde nun mög-
licherweise schon bald nichts mehr im Wege. Der Sprecher des Bundes-
ministeriums des Innern soll erklärt haben, bei dem Besuch Otto Schilys biete
sich die Möglichkeit, „schon lange dauernde Verhandlungen im Zusammen-
hang mit Abschiebungen zu einem Abschluss zu bringen“ (dpa, 7. August
2002).
Der türkische Innenminister Rüstü Kazim Yücelen hatte in diesem Zusammen-
hang im Dezember letzten Jahres nach Presseberichten eine Liste von 155 Per-
sonen übergeben, deren Auslieferung die türkische Regierung wünscht. Darun-
ter sollen sich zahlreiche kurdische Oppositionelle befinden, die in der Türkei –
zum Teil mit Verweis auf die „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) – unter dem
Vorwurf des „Separatismus“ gesucht werden. Auf „Separatismus“ stand laut
§ 125 des türkischen Strafgesetzbuches bisher die Todesstrafe.
Sollten diese Berichte zutreffen, dann droht zahlreichen hier lebenden kur-
dischen Oppositionellen und Flüchtlingen die Abschiebung in die Türkei.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche genauen Beschlüsse hat das türkische Parlament auf seinen Sitzun-

gen Anfang August im Zusammenhang mit dem oben geschilderten
„Reformpaket“ gefasst (bitte die genauen Änderungen der türkischen Ge-
setze im Wortlaut und in der amtlichen Übersetzung dokumentieren)?

2. Wann treten diese Änderungen in Kraft?
3. Welche Umsetzungen, Durchführungsverordnungen etc. sind nach Kenntnis

der Bundesregierung noch erforderlich, damit die beschlossenen Gesetze in
der Realität wirksam werden können?

4. Trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass die umstrittene 10-Pro-
zent-Klausel bei den Wahlen zum türkischen Parlament unverändert geblie-
ben ist?

5. Trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass die vielen umstrittenen
Gesetze und Verfassungsbestimmungen gegen „Separatismus“ unverändert
geblieben sind?

6. Trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass die Stellung des Natio-
nalen Sicherheitsrates und die damit bestehende weitreichende Kontrolle der
türkischen Politik durch die Militärs unverändert geblieben sind?

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7. Hat eines der beschlossenen Gesetze nach Kenntnis der Bundesregierung
praktische Auswirkungen auf die in der Türkei nach zahlreichen Berichten
weitverbreitete Praxis der Folter und Misshandlung von Gefangenen, z. B.
durch die Verkürzung der Zeiten von Polizeihaft ohne Anwalt?
Wenn ja, welche?

8. Hat eines der beschlossenen Gesetze praktische Auswirkungen auf die
Sonderbestimmungen für die kurdischen Gebiete wie die Bestimmungen
über den Ausnahmezustand, die Sonderbefugnisse der Gouverneure und
Militärs in diesen Gebieten etc.?
Wenn ja, welche?

9. Wie beurteilt die Bundesregierung die beschlossenen Gesetze im Hinblick
auf die Erfüllung der „Kopenhagener Kriterien“ der EU? Sind diese Krite-
rien nach den beschlossenen Gesetzen in den Augen der Bundesregierung
erfüllt oder bedarf es weiterer Reformen?

10. Wird die Bundesregierung – in Absprache mit den anderen EU-Staaten –
auf dem EU-Gipfel im Dezember für eine Aufnahme der förmlichen Bei-
trittsverhandlungen mit der Türkei plädieren?
Wenn nein, warum nicht?

11. Welche Auswirkungen haben die neuen Gesetze nach Meinung der Bun-
desregierung für türkische Auslieferungsbegehren an die Bundesrepublik
Deutschland?

12. Treffen die Berichte zu, dass der Bundesminister des Innern, Otto Schily,
bei seiner geplanten Reise in die Türkei die Verhandlungen über Abschie-
befragen abschließen will?

13. Welche genauen Vereinbarungen strebt die Bundesregierung bei diesen
Verhandlungen an?

14. Welche Bedeutung misst die Bundesregierung in diesen Verhandlungen
den anhaltenden Berichten über Misshandlungen und Folterungen politi-
scher Gefangener in der Türkei bei und den offensichtlichen Verstößen tür-
kischer Sicherheitsorgane gegen internationale Konventionen, wie z. B.
der völkerrechtswidrigen Entführung, Misshandlung und anhaltenden
Inhaftierung des in Deutschland als Flüchtling anerkannten kurdischen
Politikers Cevat Soysal?

15. Wird die Bundesregierung vor einer Befolgung türkischer Abschiebungs-
wünsche verlangen, dass solche offensichtlichen Verstöße gegen internati-
onale Konventionen und Normen geheilt und widerrechtlich inhaftierte
Personen wie Cevat Soysal wieder entlassen und rehabilitiert werden?

16. Für wie viele hier lebende Personen liegen der Bundesregierung oder ande-
ren deutschen Stellen derzeit türkische Auslieferungsbegehren vor?

17. Wie viele dieser Auslieferungsbegehren richten sich
– gegen Personen, die wegen nicht politisch motivierter, allein krimineller

Straftaten gesucht werden,
– gegen Personen, die wegen ihres Eintretens für kurdische Anliegen in

der Türkei gesucht werden,
– gegen Personen, die wegen muslimischer Aktivitäten in der Türkei

gesucht werden,
– gegen Personen, die wegen anderer oppositioneller Aktivitäten in der

Türkei gesucht werden?

Drucksache 14/9868 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
18. Welchen dieser Auslieferungswünschen wird die Bundesregierung aus
grundsätzlichen Erwägungen, zum Beispiel im Hinblick auf die noch
immer nicht demokratisch gelöste kurdische Frage in der Türkei, nicht ent-
sprechen bzw. widersprechen?

Berlin, den 12. August 2002
Ulla Jelpke
Roland Claus und Fraktion

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