BT-Drucksache 14/9857

Anerkennung des Völkermords an den Armeniern

Vom 12. August 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/9857
14. Wahlperiode 12. 08. 2002

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Uwe Hiksch, Ulla Jelpke, Dr. Winfried Wolf und der Fraktion
der PDS

Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern

Der Völkermord an den armenischen Bürgern des Osmanischen Sultanats von
1915/1916 war der Höhepunkt des Vernichtungs- und Vertreibungsprogramms
der im Ersten Weltkrieg allein regierenden nationalistischen Partei „Einheit und
Fortschritt“ („Jungtürken“). Ihre Politik der ethnischen Homogenisierung rich-
tete sich in der Tendenz gegen alle nicht türkischen Ethnien. Die öffentliche
Diskussion über die Geschehnisse von 1915 erreichte einen neuen Höhepunkt
mit der expliziten Verurteilung des Völkermordes, u. a. durch das Europäische
Parlament (Entschließung vom 15. November 2000) und die Französische Nati-
onalversammlung (Entschließung vom 18. Januar 2001). Dennoch bestreitet die
türkische Regierung bis heute, dass es einen Genozid an den (christlichen)
Armeniern und Aramäern/Assyrern gegeben hätte. Jeder, der öffentlich den
Völkermord erwähnt, begibt sich in die Gefahr, von den türkischen Behörden
zumindest strafrechtlich verfolgt zu werden.
Dem Deutschen Bundestag lag seit April 2000 eine Petition vor, die dazu auf-
fordert, den Genozid an den Armeniern (1915) als eine historische Tatsache an-
zuerkennen. Diese Petition des Vereins der Völkermordgegner sowie diverser
armenischer Vereine wurde von 16 000 Menschen unterstützt, die meisten von
ihnen in Deutschland lebende Staatsbürger der Türkei. Der Verein der Völker-
mordgegner hatte sich bereits im November 1999 mit einer von mehr als
10 000 türkischen Staatsbürgern unterzeichneten Massenpetition brieflich an
die Große Nationalversammlung der Republik Türkei gewandt. Das türkische
Parlament wurde gebeten, die 1915/1916 an den armenischen Bürgern des Os-
manischen Reiches, an aramäischen bzw. assyrischen Christen und Griechen
begangenen Verbrechen als historische Tatsachen entsprechend der UN-Völ-
kermord-Konvention anzuerkennen. Da die Große Nationalversammlung das
Unterschriftenpaket kommentarlos an die Petenten zurücksandte, reichten diese
am 13. April 2000 gemeinsam mit armenischen Organisationen eine Petition
beim Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages ein (Petition Nr. 019260).
Am 4. April 2001 beschloss der Petitionsausschuss einstimmig, dem Deutschen
Bundestag zu empfehlen, diese Petition der Bundesregierung (Auswärtiges
Amt) als Material zu überweisen. Der Deutsche Bundestag hat der Empfehlung
am 5. April 2001 zugestimmt.
Mit Schreiben vom 10. Oktober 2001 erklärte der Petitionsausschuss das Ver-
fahren für beendet und begründete dies mit Aussagen des Auswärtigen Amts
sowie der türkischen Regierung, „dass auf der Ebene der Nichtregierungsorga-
nisationen erste Ansätze zur Aufarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit un-
ternommen werden“. Damit ist vermutlich die kurzlebige „Türkisch-Armeni-
sche Versöhnungskommission“ (engl. Abkürzung: TARC) gemeint, deren

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Existenz im Juli 2001 offiziell bekannt gegeben wurde. Sie setzte sich aus vier
Armeniern (zwei davon Staatsbürger Russlands bzw. der USA) und türkischer-
seits aus sechs offiziell pensionierten Berufsdiplomaten zusammen, die bei ver-
schiedenen Anlässen zu verstehen gaben, dass ihr Interesse in der Verhinderung
weiterer Erörterungen des Genozidsvorwurfs durch ausländische Gesetzgeber
liege. Als die TARC eine unabhängige amerikanische Forschungseinrichtung
(Center for Transitional Justice) mit der Erarbeitung einer Studie zur Frage be-
auftragen wollte, ob die Massenvernichtung der Armenier einen Völkermord
im juristischen Sinne darstellt, weigerten sich die türkischen Kommissionsmit-
glieder unisono, diesem Antrag zuzustimmen. Daraufhin demissionierten
Anfang Dezember 2001 die armenischen Mitglieder mangels gegenseitigen
Vertrauens.
Eine besondere historische Mitverantwortung der Bundesrepublik Deutschland
ergibt sich aus der Unterstützung und wissentlichen Duldung des Genozides
durch die Regierungsbeamten und Offiziere des Deutschen Kaiserreiches (vgl.
Wolfgang Gust, Der Völkermord an den Armeniern, 1993). Dieser Mitverant-
wortung gilt es auch in der aktuellen Politik der Bundesregierung Rechnung zu
tragen.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. War der Bundesregierung bei ihrer Berichterstattung an den Petitionsaus-

schuss bzw. bei Abfassung ihrer Antwort an die Petenten bekannt, dass sich
die „Türkisch-Armenische Versöhnungskommission“ türkischerseits aus
ehemaligen Staatsbeamten zusammensetzte, die zu den Leugnern des Geno-
zids zählen, und somit keine wirkliche Nichtregierungsorganisation dar-
stellt?

2. War der Bundesregierung ferner bekannt, dass die Mitarbeit von Armeniern
in dieser Kommission von der überwältigenden Mehrheit armenischer
Nichtregierungsorganisationen, Parlamentsparteien, Kirchen und anderen
gesellschaftlichen Meinungsführern scharf kritisiert wurde?

3. Teilt die Bundesregierung die Ansicht des Europäischen Parlaments (Bericht
von Per Gahrton, verabschiedet am 28. Februar 2002, A5-0028/2002), dass
als eine Grundlage für die türkisch-armenische Aussöhnung, die heutige
Republik Türkei den Völkermord von 1915 als historische Tatsache aner-
kennen muss?

4. Welche Schritte hat die Bundesregierung unternommen, um im Sinne der
mehrfachen Beschlüsse des Europäischen Parlaments (18. Juli 1987, 15. No-
vember 2000, 28. Februar 2002) die Anerkennung der Faktizität des Völker-
mordes von 1915 als historische Tatsache durch das Parlament sowie die
Regierung der Republik Türkei zu erreichen?

5. Welche Position verfolgte die Bundesregierung anlässlich des Europäischen
Rates in Sevilla und darüber hinaus hinsichtlich des Beitritts der Türkei zur
EU?

6. Wie wertet die Bundesregierung die Tatsache, dass sich in dem Massenpeti-
tionsverfahren von 2000/2001 Organisationen und Angehörige von Opfer-
gruppen (Armenier, Aramäer-Assyrer) sowie türkische Menschenrechtsor-
ganisationen gemeinsam und nachdrücklich für die politische Verurteilung
der Genozidverbrechen des jungtürkischen Kriegsregimes eingesetzt haben?

7. In welcher Weise beabsichtigt die Bundesregierung, Initiativen türkischer
Menschenrechtsvereine und Menschenrechtler in der Bundesrepublik
Deutschland bzw. in der Türkei zu unterstützen, die der Bereitstellung und
Verbreitung objektiver Informationen über die Genozidverbrechen des jung-
türkischen Regimes dienen?

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8. In welcher Weise beabsichtigt die Bundesregierung der Kultusministerkon-
ferenz nahe zu legen, für den Geschichtsunterricht an deutschen Schulen
geeignetes Informationsmaterial über den Völkermord bereitzustellen bzw.
von Angehörigen der Opfergruppen sowie türkischen Menschenrechtlern
erarbeiten zu lassen?

9. Ist der Bundesregierung bekannt, dass in Deutschland mindestens sechs
Verfahren von Personen des öffentlichen Lebens oder Wissenschaftlern
türkischer und deutscher Herkunft anhängig sind, die von türkischen Me-
dien in ihrer persönlichen und beruflichen Ehre verletzt wurden, nachdem
sie sich öffentlich in Wort oder Schrift zum Völkermord an den Armeniern
geäußert hatten?

10. Wie will die Bundesregierung verhindern, dass künftig in Deutschland an-
sässige Wissenschaftler und Personen des öffentlichen Lebens von türki-
schen Medien angegriffen, beleidigt und bedroht werden?

11. Hat die Bundesregierung entsprechende Vorkommnisse gegenüber der tür-
kischen Regierung angesprochen, und wenn ja, mit welchem Erfolg?

12. Inwieweit unterstützt die Bundesregierung Vorhaben zur Erforschung des
Völkermordes an den Armeniern und zur Mitbeteiligung deutscher Stellen
oder deutscher Bürgerinnen und Bürger?

13. Welchen Stellenwert misst die Bundesregierung dem Völkermord von
1915/1916 und seiner Anerkennung entsprechend der UN-Völkermord-
Konvention im bilateralen Verhältnis zur Republik Armenien bei?

Berlin, den 5. August 2002
Uwe Hiksch
Ulla Jelpke
Dr. Winfried Wolf
Roland Claus und Fraktion

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