BT-Drucksache 14/9766

Berichte über anhaltende Menschenrechtsverletzungen in kurdischen Gebieten der Türkei trotz Aufhebung des Ausnahmezustands

Vom 9. Juli 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/9766
14. Wahlperiode 09. 07. 2002

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS

Berichte über anhaltende Menschenrechtsverletzungen in kurdischen Gebieten
der Türkei trotz Aufhebung des Ausnahmezustands

Der Nationale Sicherheitsrat der Türkei hat Ende Mai beschlossen, den seit
1978 in 13 kurdischen Provinzen verhängten Ausnahmezustand bis Jahresende
auch in den letzten vier Provinzen, in denen er noch gilt, aufzuheben. In den
Provinzen Hakkari und Tunceli endet der Ausnahmezustand am 30. Juli, für die
Provinzen Diyarbakir und Sirnak soll der Ausnahmezustand nach dem Willen
der Militärs im Nationalen Sicherheitsrat am 30. November 2002 aufgehoben
werden (Quelle: Rheinpfalz Online, 1. Juni 2002).
Die „Basler Zeitung“ weist darauf hin: „Die Provinzen, in denen der Ausnah-
mezustand ab August aufgehoben sein wird, werden aber den so genannten
‚Nachbarschaftsprovinzen‘ zugerechnet, das sind Provinzen, in denen der Aus-
nahmezustand zwar nicht besteht, in denen der für die Maßnahmen im Ausnah-
mezustandsgebiet verantwortliche Gouverneur aber von Fall zu Fall ebenfalls
eingreifen kann. Bis zur endgültigen Aufhebung des Ausnahmezustands soll
dann das Kabinett nicht näher bezeichnete Vorkehrungen beschließen, die ihn
ersetzen.“ (Basler Zeitung, 1. Juni 2002). Im selben Bericht wird unter der
Überschrift „Kurdisch weiter unterdrückt“ darauf hingewiesen, dass die Unter-
drückung der kurdischen Sprache nur geringfügig gelockert werde. Private An-
bieter dürften keinen Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, privaten Fern-
sehsendern solle die Ausstrahlung kurdischer Sendungen weiter verboten
bleiben.
Die prokurdische Tageszeitung „Özgür Politika“ berichtete am 30. Juni 2002,
bei einer weiteren Sitzung des Sicherheitsrates sei erörtert worden, die kurdi-
schen Provinzen künftig durch einen „Staatskommissar für den Südosten“ ver-
walten zu lassen. Die Beratungen darüber sollten im Sicherheitsrat fortgesetzt
werden.
Fünf Tage vorher hatte die gleiche Zeitung berichtet, die Staatsanwaltschaft
beim Staatssicherheitsgericht (DGM) Istanbul habe ein Ermittlungsverfahren
gegen den Hilfs- und Kulturverein für Vertriebene (Göc-Der) eingeleitet. An-
lass sei ein „Fluchtbericht“, der von diesem Verein erstellt wurde und sich mit
den jahrelangen Vertreibungen der Bewohner kurdischer Siedlungen durch das
Militär befasse. „Ausdrücke wie ‚Türkische Staatsangehörige kurdischer Ab-
stammung‘, ‚Kurdisch‘, ‚Zazaca‘ und ‚als Folge von OHAL-Maßnahmen
zerstörte Dörfer‘ (Anmerkung: OHAL ist das Kurzwort für den Ausnahmezu-
stand in den kurdischen Gebieten) scheinen der unmittelbare Anlass für das
Verfahren“, heißt es in dem Bericht, und weiter: „Trotz der Aufhebung des Aus-
nahmezustandes werden die Gesetze des Ausnahmezustandes weiter als Be-
gründung für Willkürmaßnahmen angegeben. Wie können in einem Gebiet
ohne Ausnahmezustand die Gesetze des Ausnahmezustands weiter gelten?“

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Anlass war das Verbot einer Veranstaltung, bei der im Rahmen der „Woche des
Flüchtlings“ in Istanbul an die Vertreibungen aus den kurdischen Gebieten erin-
nert werden sollte. Die Veranstaltung sei wegen „Störung der Nationalen
Sicherheit“ und „aus Gründen des Schutzes der Nationalen Einheit“ verboten
worden.
Am 2. Juni 2002 hatte die Zeitung über Reaktionen von Gewerkschaften und
Ärzteverbänden auf die Entscheidung des Sicherheitsrates berichtet. Darin war
gefordert worden, auch die vielen während des Ausnahmezustands verhängten
Strafversetzungen von Gewerkschaftsmitgliedern, Ärzten, Lehrern usw. rück-
gängig zu machen. Die aus ihren Dörfern vertriebenen Menschen müssten zu-
rückkehren können.
Am 13. Juni 2002 berichtete die Zeitung von anhaltenden Verfolgungen gegen
kurdische Straßenverkäufer in Mersin. „In der Stadt mit besonders vielen kurdi-
schen Flüchtlingen wurden Maßnahmen gegen Kurden ergriffen wie im Aus-
nahmezustandsgebiet.“ 230 Mitglieder des Vereins der Straßenverkäufer seien
immer noch in Haft, der Verein selbst wegen angeblicher „Unterstützung der
PKK“ verboten und aufgelöst.
Am 24. Juni 2002 berichtete die Zeitung, Verbote und Diskriminierungen, die
früher der Gouverneur für das Ausnahmezustandsgebiet verhängt habe, würden
nun vom „einfachen Vali“ verhängt. Geändert habe sich nur der Titel dessen,
der die Verbote und Diskriminierungen gegen Vereine, Zeitungen etc. verhänge.
In kurdischen Kreisen ist aus diesen Gründen der Eindruck verbreitet, die Auf-
hebung des Ausnahmezustands sei weitgehend propagandistisch motiviert,
solle die Weltöffentlichkeit täuschen, während in Wirklichkeit die Repression
gegen kurdische politische Bestrebungen, Vereine, Parteien, Zeitungen, Ge-
werkschaften und Menschenrechtsgruppen fast unverändert weitergehe.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche genauen Beschlüsse haben der Nationale Sicherheitsrat der Türkei

und das türkische Parlament nach Kenntnis der Bundesregierung hinsicht-
lich des Ausnahmezustands in den vier kurdischen Provinzen Hakkari, Tun-
celi, Diyarbakir und Sirnak getroffen (bitte den Wortlaut bzw. eine deutsche
Übersetzung der Beschlüsse mitteilen)?

2. Wie viele Deportationen bzw. Strafversetzungen von Lehrkräften, Gewerk-
schaftsmitgliedern und anderen Personen hat es nach Kenntnis der Bundes-
regierung in den 25 Jahren des Ausnahmezustands gegeben?

3. Ist der Bundesregierung bekannt, dass allein die Gewerkschaft Egitim Sen
erklärt hat, mehr als 700 ihrer Mitglieder seien während des Ausnahmezu-
stands strafversetzt worden?
Wenn ja, wie viele Strafversetzungen von Mitgliedern berichten andere Ge-
werkschaften, Ärzteverbände, Anwaltsorganisationen, Menschenrechtsver-
einigungen etc. (bitte nach den einzelnen Organisationen, soweit bekannt,
getrennt auflisten)?

4. Hat die Bundesregierung Kenntnisse, ob mit den Beschlüssen des Nationa-
len Sicherheitsrats und des türkischen Parlaments zur Aufhebung des Aus-
nahmezustands auch eine Rückgängigmachung der während des Ausnahme-
zustands verhängten Deportationen bzw. Strafversetzungen verbunden ist?
Wenn ja, welche genauen Regelungen zur Korrektur und/oder Wiedergutma-
chung dieser Maßnahmen sind der Bundesregierung bekannt und wie viele
strafversetzte Personen konnten zurückkehren?

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5. Wie viele kleine Siedlungen, Dörfer und Städte wurden in den 25 Jahren
des Ausnahmezustands nach Kenntnis der Bundesregierung von türkischen
Militärs zerstört bzw. gewaltsam geräumt?
Wie viele Personen waren davon betroffen?

6. Wie viele dieser Siedlungen, Dörfer und Städte sind inzwischen wieder
errichtet worden, wie viele sind noch zerstört bzw. nicht wieder aufgebaut?

7. Wie viele der aus diesen Siedlungen, Dörfern und Städten vertriebenen Per-
sonen konnten in ihre alten Siedlungen wieder zurückkehren, wie viele
warten immer noch auf eine solche Rückkehrmöglichkeit?

8. Hat die Bundesregierung Kenntnis, ob das nach Verhängung des Ausnah-
mezustands errichtete „Dorfschützersystem“ abgebaut bzw. aufgelöst wer-
den soll?
Wenn ja, ab wann und in welchem Umfang?
Wenn nein, warum nicht?

9. Wie viele Personen in den kurdischen Gebieten sind noch heute staatlich
bezahlte und bewaffnete „Dorfschützer“?

10. Kann die Bundesregierung Berichte bestätigen, wonach die weitreichenden
Befugnisse des bzw. der bisherigen Ausnahmezustandsgouverneure nicht
aufgehoben, sondern lediglich auf andere Beamte übertragen werden?

11. Kann die Bundesregierung Berichte bestätigen, wonach die kurdischen
Provinzen in Zukunft von einem „Staatskommissar“ verwaltet werden sol-
len, also faktisch weiter einer Sonderverwaltung unterstehen?

12. Hat die Bundesregierung Kenntnis, ob die Zahl der in den kurdischen Pro-
vinzen stationierten Militärs und Spezialeinheiten seit Aufhebung des Aus-
nahmezustands verringert worden ist und ob dort stationierte Spezialeinhei-
ten aufgelöst oder abgezogen wurden?
Wenn ja, wie groß war diese Verringerung und welche Spezialeinheiten
wurden aufgelöst bzw. aus den kurdischen Gebieten abgezogen?
Wenn nein, wie viele Truppen und Spezialeinheiten sind heute noch in kur-
dischen Gebieten stationiert?

13. Wie haben sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Ausgaben für Mili-
tär und andere Bereiche der „nationalen Sicherheit“, also Polizei und Justiz,
Gendarmerie, Grenzschutz etc. sowie die Personalstärke von Militär, Poli-
zei, Gendarmerie etc. in den letzten fünf Jahren entwickelt (bitte jährliche
Angaben für jeden Bereich)?

14. Welche von Menschenrechtsvereinigungen und kurdischen Vereinigungen
kritisierten Sondergesetze und Sonderregelungen für die kurdischen Ge-
biete bleiben nach Kenntnis der Bundesregierung trotz Aufhebung des
Ausnahmezustands in Kraft?

15. Wie viele politische Gefangene sind nach Kenntnis der Bundesregierung
weiter in der Türkei inhaftiert?

16. Wie haben sich nach Kenntnis der Bundesregierung und nach Angaben von
Menschenrechtsvereinen in den letzten zwei Jahren dieMenschenrechtsver-
letzungen (Getötete, Opfer unbekannter Täter, Festnahmen, Folterungen,
vorübergehende oder ständige Verbote gegen Vereine, Parteien, Zeitungen
und Zeitschriften, Fernsehsender, Strafversetzungen etc.) in kurdischen Ge-
bieten entwickelt (bitte jährliche oder vierteljährliche Zahlen für alle ge-
nannten Menschenrechtsverletzungen in kurdischen Gebieten)?

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17. Welche weiteren Maßnahmen der Türkei zur Verbesserung der Menschen-
rechtssituation in den kurdischen Gebieten muss die türkische Regierung
nach Auffassung der Bundesregierung mindestens ergreifen, um den „Ko-
penhagener Kriterien“ der EU zu genügen?

Berlin, den 3. Juli 2002
Ulla Jelpke
Roland Claus und Fraktion

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