BT-Drucksache 14/9718

zu der Unterrichtung druch die Bundesregierung -14/8181- Bericht über die Lebenssituation juger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland -Elfter Kinder- und Jugendbericht- mit der Stellungnahme der Bundesregierung

Vom 3. Juli 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/9718
14. Wahlperiode 03. 07. 2002

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Maria Eichhorn, Thomas Dörflinger, Antje Blumenthal,
Dr. Maria Böhmer, Cajus Caesar, Wolfgang Dehnel, Renate Diemers, Anke Eymer
(Lübeck), Ingrid Fischbach, Walter Link (Diepholz), Hans-Peter Repnik, Heinz
Schemken, Marion Seib, Gerald Weiß (Groß-Gerau) und der Fraktion der CDU/CSU

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
– Drucksache 14/8181 –

Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland
– Elfter Kinder- und Jugendbericht –
mit der
Stellungnahme der Bundesregierung

Der Bundestag stellt fest:
I. Der 11. Kinder- und Jugendbericht wählt als Leitmotiv „Aufwachsen in

öffentlicher Verantwortung“. Die Bundesregierung hat den darin zum Aus-
druck gebrachten Perspektivwechsel ausdrücklich begrüßt und die Nach-
rangigkeit individueller Transferleistungen zugunsten des Vorrangs einer
bedarfsgerechten sozialen Infrastruktur als Leitlinie der eigenen Politik un-
terstrichen.
Der Deutsche Bundestag sieht in dieser Weichenstellung einen Paradigmen-
wechsel, der dem verfassungsrechtlichen Auftrag einer Stärkung der Erzie-
hungsverantwortung der Eltern zuwiderläuft und die aus dem Grundgesetz
abgeleitete Abgrenzung der Kompetenzen und Handlungszuständigkeiten
zwischen Bund, Ländern und Kommunen ignoriert.
Statt den verfassungsrechtlichen Auftrag ernst zu nehmen und die Familie
in ihrer Erziehungsverantwortung verstärkt zu fördern und zu unterstützen,
setzt die Bundesregierung einseitig auf den Ausbau öffentlicher Erziehung
zu Lasten von Angeboten für individuelle Hilfe. Dies kann nicht mitgetra-
gen werden, weil damit der Schutzgedanke des Artikels 6 GG ausgehebelt,
der Vorrang familiärer Erziehung vor öffentlicher Erziehung ins Gegenteil
verkehrt wird.
Der Deutsche Bundestag betont ausdrücklich die Notwendigkeit eines
altersübergreifenden Ausbaus der Kinderbetreuungsangebote. Die Hand-
lungsverantwortung hierfür liegt eindeutig auf der Ebene der Länder und

Drucksache 14/9718 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Kommunen. Der Bund hat jedoch im Rahmen der Finanzverfassung ge-
meinsam mit den Ländern dafür Sorge zu tragen, dass ausreichend Mittel
für diese Aufgabe zur Verfügung stehen. Er hat darüber hinaus im Rahmen
seiner Verantwortung für einen gerechten und angemessenen Familienleis-
tungsausgleich zu sorgen, der es Eltern ermöglicht, selbst zu bestimmen ob
und inwieweit sie dritte Personen zur Erfüllung ihres Erziehungsauftrags
heranziehen wollen.
Die Bundesregierung hat angekündigt, jede vierte Schule zur Ganztags-
schule auszubauen. Die Bundesregierung wird aufgefordert, hierzu kon-
krete Konzepte, Strategien und Inhalte offenzulegen, auf die sich Eltern,
Kinder und Lehrer verlassen können. Beim Ausbau einer Schule zu einer
Ganztagsschule geht man gewöhnlich von Mehrkosten in Höhe von 30 %
aus. Hierzu sind Finanzierungskonzepte vorzulegen.
Eine ausdrückliche Prioritätensetzung zugunsten der Fremdbetreuung bei
gleichzeitiger Nachrangigkeit der finanziellen Transferleistungen des Fami-
lienleistungsausgleichs bedeutet deshalb im Ergebnis eine Nachrangigkeit
der familienpolitischen Handlungsverantwortung des Bundes, die auf eine
Einschränkung der Wahlfreiheit der Eltern hinausläuft.
Der Deutsche Bundestag pflichtet dem 11. Kinder- und Jugendbericht in
seiner abschließenden Handlungsempfehlung Nummer 6 bei, dass die Aus-
gaben den Aufgaben zu folgen haben.
Der Deutsche Bundestag bedauert, dass die Bundesregierung in ihrer Stel-
lungnahme keinerlei Aussage darüber getroffen hat, wie sie Länder und
Kommunen in ihrer Verantwortung für den Ausbau der Kinderbetreuung zu
unterstützen gedenkt.
Der Deutsche Bundestag sieht mit Sorge, dass die maßgebliche Rolle des
Bundes in der Gestaltung der finanziellen Rahmenbedingungen von Fami-
lien in den Hintergrund gerückt und gleichzeitig die vorrangige Verantwor-
tung der Länder und der Kommunen postuliert wird.
Die öffentliche Verantwortung für Kinder und Familien ernst zu nehmen
kann nicht bedeuten, den Familien Verantwortung und Wahlfreiheit zu neh-
men, vielmehr gilt es, angesichts vielfältiger Lebenslagen und Erziehungs-
stile, Verantwortung und Wahlfreiheit zu stärken. Der Deutsche Bundestag
betont, dass eine einseitige Beschränkung auf den Ausbau der sozialen In-
frastruktur dieser Zielsetzung in keinster Weise genügt. Der Deutsche Bun-
destag hält hingegen eine Prioritätensetzung zugunsten der Familienpolitik
insgesamt für notwendig und nicht eine Prioritätensetzung, die unterschied-
liche familienpolitische Handlungsebenen zugunsten des Bundes gegenein-
ander ausspielt.

II. Die Bundesregierung teilt die Einschätzung des 11. Kinder- und Jugendbe-
richtes, dass es von grundlegender Bedeutung ist, die Chancengleichheit im
Zugang und in der Nutzung von Bildungsangeboten zu erhalten und weiter
herzustellen. Allgemeine Bildung und berufliche Bildung sind die beste
Vorbeugung gegen Arbeitslosigkeit.
Hierfür sind neben der Bereitstellung finanzieller Fördermittel inhaltliche
und strukturelle Reformen von Bedeutung, mit dem Ziel eine Modernisie-
rung von Berufsausbildung zu erreichen. In der Stellungnahme der Bundes-
regierung zum Bericht wird behauptet, das Sofortprogramm „Jump“ der
Bundesregierung habe entscheidende Fortschritte beim Abbau der Jugend-
arbeitslosigkeit erzielt. Die unterschiedlichen Finanzierungssysteme er-
schweren die Realisierung von Maßnahmen oder verhindern sie sogar.
Der Deutsche Bundestag ist hingegen der Meinung, dass dem Sofortpro-
gramm „Jump“ und anderen Programmen der Bundesregierung keine deut-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/9718

lichen Fortschritte bescheinigt werden können. Sie dienen letztendlich als
Warteschleifen zur Schönung der Statistiken und sind als Ersatzangebote
zur Regelförderung eher abgekoppelt. Die Jugendarbeitslosigkeit ist trotz
des hohen Mitteleinsatzes der zusätzlichen Förderung nur marginal kurz-
fristig zurückgegangen. Der Deutsche Bundestag teilt die Auffassung des
11. Kinder- und Jugendberichtes, dass die Unvereinbarkeit der Finanzie-
rungssysteme und Sozialgesetze trotz „Job-AQTIV-Gesetz“ weiter beste-
hen. Diese sind als überregulierter „Subventionsdschungel und Kompetenz-
chaos“ ein Hemmnis für Innovation und Effizienz lokaler und regionaler
Arbeitsmarktpolitik.

III. Der Deutsche Bundestag betont, dass der 11. Kinder- und Jugendbericht
auch im eigentlichen Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe die Aus-
sage „Die Ausgaben folgen den Aufgaben“ in den Vordergrund stellt. Dies
soll verdeutlichen, dass der Politik nicht nur die Aufgabe der jugendpoliti-
schen Zielsetzung übertragen ist, vielmehr hat sie auch für eine bedarfsge-
rechte finanzielle Ausstattung der Leistungserbringer zu sorgen. Die Bun-
desregierung geht in ihrer Stellungnahme auf diese Forderung nicht ein,
sondern verweist in diesem Zusammenhang formaltechnisch auf Finanzie-
rungszuständigkeiten, insbesondere der öffentlichen Träger der Jugendhilfe.
Lediglich der Verweis, dass es Aufgabe der Länder und Gemeinden ist, die
im Rahmen eines aufwendig gestalteten Sozialleistungsgesetzes notwendi-
gen Leistungen zu erbringen, ohne finanzielle Grundlagen hierfür geschaf-
fen zu haben, ist nach Auffassung des Deutschen Bundestages nicht ausrei-
chend.

IV. Der 11. Kinder- und Jugendbericht befürwortet weitere Integrationshilfen
für jugendliche Aussiedlerinnen und Aussiedler. Die Bundesregierung
schließt sich dieser Position an und verweist auf ihr Ziel, die Integration von
Zuwanderinnen und Zuwanderern, insbesondere auch die Chancengleich-
heit und Entwicklungspotentiale von Kindern und Jugendlichen, stärker zu
fördern und eine konzeptionelle Neuorientierung der Integrationspolitik zu
erarbeiten.
Der Deutsche Bundestag begrüßt die in diesem Zusammenhang von der
Bundesregierung beabsichtigte Ausweitung der Sprachförderung auf alle
Zuwanderungsgruppen dem Grunde nach, vertritt jedoch die Auffassung,
dass das Ziel des Bundes, die Integration der in Deutschland lebenden Zu-
wanderer zu verbessern und verstärkt zu fördern, mit dem von der Bundes-
regierung angesprochenen Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes nicht er-
reicht wird. Die Bundesregierung strebt vielmehr eine Sprachausbildung für
alle Zuwanderer auf niedrigem Niveau an, wobei die vorgesehenen Integra-
tionsangebote gerade für jugendliche Spätaussiedler im Vergleich zur bishe-
rigen Sprachförderung zu einer erheblichen Verschlechterung führen.

V. Die Bundesregierung sieht sich durch den 11. Kinder- und Jugendbericht in
ihrer Politik für Mädchen und Jungen und in ihrer Verantwortung für die
nachfolgende Generation weitgehend bestätigt. Sowohl hinsichtlich der Si-
cherung der materiellen Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen wie
bezüglich der Bildungs- und Ausbildungsvoraussetzungen und der Beteili-
gung junger Menschen an der politischen Gestaltung und Entwicklung des
Gemeinwesens unternimmt die Bundesregierung nach eigener Auffassung
die notwendigen Schritte. Einen wichtigen Beitrag zur Generationengerech-
tigkeit bildet nach Einschätzung der Bundesregierung auch die Anfang
2001 verabschiedete Rentenreform.
Der Deutsche Bundestag widerspricht dieser Aussage entschieden. Die
Bundesregierung hat angesichts von 4,3 Millionen Arbeitslosen das Gegen-
teil erreicht. Auch die Rentenreform 2001 ist kein gutes Beispiel für die
Verdienste der Bundesregierung. Einerseits kam sie entschieden zu spät und

Drucksache 14/9718 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

zum anderen benachteiligt sie einige Gruppen unangemessen, besonders
Frauen. Die Reform konzentriert sich einseitig auf erwerbstätige Frauen
und benachteiligt diejenigen, die sich wegen Kindererziehung oder zur
Pflege von Familienangehörigen nicht am Erwerbsleben beteiligen. Durch
die allgemeine Absenkung des Rentenniveaus und die Kürzung der Wit-
wenrente sowie die Anrechnung jeglichen Einkommens auf die Witwen-
rente werden Frauen mehrfach benachteiligt, sie sind die Hauptverlierer der
Rentenreform.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. individuelle Transferleistungen und eine bedarfsgerechte soziale Infrastruk-

tur leiten sich gleichermaßen ab aus dem verfassungsrechtlichen Auftrag zur
Stärkung der Erziehungsverantwortung. Neben einem bedarfsgerechten Aus-
bau der Betreuungsinfrastruktur sind die finanziellen Transferleistungen zu
einem Familiengeld auszubauen und den Verfassungsauftrag des Artikels 6
Grundgesetz zu achten.

2. Der einseitige Ausbau öffentlicher Erziehung zu Lasten von Angeboten für
individuelle Hilfe ist mit dem Schutzgedanken des Artikels 6 Grundgesetz
unvereinbar und verkehrt den Vorrang familiärer Erziehung vor öffentlicher
Erziehung ins Gegenteil. Eltern, die nicht erwerbstätig sind und sich aus-
schließlich der Erziehung der Kinder widmen, dürfen gegenüber Erwerbstä-
tigen finanziell nicht benachteiligt werden.

3. Kindererziehung ist zuallererst eine Angelegenheit der Eltern und liegt in
deren Hauptverantwortung. Im Sinne einer echten Wahlfreiheit ist – nicht
nur lebenslagenbezogen – die freie Entscheidung der Eltern zugunsten der
Kindererziehung ganz, teilweise oder zeitweise auf Erwerbsarbeit zu ver-
zichten, zu respektieren.

4. Ein altersübergreifender Ausbau der Kinderbetreuungsangebote ist dringend
notwendig. Die Bundesregierung wird aufgefordert, den notwendigen Aus-
bau öffentlicher Angebote der Kinderbetreuung durch eine Stärkung der
Finanzkraft von Ländern und Kommunen zu unterstützen und gleichrangig
den Familienleistungsausgleich und damit die Rahmenbedingungen familiä-
rer Erziehung nachhaltig zu verbessern. Die Bundesregierung wird aufgefor-
dert, konkrete Vorschläge für eine finanzielle Ausstattung der Gemeinden
und Länder durch den Bund vorzulegen.

5. Ein schlüssiges Konzept vorzulegen, wie der bedarfsgerechte Ausbau von
Ganztagsschulen erfolgen soll und nach welchem Schlüssel die Finanzmittel
verteilt werden.

6. Die Wirksamkeit, Leistungsfähigkeit und Nachhaltigkeit der jugendarbeits-
marktpolitischen Programme ist zu erhöhen. Die Bewertung der Programme
ist von der Arbeitsverwaltung unabhängigen Instituten zu übertragen. Die
Förderprogramme müssen vereinheitlicht, vereinfacht und zwischen ihnen
Transparenz hergestellt werden. Die Länder und Kommunen sind bei der
Planung und Umsetzung früh- und rechtzeitig zu beteiligen. Im Übrigen ist
bei der Finanzierung hinsichtlich der Kommunen auf eine ausgewogene Ver-
teilung zu achten.

7. Politik hat nicht nur die Aufgabe der jugendpolitischen Zielsetzung, sondern
hat auch für eine bedarfsgerechte finanzielle Ausstattung der Leistungs-
erbringer zu sorgen.

8. Die Ausweitung der Sprachförderung auf alle Zuwanderungsgruppen ist
dem Grunde nach zu begrüßen. Das Ziel des Bundes, die Integration der in
Deutschland lebenden Zuwanderer zu verbessern und verstärkt zu fördern,
wird jedoch mit dem von der Bundesregierung angesprochenen Entwurf

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/9718

eines Zuwanderungsgesetzes nicht erreicht. Eine Sprachausbildung für alle
Zuwanderer auf niedrigem Niveau ist unbedingt zu vermeiden. Die von der
Bundesregierung vorgesehenen Integrationsangebote gerade für jugendliche
Spätaussiedler führen jedoch im Vergleich zur bisherigen Sprachförderung
zu einer erheblichen Verschlechterung. Die Bundesregierung wird aufgefor-
dert, die nach dem Garantiefonds gewährte Sprachförderung und sozial-
pädagogische Betreuung der jugendlichen Spätaussiedler durch die Neu-
regelung der Integrationsförderung nicht zu verringern.

9. Die gesetzgeberischen Beiträge zur Generationengerechtigkeit sind ohne
jedwede Benachteiligung von Frauen zu erarbeiten.

Berlin, den 3. Juli 2002
Maria Eichhorn
Thomas Dörflinger
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Cajus Caesar
Wolfgang Dehnel
Renate Diemers
Anke Eymer (Lübeck)
Ingrid Fischbach
Walter Link (Diepholz)
Hans-Peter Repnik
Heinz Schemken
Marion Seib
Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Friedrich Merz, Michael Glos und Fraktion

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