BT-Drucksache 14/9668

Altern ganzheitlich in der Forschung betrachten

Vom 2. Juli 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/9668
14. Wahlperiode 02. 07. 2002

Antrag
der Abgeordneten Heinz Schmitt (Berg), Arne Fuhrmann, Klaus Barthel
(Starnberg), Hans-Werner Bertl, Willi Brase, Ulla Burchardt, Dr. Peter Eckardt,
Lothar Fischer (Homburg), Ulrich Kasparick, Siegrun Klemmer, Horst Kubatschka,
Ernst Küchler, Dietmar Nietan, Dr. Edelbert Richter, René Röspel, Dr. Ernst Dieter
Rossmann, Siegfried Scheffler, Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Dr. Angelika Schwall-
Düren, Bodo Seidenthal, Jörg Tauss, BrigitteWimmer (Karlsruhe), Dr. Peter Struck
und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Irmingard Schewe-Gerigk, Dr. Reinhard
Loske, Christian Simmert, Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Altern ganzheitlich in der Forschung betrachten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
In der Bundesrepublik Deutschland leben heute rund 82 Millionen Menschen,
davon sind 18,4 Millionen (22 %) 60 Jahre und älter. Knapp 100 Jahre zuvor,
im Jahre 1900, waren von seinerzeit 56,4 Millionen Menschen im Deutschen
Reich 4,4 Millionen (8 %) 60 Jahre und älter. 1950 entfielen von der Bevölke-
rung in beiden Teilen Deutschlands (69,3 Millionen) 10,1 Millionen Menschen
(15 %) auf die Älteren ab 60 Jahren.
Mit diesen Daten korrespondiert die deutliche Steigerung der durchschnitt-
lichen Lebenserwartung in den vergangenen Jahrzehnten: Ein um das Jahr 1900
geborenes Mädchen hatte seinerzeit eine durchschnittliche Lebenserwartung
von gut 48 Jahren, ein neugeborener Junge von 45 Jahren. Für ein heute neu-
geborenes Kind errechnet sich eine rund 30 Jahre höhere Lebenserwartung
(w: 80,5 bzw. m: 74,4 Jahre). Diese Entwicklung wird sich aller Voraussicht
nach fortsetzen, indem insbesondere die Anzahl der Hochbetagten in Zukunft
weiter erheblich anwächst.
Der Alterungsprozess des Menschen ist mit vielen Veränderungen biologischer,
psychosozialer und sozialer Art für das Individuum und seine unmittelbare und
weitere Umgebung verbunden. Je nach Art der Veränderungen können sie vom
Einzelnen oder seinem sozialen Kontext positiv oder negativ empfunden und
erlebt werden. Zum einen bieten die Entlastung aus beruflichen oder familiären
Verpflichtungen (Verrentung und Abschluss der Familienphase) mehr Freiraum
zur Wahrnehmung eigener Interessen, die vorher zurückgestellt werden muss-
ten oder gar nicht entwickelt werden konnten: stärkere Pflege sozialer Kon-
takte, intensivere und aktivere Pflege eigener Hobbies, sportlicher und/oder kul-
tureller Interessen, vermehrte Reiseaktivitäten und stärkere Nutzung unter-
schiedlicher Bildungsmöglichkeiten sowie die Wahrnehmung neuer sozialer

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Verpflichtungen wie z. B. ehrenamtliche Tätigkeiten. Zum anderen bedeutet
Altern aber auch allmähliches Fortschreiten körperlicher, kognitiver, psychoso-
zialer, sozialer und gesundheitlicher Einschränkungen. Tendenziell haben alle
diese Einschränkungen einen gesundheitlichen Aspekt für den Einzelnen und
sein soziales Umfeld.
Zusammenfassend läßt sich – insbesondere vor dem Hintergrund der Ergeb-
nisse der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel“ – feststellen, dass
die strukturelle Alterung der Gesellschaft eine der großen gesellschaftlichen
Herausforderungen der Zukunft ist. Sie ist verursacht durch steigende Lebens-
erwartung bei gleichzeitigem Rückgang der Geburtenzahlen und der Bevölke-
rungszahl auf der anderen Seite.

II. Der Deutsche Bundestag begrüßt,
dass die Bundesregierung auf diese Herausforderungen durch umfassende
und kohärente Programme zur Alterungsforschung bzw. Alternsforschung –
wie sie sich etwa aus dem 3. und 4. Altenbericht ergeben (Bundestagsdruck-
sachen 14/5130 und 14/8822) – bereits frühzeitig reagiert hat. Dabei hat sich
die Bundesregierung an dem Leitgedanken orientiert, dass das außerordentlich
komplexe Phänomen des Alterns in der gesamten biologischen, medizinischen
und sozialen Breite der Fragen bearbeitet werden muss. Unter den von der Bun-
desregierung geförderten Programmen, die sowohl die Grundlagenforschung
als auch die anwendungsorientierte Forschung betreffen, sind folgende Bei-
spiele hervorzuheben:
l Das Gesundheitsforschungsprogramm beinhaltet wesentliche Ansatzpunkte,

die auf verbesserte diagnostische und therapeutische Methoden abzielen, um
Krankheitslasten im Alter zu vermindern oder neue Heilungschancen zu er-
öffnen. Die Forschungsförderung zur Krankheitsbekämpfung ist in wesent-
lichen Bereichen auf chronische Erkrankungen ausgerichtet, von denen
überwiegend ältere Menschen betroffen sind. Die Schwerpunkte sind je nach
den Forschungsgebieten und den ausgewiesenen Zielsetzungen interdiszipli-
när angelegt und beziehen neben medizinischen und naturwissenschaftlichen
Disziplinen auch sozial- und verhaltenswissenschaftliche Fächer sowie epi-
demiologische und gesundheitsökonomische Erkenntnisse ein.

l Die von der Bundesregierung geförderte systematische Weiterentwicklung
der Humangenomforschung im Nationalen Genomforschungsnetz, die mit
der derzeitigen Schwerpunktsetzung auf eine funktionelle Untersuchung der
bekannten Gene ausgerichtet ist, eröffnet Perspektiven auch für eine mole-
kulare Alternsforschung. Die weitere Aufklärung der Grundlagen zellulärer
Prozesse wird voraussichtlich Ansätze für eine kausale Beschreibung von
Alterungsprozessen ermöglichen.

l Die von der Bundesregierung geförderten Kompetenznetze in der Medizin
zielen in bestimmten Krankheitsbereichen auf einen verbesserten und be-
schleunigten Transfer von der Forschung in die Versorgung. Dafür sind in
den jeweiligen krankheitsbezogenen Netzen Kompetenzen der Grundlagen-,
der klinischen und der Versorgungsforschung mit einschlägigen Versor-
gungseinrichtungen verbunden. Bei den Kompetenznetzen sind unter dem
Gesichtspunkt der älteren Bevölkerung insbesondere die bestehenden Netze
zu malignen Lymphomen, zu Parkinson, zu Depression und Suizidalität, zu
Schlaganfall, zu chronischen Darmerkrankungen und zu entzündlich-rheu-
matischen Krankheiten zu nennen; bei den neu geförderten Netzen, die 2002
die Arbeit begonnen haben, ist insbesondere das Kompetenznetz Demenzen
hervorzuheben.

l Wesentliche Anteile des Gesundheitsforschungsprogrammes sind auf neue
Erkenntnisse in der klinischen Forschung, d. h. auf Verbesserungen in
Diagnose, Therapie und Prävention gerichtet. Hierzu gehören insbesondere

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/9668

die Suchtforschung, die Schmerzforschung (seit dem Jahre 2002 werden
die Themen „Rückenschmerz“, „Kopfschmerz“ sowie „Neuropathischer
Schmerz“ mit spezifischen Programmen gefördert) und die Ernährungs-
forschung. In dem Förderprogramm „Netzwerke der molekularen Ernäh-
rungsforschung“ steht die Prävention von Erkrankungen wie Bluthochdruck,
Diabetes und bestimmter Krebsarten (z. B. Darmkrebs) durch eine Optimie-
rung des Ernährungsverhaltens im Vordergrund. Ein neuer Förderschwer-
punkt zu Brustkrebs wird in Kürze ausgeschrieben.

l Einen hohen Stellenwert im Rahmen des Gesundheitsforschungsprogramms
der Bundesregierung nimmt der Schwerpunkt Versorgungsforschung ein,
den die Bundesregierung gemeinsam mit den Spitzenverbänden der Gesetz-
lichen Krankenkassen im Jahr 1999 eingerichtet hat. Im Rahmen dieser
Förderung werden u. a. auch explizit Fragen der Versorgung in der älteren
Bevölkerung thematisiert und konkret untersucht. Hervorzuheben ist auch
der Schwerpunkt Rehabilitationsforschung, den die Bundesregierung ge-
meinsam mit den Trägern der Rentenversicherung fördert.

l Die Bundesregierung hat im Regierungsprogramm Gesundheitsforschung
den Auf- und Ausbau der Public Health-Forschung betrieben. Im Rahmen
dieses Schwerpunkts wurden bevölkerungsbezogene Fragen zur Bewahrung
und Wiederherstellung von Gesundheit, aber auch einzelne Bereiche der Ge-
sundheitssystemforschung und Gesundheitsökonomie in der gesamten Be-
völkerung oder in besonderen Bevölkerungsgruppen bearbeitet. Überdies
wurden Aufbaustudiengänge gefördert.

l Der Förderschwerpunkt Pflegeforschung legt einen wesentlichen Akzent
darauf, dass Pflege heute darauf ausgerichtet sein sollte, die Autonomie und
andere psychosoziale Ansprüche des Pflegebedürftigen soweit wie möglich
zu erhalten und zu fördern.

l Bei der Formulierung des kürzlich beschlossenen 6. Forschungsrahmenpro-
gramms der Europäischen Union hat sich die Bundesregierung mit ihrem
Anliegen durchgesetzt, der Erforschung menschlichen Alterns besonderes
Gewicht beizumessen.

Über die an Fragen der Gesundheit orientierte Forschung hinaus hat die Bun-
desregierung eine Vielzahl von Forschungsprojekten und Modellvorhaben
durchgeführt und ausgewertet, die auf eine Verbesserung der Lebensqualität im
Alter abzielen. Dabei geht es im Wesentlichen um Erkenntnisgewinnung für
den Erhalt, die Verbesserung und ggf. Wiedergewinnung einer selbständigen
Lebensführung im Alter, z. B. durch Entwicklung geeigneter Interventionsmaß-
nahmen in Krisensituationen. Themenschwerpunkte in diesem Zusammenhang
sind insbesondere:
l Selbständigkeit, Selbstbestimmung, Möglichkeit der Aufrechterhaltung von

Kompetenzen;
l Gesellschaftliche Partizipation, nachberufliche Tätigkeitsfelder, Miteinander

der Generationen;
l Lebenslagen älterer Menschen;
l Ausbildung in der Altenpflege, Altenpflegestrukturen;
l Alternsfreundliche Umwelt;
l Strukturen der Altenhilfe.
Forschungsarbeiten zu den einzelnen Themenschwerpunkten werden sowohl
durch spezifische Forschungsaufträge der verschiedenen Bundesressorts als
auch im Rahmen der institutionellen Förderung, etwa des Deutschen Zentrums
für Altersfragen (DZA) in Berlin oder des Deutschen Zentrums für Alterns-
forschung (DZfA) in Heidelberg, geleistet.

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III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
im Rahmen der finanzpolitischen Leitlinien die Alters- und Alternsforschung
hinsichtlich nachfolgender Aspekte weiter zu stärken:
1. In der Alters- und Alternsforschung ist angesichts der Zunahme des Anteils

älterer Menschen in unserer Gesellschaft den sozialen Aspekten ein stärke-
res Gewicht einzuräumen.

2. Die Faktoren für individuell unterschiedliches Alter und Altern sollen stär-
ker erforscht werden. Dazu gehören die Auswirkungen unterschiedlicher
Berufs- und Erwerbsverläufe oder auch unterschiedlicher Lebensstile (z. B.
körperliche Aktivität, ausgewogene Ernährung, geistige Aktivitäten) auf die
Lebenserwartung und die Gesundheit im Alter.

3. Die Untersuchung der Lebenserwartung in unterschiedlichen sozialen
Schichten und in unterschiedlichen Gesellschaftsformen ist zu verstärken.
Dazu gehört unter anderem auch ein Kulturvergleich auf europäischer
Ebene.

4. Die Forschung für ein „aktives Altern“ bei steigender Lebenserwartung
sollte verstärkt werden. Es sollten Bildungsangebote für Ältere und Ange-
bote für nachberufliche Tätigkeiten entwickelt werden – gerade auch in Hin-
blick auf die Nutzung neuer Technologien. Im Erwerbsleben können Alters-
teilzeitmodelle mit flexiblen Arbeitszeiten unter Berücksichtigung neuer
Erkenntnisse verbessert werden. In diesem Zusammenhang sollte auch
untersucht werden, wie das Leistungs- und Innovationspotenzial älterer
Menschen besser genutzt und gefördert werden kann.

5. Die Prävention, auch mit dem Ziel einer möglichst langen Erhaltung einer
selbständigen Lebensführung („langes Leben in Selbständigkeit!“), sollte
verstärkt erforscht werden. Hierbei ist ein besonderes Gewicht auf die Eva-
luierung der Qualität und Effektivität präventiver Maßnahmen und Interven-
tionskonzepte zu legen.

6. Es sollten verstärkt Modelle entwickelt werden, um das Erfahrungswissen,
die soziale Kompetenz und das Engagement älterer Menschen im Verhältnis
der Generationen zueinander zu nutzen.

7. Insgesamt sollte die Versorgungsforschung sowie die Entwicklung und
Umsetzung von Leitlinien für chronische Erkrankungen (von denen ältere
Menschen besonders häufig betroffen sind) vorangetrieben werden, um Ver-
sorgungsqualität und Wirtschaftlichkeit zu stärken. Hierzu gehört auch die
Analyse von Rahmenbedingungen zur Intensivierung des Transfers vorhan-
dener wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Versorgungspraxis.

8. Es sollte untersucht werden, inwieweit und durch welche Maßnahmen die
Versorgungssituation sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen unter Be-
rücksichtigung ihrer besonderen Bedürfnisse (z.B. bei älteren ausländischen
Mitbürgern, bezüglich behinderter Menschen) verbessert werden kann.

9. Es sollten besondere Konzepte hinsichtlich der Hochaltrigkeit (über 85 Le-
bensjahre) entwickelt und stärker auf die daraus entstehenden besonderen
Anforderungen eingegangen werden. Als Grundlage dafür können die Er-
gebnisse und Vorschläge für zukünftige Forschungsaktivitäten des 4. Alten-
berichts herangezogen werden.

Berlin, den 2. Juli 2002
Dr. Peter Struck und Fraktion
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und Fraktion

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