BT-Drucksache 14/9624

1) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung -14/8181- Bericht über die Lebenssitutation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland - Elfter Kinder- und Jugendbericht - mit der Stellungnahme der Bundesregierung 2) zu dem EA der Abg. Haupt, Dr. Schwaetzer, Albowitz, weiterer Abg. und der Fraktion der FDP -14/8383- zu der Unterrichtung durch die BReg -14/8181- Bericht über....

Vom 27. Juni 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/9624
14. Wahlperiode 27. 06. 2002

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss)

1) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
– Drucksache 14/8181 –

Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland
– Elfter Kinder- und Jugendbericht –
mit der
Stellungnahme der Bundesregierung

2) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Klaus Haupt, Dr. Irmgard
Schwaetzer, Ina Albowitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
– Drucksache 14/8383 –
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
– Drucksache 14/8181 –

Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland
– Elfter Kinder- und Jugendbericht –
mit der
Stellungnahme der Bundesregierung

A. Problem
1. Der elfte Kinder- und Jugendbericht befasst sich mit der Lebenssituation

junger Menschen und den Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in
Deutschland. Generell werden die Bedingungen für das Aufwachsen in die-
ser Gesellschaft als nicht nur familiäre Aufgabe, sondern als Bestandteil der
öffentlichen Verantwortung gewertet. Im ersten Teil des Berichts werden die
Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe untersucht und Vorschläge für ihre
Modernisierung gemacht. Im zweiten Teil analysiert die Kommission die
Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen, wobei unter anderem Bildung,
Arbeit, Migration und Partizipation näher beleuchtet werden. Im dritten Teil
wird die Jugendpolitik als Lebenslagenpolitik betrachtet, und die Kommis-

Drucksache 14/9624 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

sion spricht Empfehlungen für die Kinder- und Jugendhilfe im 21. Jahrhun-
dert aus: u. a. das Recht der Jugend auf Teilhabe an den gesellschaftlichen
Ressourcen, Ausbildungs- und Beschäftigungsgarantie, Ganztagsangebote
für Bildung und Betreuung. Die Stellungnahme der Bundesregierung wertet
den Bericht als wichtiges Instrument, das nicht nur einzelne Handlungs-
empfehlungen benennt, sondern auch einen Maßstab für die Bewertung und
Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendpolitik auf allen Ebenen liefert.
Sie stimmt der Kommission bei der Forderung nach öffentlicher Verantwor-
tung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zu und sieht sich in
ihrer Politik weitgehend bestätigt.

2. Die Antragsteller stimmen den Feststellungen und Schlussfolgerungen der
Kommission zu. Insbesondere ein Paradigmenwechsel in der Kinder- und
Jugendpolitik sei zu befürworten. Im Blickpunkt der Kinder- und Jugend-
politik sollte nicht länger vorwiegend der Staat stehen, der durch sozialpoli-
tische Maßnahmen auf die Familien einwirken wolle, sondern die Kinder
und Jugendlichen selbst. Kinder- und Jugendpolitik müsse Querschnittpoli-
tik sein.

B. Lösung
1) Einstimmige Kenntnisnahme der Unterrichtung durch die Bundesre-

gierung auf Drucksache 14/8181 und Annahme einer Entschließung mit
den Stimmen der Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
PDS gegen die Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP

2) Ablehnung des Entschließungsantrags auf Drucksache 14/8383 mit den
Stimmen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen
die Stimmen der Fraktionen der FDP und PDS bei Stimmenthaltung
der Fraktion der CDU/CSU

C. Alternativen
Keine

D. Kosten
Eine Kostenabschätzung wurde nicht vorgenommen.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/9624

Beschlussempfehlung

Der Bundestag wolle beschließen,
1. in Kenntnis der Unterrichtung – Drucksache 14/8181 – folgende Entschlie-

ßung anzunehmen:
Dem 11. Kinder- und Jugendbericht kommt eine spezifische Bedeutung zu:
Er ist der erste Gesamtbericht über die Lebenssituation junger Menschen
und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe seit der Wiedervereinigung
Deutschlands und seit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegeset-
zes. Die als Sachverständigenberichte konzipierten Kinder- und Jugendbe-
richte stellen ein wichtiges Mittel zur Beurteilung der Lage der aufwachsen-
den Generation dar. Sie sind eine geeignete Grundlage, um die Politik für
junge Menschen in den zurückliegenden Jahren einzuschätzen und Konzepte
für die Zukunft zu entwickeln.
Der als Gesamtbericht konzipierte 11. Kinder- und Jugendbericht liefert
dazu fundierte Analysen. Er beschränkt sich nicht auf die Benennung einzel-
ner Handlungserfordernisse, sondern weist angesichts der sich schnell ver-
ändernden gesellschaftlichen und technologischen Rahmenbedingungen auf
die Notwendigkeit grundlegender Perspektivwechsel in der zukünftigen
Kinder- und Jugendpolitik hin und begründet, warum diese als Querschnitts-
aufgabe zu verstehen ist, zu der alle Politikfelder ihren Beitrag zu leisten
haben.
Der Deutsche Bundestag teilt die Auffassung, die die Bundesregierung in ih-
rer Stellungnahme zu dem Bericht zum Ausdruck bringt: Der 11. Kinder-
und Jugendbericht ist ein wichtiger Beitrag zur Weiterentwicklung der Kin-
der- und Jugendpolitik. Der Deutsche Bundestag schließt sich dem Dank an
die Expertinnen und Experten für ihre fundierte Arbeit und die wertvollen
Anregungen an.
A) Die Kinder- und Jugendpolitik in der laufenden Legislaturperiode

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Wesentliche Verbesserungen in der Kinder-, Jugend- und Familienpolitik
sowie Paradigmenwechsel von grundsätzlicher Bedeutung wurden in der
laufenden Legislaturperiode auf den Weg gebracht. Dazu gehört, Kinder
mit eigenen Rechten auszustatten, wie mit dem Recht auf gewaltfreie Er-
ziehung. So werden Kinder vom zu schützenden Objekt zum respektier-
ten Subjekt. Dieser Paradigmenwechsel findet seine Fortsetzung im Ge-
waltschutzgesetz: Nicht mehr das Opfer häuslicher Gewalt muss in einen
außerhäuslichen Schutzraum flüchten, sondern der Täter wird des Plat-
zes verwiesen.
Diese veränderte Sichtweise, die Menschen jeden Alters ernst nimmt und
in die sie betreffenden Entscheidungen einbezieht, findet ihren Ausdruck
auch in vielfältigen Initiativen zur Partizipation. Gesellschaftliche Teil-
habe bildet die Grundlage zur Integration unterschiedlicher Lebensent-
würfe, verschiedener Ethnien, Nationalitäten und Religionen, und des in-
neren Friedens. In Zeiten zunehmender Mobilität und Migration stellt
kulturelle Vielfalt nicht nur eine unausweichliche Folge, sondern eine
Herausforderung an Toleranz, demokratischer Grundhaltung und ent-
sprechenden Konfliktlösungsfähigkeiten dar. Ziel der Politik muss es
sein, über die Angebote und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe
und der Schule die nachfolgenden Generationen hierzu schon in jungen
Jahren zu befähigen. Zwei wichtige Aspekte sind die Unterstützung Ju-

Drucksache 14/9624 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

gendlicher, die sich gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus wenden,
und die Anstrengungen, Jugendliche, die in Gefahr sind, rechtsextreme
Einstellungen oder Verhaltensweisen zu entwickeln, in den demokrati-
schen Konsens zurückzuholen. Die Bundesregierung hat mit dem Ak-
tionsprogramm „Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechts-
extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ ein entspre-
chendes Zeichen gesetzt.
Für viele junge Erwachsene stellt erst die materielle Selbstständigkeit
eine Voraussetzung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen
Lebensführung und die Möglichkeit zur Gründung einer eigenen Familie
dar. Die Chancen zur Teilhabe am Arbeitsleben und damit die Vorausset-
zung zu selbst erwirtschaftetem Einkommen wurden mit dem Programm
zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit für über 406 000 Jugend-
liche und junge Erwachsene verbessert. Mit den Programmen „Entwick-
lung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“ (E & C)
und „Soziale Stadt“ wird individuellen, sozialen und regionalen Benach-
teiligungen entgegengewirkt.
Eine zukunftsfähige Gesellschaft braucht Kinder. Sie muss Familien als
zentralen Ort des Aufwachsens unterstützen. Die materiellen Leistungen
für Familien wurden in dieser Legislaturperiode um rund 12 Milliarden
Euro angehoben. Damit wurde eine wesentliche Konsequenz aus den
Defiziten gezogen, die der 10. Kinder- und Jugendbericht im Jahr 1998
aufgezeigt hat. Zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf wur-
den mit den Regelungen zur Elternzeit und mit dem Teilzeitanspruch we-
sentliche Rahmenbedingungen geschaffen.
Mit dem Jugendpolitischen Programm „Chancen im Wandel“ wurde zum
ersten Mal ein umfassendes, ressortübergreifendes Programm vorgelegt,
dass denQuerschnittscharakter der Jugendpolitik ebenso hervorhebtwie die
Bedeutung jugendorientierter Ansätze in den einzelnen Politikbereichen.
Der 11. Kinder- und Jugendbericht anerkennt diese Erfolge der Regie-
rungspolitik und baut darauf weitere zukunftsgerichtete Perspektiven auf.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. individuellen, sozialen und regionalen Benachteiligungen von Ju-

gendlichen entgegenzuwirken und die Programme „Entwicklung und
Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“ (E & C),
„Soziale Stadt“ und das „Freiwillige Soziale Trainingsjahr“ (FSTJ),
die sehr vielversprechend laufen, zu evaluieren und die erfolgreichen
Ansätze zu verstetigen.

2. Zur Stärkung der Demokratie und der Zivilgesellschaft das Aktions-
programms „Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsext-
remismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ fortzuführen
und erfolgreiche Ansätze zu verstetigen.

3. Den internationalen Jugendaustausch als wesentlichen Bestandteil der
Jugendarbeit weiterzuentwickeln, da diese Begegnungen wesentlich
zur internationalen Verständigung und zur nötigen interkulturellen
Kompetenz beitragen.

B) Das Kinder- und Jugendhilfegesetz als zentrale gesetzliche Grundlage
Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Als Grundlage dieser an den Interessen der Kinder und Jugendlichen und
ihrer Familien ausgerichteten Politik hat sich das Kinder- und Jugendhil-
fegesetz (SGB VIII) bewährt. Es ermöglicht und unterstützt als zeitge-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/9624

mäßes Leistungsgesetz die Anpassung der Aufgabenwahrnehmung an
sich ändernde gesellschaftliche Rahmenbedingungen und stellt zukunfts-
orientierte Angebote bereit. Es enthält bereits die Verpflichtung zur Be-
reitstellung geschlechtergerechter Angebote. Mit seinem deutlich ausge-
prägten Partizipationsansatz baut es auf demokratischen Strukturen auf.
Es stellt die mündigen Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt, stat-
tet sie mit Rechtsansprüchen, Wahlmöglichkeiten und Mitgestaltungsop-
tionen aus und setzt damit Maßstäbe.
Solche zukunftsorientierten Partizipationspotenziale, wie sie im Kinder-
und Jugendhilfegesetz beispielgebend enthalten sind, können in allen
Politikfeldern und auf allen Ebenen der Politik zukünftig noch stärker
genutzt werden.
Gerade wegen dieser sowohl im Grundsätzlichen wie auch in der Hilfe
für den Einzelnen ausgeprägten demokratischen Struktur stellte das im
Jahr 1990 verabschiedete Kinder- und Jugendhilfegesetz eine nicht für
diesen Zweck vorplanbare, gleichwohl aber ausgezeichnete Basis für die
Kinder- und Jugendhilfe nach der Wiedervereinigung Deutschlands dar.
Auf dieser gesetzlichen Grundlage kann Kinder- und Jugendhilfe mit ih-
rer spezifischen Struktur freier und öffentlicher Träger und einem ausge-
prägten Präventionsansatz in allen Teilen Deutschlands etabliert werden.
Der Deutsche Bundestag dankt allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
in der Kinder- und Jugendhilfe der neuen wie der alten Bundesländer, die
in diesem Prozess der Zusammenführung mitgewirkt haben, demokrati-
sche Grundlagen für die aufwachsende Generation herzustellen und wei-
terzuentwickeln.
Wiederholt gab es in den vergangenen Jahren Vorstöße einzelner Bundes-
länder zur Änderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, wie zuletzt
durch Bayern und Saarland mit ihrem gescheiterten Bundesratsantrag
(Bundesratsdrucksache 146/02). Diese Initiativen zielten zum einen auf
die Aufhebung spezifischer Organisationsbestimmungen zum anderen
auf die Reduzierung von Leistungen. Hierzu ist festzustellen, dass sich die
Jugendhilfe mit der Aufgabenteilung zwischen öffentlichen und freien
Trägern, ihrer Zusammenarbeit im Jugendhilfeausschuss, der Zuordnung
der Gesamtverantwortung beim Jugendamt und den spezifischen Aufga-
ben der Landesjugendämter grundsätzlich bewährt hat. Der 11. Kinder-
und Jugendbericht bestätigt, dass die Leistungsfähigkeit der Kinder- und
Jugendhilfe auf diesen gesetzlich normierten Strukturen beruht. Den
Kommunen bleiben ausreichende Spielräume für die ihren jeweiligen Er-
fordernissen entsprechende organisatorische Ausgestaltung. Um die kon-
zentrierte Vertretung der Interessen junger Menschen und eine koordi-
nierte Aufgabenwahrnehmung zu gewährleisten, wird der Gesetzgeber
auf die Beibehaltung der Gesamtverantwortung beim kommunalen Ju-
gendamt nicht verzichten. Es wird zukünftig verstärkt darauf ankommen,
die beispielgebenden demokratischen Potenziale des Kinder- und Jugend-
hilfegesetzes gerade im Hinblick auf Beteiligung und Teilhabe junger
Menschen auch in den über die Kinder- und Jugendhilfe hinausreichenden
(kommunal-)politischen Handlungsfeldern umfassend auszuschöpfen
und als Querschnittsaufgabe aktiv einzufordern und zu verankern.
Das „Kindeswohl“ muss der oberste Maßstab jeder Kinder- und Jugend-
politik sein. Es bedarf einer zusätzlichen rechtlichen Prägung. Der For-
derung der Berichtskommission, Artikel 6 GG um ein „Recht des Kin-
des“ zu ergänzen, ist insofern zuzustimmen. So würde neben dem Eltern-
recht und dem Wächteramt des Staates eine eigenständige verfassungs-
rechtliche Rechtsstellung von Kindern und Jugendlichen begründet, die
insbesondere der Auslegung des einfachen Rechts dienen sowie für die

Drucksache 14/9624 – 6 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Anwendung des Verwaltungsermessens handlungsleitend sein würde.
Die Bundesrepublik Deutschland würde hiermit die von ihr in der
UN-Kinderkonvention und in der Europäischen Grundrechtecharta (Ar-
tikel 24) übernommenen Verpflichtungen in einer eindrücklichen Weise
erfüllen. Das in einigen Länderverfassungen bereits verankerte „Recht
des Kindes“ bestände endlich auch bundesweit. Der Deutsche Bundes-
tag wird sich mit dieser Frage erneut beschäftigen.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. Die fachliche Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe auf

Grundlage der im 11. Kinder- und Jugendbericht benannten Elemente,
Beteiligung, Planung, Evaluation und Wettbewerb anzuregen und zu
erproben. Ein besonderer Schwerpunkt soll dabei auf die Wirkung der
Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie auf wirkungsorien-
tierte Rahmenbedingungen gelegt werden.

2. Bei der Beseitigung von Umsetzungsdefiziten des KJHG, wie sie der
11. Kinder- und Jugendbericht feststellt, die Länder und Kommunen
durch Modellprogramme und andere geeignete Mittel anzuregen und
zu unterstützen.

3. Auch weiterhin dafür einzutreten, dass die Leistungsfähigkeit der
Kinder- und Jugendhilfe auf der Grundlage der Struktur- und Organi-
sationsbestimmungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes gewähr-
leistet bleibt.

C) Grundlagen und Ziele zukünftiger Kinder- und Jugendpolitik
Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Der 11. Kinder- und Jugendbericht betont mit seinem Leitmotiv „Auf-
wachsen in öffentlicher Verantwortung“ die zunehmende Bedeutung der
Rahmenbedingungen und der sozialen Infrastruktur, damit das Aufwach-
sen unter den sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen und bei
dem die beruflichen und die privaten Lebensbereiche verändernden tech-
nologischen Fortschritt erfolgreich gelingen kann. Dies bedeutet nicht
die Ersetzung, sondern eine Stärkung der Elternkompetenz.
Dazu ist, wie die Sachverständigenkommission zutreffend feststellt, ein
Perspektivwechsel notwendig: Nachdem eine materielle Besserstellung
der Familien in der laufenden Legislaturperiode erreicht werden konnte,
wird zukünftig ein weiterer Schwerpunkt auf demAusbau der sozialen In-
frastruktur liegen müssen. Aber auch bei einer deutlichen Verbesserung
der sozialen Infrastruktur bleibt es weiterhin notwendig, Familien in un-
teren Einkommensbereichen gezielt materiell zu unterstützen, um Chan-
cengleichheit für Kinder in ihren sozioökonomischen Lebenslagen herzu-
stellen.
Eine ausgebaute soziale Infrastruktur stellt auch einen Beitrag zur Gene-
rationengerechtigkeit, zu dem von der Kommission geforderten neuen
Generationenvertrag, dar: Wir sind es unseren Kindern schuldig, sie mit
den Fähigkeiten und mit der Bildung auszustatten, die für ein selbstbe-
stimmtes, chancengleiches und befriedigendes Leben in dem soeben be-
gonnen neuen Jahrhundert erforderlich sind.
Wie PISA und das Forum Bildung zeigen, bedarf das deutsche Bildungs-
system tief greifender Reformen. Schon vor PISA misst der 11. Kinder-
und Jugendbericht dem Thema Bildung einen hohen Stellenwert zu. Je
mehr Europa zusammenwächst, desto unmittelbarer müssen in Deutsch-
land aufwachsende junge Menschen mit anderen Europäerinnen und Eu-
ropäern Schritt halten können.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 7 – Drucksache 14/9624

Grundlage ist ein umfassendes Bildungsverständnis, das über in der
Schule vermitteltes Wissen hinausreicht und informelle und außerschuli-
sche Bildungsbestandteile gleichwertig einschließt. Kinder- und Jugend-
hilfe leistet mit ihren vorschulischen, kulturellen, politischen, techni-
schen und sportlichen Angeboten einen unverzichtbaren Beitrag zur Bil-
dung. In den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe werden durch
Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten wichtige Werthal-
tungen vermittelt sowie Selbstbewusstsein, Kreativität und Eigeninitia-
tive gefördert. Jugendhilfe bildet Persönlichkeit. Ziel muss sein, diese
Potenziale deutlicher als bisher zur Geltung zu bringen und optimal zu
nutzen. Schulische und außerschulische Bildung sind besser miteinander
zu verknüpfen, sie müssen sich einem gemeinsamen Ziel, einer Kultur
des Aufwachsens, verpflichtet fühlen. Dazu muss auch in den traditio-
nellen Bildungsinstitutionen ein entsprechendes Bewusstsein gefördert
werden. Wesentlich ist, beim Zugang zu Bildung und in Bildungsprozes-
sen gleiche Chancen für Alle zu gewährleisten, sowohl Schwache als
auch Starke zu fördern. Dies ist von allen Institutionen, die am Aufwach-
sen – an Sozialisation, Erziehung und Bildung – mitwirken, einzufor-
dern. Kinder- und Jugendpolitik muss dabei die Interessen junger Men-
schen übergreifend und zukunftsorientiert vertreten: sie ist insofern auch
Bildungspolitik. Zur schulischen und außerschulischen Bildung gehört
auch das Heranführen an die Arbeitswelt. Die umfangreichen Möglich-
keiten der Orientierung, Information und Bildung im Rahmen von be-
trieblichen Praktika sind zu nutzen.
Demokratisches Bewusstsein für die Gesellschaft von morgen wird be-
reits im Kindheitsalter geprägt. Die Kinder- und Jugendhilfe liefert un-
verzichtbare Beiträge zur Erhaltung und Weiterentwicklung eines leben-
digen demokratischen Gemeinwesens. Die Zivilgesellschaft erfordert
Medienkompetenz und die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen. Demo-
kratie braucht politische Bildung und braucht in zunehmendem Maße in-
ternationale Bezüge, wie sie beispielsweise durch internationale Begeg-
nungen und durch die Vermittlung kultureller Vielfalt in den Einrichtun-
gen der Kinder- und Jugendhilfe hergestellt werden. In Zeiten zuneh-
mender Migration wächst die Bedeutung der so vermittelten
Werthaltungen und Fähigkeiten. Demokratie braucht nicht zuletzt mehr
Mitsprache, Teilhabe und Eigenverantwortung der Kinder und Jugend-
lichen, insbesondere in ihren alltäglichen Lebensbereichen wie Familie,
Kindergarten, Freizeitstätte und Sportverein, Schule und Ausbildung.
Der Beitrag Kinder und Jugendlicher zur Gestaltung des Gemeinwesens,
sei es in repräsentativer, offener oder projektorientierter Form, sollte zum
selbstverständlichen Element politischer Planung werden. Mit der „Bun-
desinitiative Beteiligungsbewegung“ ist hierzu ein Anstoß gegeben wor-
den. Die Jugendverbände werden als Ort praktischer Partizipation wie
als Interessenvertretung weiterhin eine gewichtige Rolle spielen. Bei der
Einbeziehung möglichst vieler Kinder und Jugendlicher kommt es auch
auf die Nutzung neuer medialer Möglichkeiten an, wie dies z. B. mit
dem Projekt „akiju“ der Bundesregierung erprobt wurde.
Von entscheidender Bedeutung ist weiterhin die Vereinbarkeit von Fami-
lie und Beruf. Kinder und Jugendliche profitieren davon, wenn ihre El-
tern sowohl erwerbstätig sein wie auch Erziehungsaufgaben wahrneh-
men können. Zudem gehört die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und
Familie heute zu den selbstverständlichen Lebenszielen junger Men-
schen. Daher muss auch die Wirtschaft ein Interesse an diesem Ziel ha-
ben: sie ist zur Beteiligung aufgefordert. Unsere Gesellschaft kann nur
dann den Anspruch der Kinderfreundlichkeit erheben, wenn sie sowohl
fördernde Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern bereitstellt als

Drucksache 14/9624 – 8 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

auch Frauen und Männern die Entscheidung für eigene Kinder ohne gra-
vierende Benachteiligungen ermöglicht.

D) Soziale Infrastruktur als Schlüssel zur Zukunftsfähigkeit
Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Nur durch die Bereitstellung einer geeigneten flächendeckenden sozialen
Infrastruktur sind diese Aufgaben für die Zukunft unserer Kinder unab-
hängig von ihrer jeweiligen sozialen und regionalen Herkunft zu lösen.
Dabei geht es in erster Linie um ein bedarfsgerechtes und qualitativ
hochwertiges Tagesbetreuungsangebot in allen Regionen Deutschlands.
Aber auch andere Angebote zur Stärkung der elterlichen Erziehungs-
kompetenz wie Erziehungs- und Familienberatungsstellen und die Fami-
lienbildung sind unverzichtbar. Schließlich stellt die Erziehung in der Fa-
milie auch weiterhin die Basis dar, auf der institutionelle Angebote ihre
Wirkung entfalten. Auch die vielfältigen präventiven Angebote der Kin-
der- und Jugendhilfe dürfen mit ihren Potenzialen zur Vermittlung von
Werthaltungen und informeller Bildung in ihrer Bedeutung für das Auf-
wachsen der nachfolgenden Generation nicht vernachlässigt werden.
Wie auch der 11. Kinder- und Jugendbericht an mehreren Stellen deut-
lich ausführt, ist ein bedarfsgerechtes Angebot zur Kindertagesbetreuung
aus unterschiedlichen Gründen notwendig:
1. Im Kleinkind- und Vorschulalter erwerben Kinder in der Gruppe mit

anderen Kindern auf spielerische Weise kognitive, emotionale und so-
ziale Kompetenzen. Von ganz besonderer Bedeutung ist dies bei dem
zunehmenden Anteil von Einzelkindern. Gemeinschaftsfähigkeit,
Teamgeist, Motivation und andere informelle Bildungsbestandteile
sind sowohl für schulisches Lernen als auch für die Arbeitswelt we-
sentliche Voraussetzungen.

2. Kinder erlernen im vorschulischen Alter aufgrund natürlicher Neugier
und der Anregungen der Erzieherinnen Sprachkultur, logische Denk-
fähigkeit und die Voraussetzungen der Lesekompetenz. Erst auf die-
sen Grundlagen können Bildung und die Verarbeitung schulischen
Wissens aufbauen.

3. Durch die Tagesbetreuung können soziale und intellektuelle Benach-
teiligungen einzelner Kinder kompensiert werden. Bei ausreichender
Personalausstattung können Kinder individuell gefördert werden. Ta-
gesbetreuung ist ein wichtiges Instrument zur Herstellung von Chan-
cengleichheit.

4. Tagesbetreuung trägt zur Geschlechtergerechtigkeit bei, indem Be-
nachteiligungen ausgeglichen, geschlechterbezogene Förderangebote
bereitgestellt und frühzeitig Werthaltungen zur Gleichwertigkeit der
Geschlechter vermittelt werden.

5. Die Tagesbetreuung dient der Integration. Dies gilt in besonderem
Maße für Kinder aus Migrantenfamilien, die oft erst hier die deutsche
Sprache erlernen, und für Kinder mit Behinderungen. Dadurch erfah-
ren alle Kinder die Bedeutung von Toleranz für das Zusammenleben.

6. Durch die gemeinsame Betreuung von deutschen und ausländischen
Kindern werden Wissen und Erfahrung im Umgang mit anderen Kul-
turen und Religionen sowie interkulturelle Handlungskompetenz er-
worben. Dies stellt eine wesentliche Grundlage für das friedliche Zu-
sammenleben und die Prävention gegen Fremdenhass dar.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 9 – Drucksache 14/9624

7. Tagesbetreuungseinrichtungen sind niedrigschwellige Orte. Dadurch
können Eltern erreicht werden, die sonst durch Hilfs-, Unterstüt-
zungs- und Beratungsangebote kaum erreichbar sind. Dies dient der
Förderung der Erziehung in der Familie und dem Schutz von Kin-
dern.

8. Ein ausreichendes und zuverlässiges Tagesbetreuungsangebot ist die
wichtigste Voraussetzung für die Vereinbarkeit von Familie und Be-
ruf.

9. Tagesbetreuung ermöglicht vielen Eltern ein eigenes Erwerbsein-
kommen. Dadurch trägt Tagesbetreuung zur wirtschaftlichen Selbst-
ständigkeit und zur Minderung des Armutsrisikos bei.

10. Nicht zuletzt ist der Ausbau der Tagesbetreuung auch ein bedeuten-
der Faktor für den Wirtschaftsstandort Deutschland, wie das Betreu-
ungsangebot in anderen europäischen Ländern zeigt.

Obwohl die Tagesbetreuung in der Zuständigkeit der Kommunen liegt,
muss angesichts der genannten Notwendigkeiten ein gesamtgesellschaft-
liches Interesse an der Herstellung eines bedarfsgerechten Angebotes
konstatiert werden. Daher ist zu prüfen, wie Kommunen mit einer
schwierigen Finanzlage bei dem weiteren Ausbau der Tagesbetreuung
unterstützt werden können. Bedarfsgerechtigkeit beinhaltet auch die zeit-
liche Verfügbarkeit des Angebotes. Der 11. Kinder- und Jugendbericht
wie auch viele Bildungs-, Familien- und Jugendforscher reklamieren ei-
nen Mangel an Ganztagsbetreuung ebenso wie fehlende Betreuungsan-
gebote für die unter 3-Jährigen.
Dabei zeigen die aufgezählten Gründe, dass es nicht alleine um eine
quantitative Ausweitung des Angebotes gehen kann. Um die Potenziale
der Tagesbetreuung angesichts der Ergebnisse der PISA-Studie, der
Empfehlungen des Forum Bildung und der Bedeutung, die auch der
11. Kinder- und Jugendbericht dem Thema Bildung zumisst, optimal zu
nutzen, ist die Qualität des Angebotes entscheidend. Auf die Sicherung
und Weiterentwicklung der Qualität ist daher ein besonderes Augenmerk
zu richten.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. Unter Einbeziehung der Länder und der Kommunen auf einem

„Betreuungsgipfel“ Strategien zur Schaffung eines bedarfsgerechten
Betreuungs- und Bildungsangebotes zu entwickeln und die Umset-
zung zu vereinbaren.

2. Eine gezielte wirtschaftliche Förderung von Familien in unteren Ein-
kommensbereichen vorzunehmen, um Kinder aus der Sozialhilfe he-
rauszuholen und zugleich zu verhindern, dass Eltern der Kinder we-
gen von Leistungen der Sozialhilfe abhängig werden.

3. Zu prüfen, wie die durch den demografischen Wandel im Bereich der
Kinder- und Jugendhilfe frei werdenden Finanzmittel gezielt für die
Qualifizierung des Betreuungsangebotes und seinen Ausbau z. B. für
0- bis 3-Jährige und für die Ganztagsbetreuung eingesetzt werden
können.

4. Im Rahmen der beabsichtigten Reform der Gemeindefinanzierung zu
prüfen, wie die Kommunen bei der Schaffung eines bedarfsgerechten
Betreuungsangebotes angeregt und unterstützt werden können.

Drucksache 14/9624 – 10 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

5. Die Voraussetzungen für die Beteiligung Deutschlands an der
geplanten OECD-Studie zum internationalen Vergleich der Kinder-
betreuungssysteme in Abstimmung mit den Ländern zu schaffen.

6. Die Qualitätsentwicklung auf dem Gebiet der Kindertagesbetreuung
weiter zu unterstützen. Dazu soll neben dialogischen und anderen
Qualitätsentwicklungskonzepten auch erprobt werden, welchen Bei-
trag zur Qualitätsentwicklung nutzerbezogene Finanzierungsmodelle
leisten können.

7. Die Nutzung von Kindertagesstätten für die Eltern- und Familienbil-
dung und die Weiterentwicklung von Kooperationsmodellen zwi-
schen Kindertagesstätten und Eltern anzuregen.

8. Einen Modellversuch zur Nutzung der Potenziale von Kindertages-
stätten als Bildungs-, Sozialisations- und Integrationsinstanz in so-
zialen Brennpunkten unter Beteiligung der Länder auf den Weg zu
bringen. Dazu gehört auch die Entwicklung von Maßnahmen zur
Steigerung der Akzeptanz und Inanspruchnahme von Tagesbetreu-
ungsangeboten durch Migrantenfamilien.

9. Den Beitrag der Tagesbetreuung zur Gleichstellung der Geschlechter
weiter zu entwickeln und die Wirkung zu evaluieren. So können
auch Anregungen für andere Angebote der Kinder- und Jugendhilfe
sowie für andere Lebensbereiche gewonnen werden.

10. Zu prüfen, wie die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern an
die veränderten Anforderungen angepasst und qualitativ verbessert
werden kann.

11. Die Möglichkeit zu prüfen, die gesundheitliche Aufklärung und die
Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen stärker in die
allgemeine Zielbeschreibung der Kinder- und Jugendhilfe zu veran-
kern.

12. Die Diskussion des 11. Kinder- und Jugendberichts sollte auf allen
Ebenen – Bund, Länder und Kommunen – dazu beitragen, die Rah-
menbedingungen für das Aufwachsen und die Lebenslagen junger
Menschen weiter zu verbessern. Auch im Sinne einer nachhaltigen
gesellschaftlichen Entwicklung haben die Sachverständigen mit ih-
ren Anregungen einen Beitrag geleistet.

2. den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/8383 abzulehnen.

Berlin, den 12. Juni 2002

Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Christel Riemann-Hanewinckel
Vorsitzende

Rolf Stöckel
Berichterstatter

Thomas Dörflinger
Berichterstatter

Christian Simmert
Berichterstatter

Klaus Haupt
Berichterstatter

Monika Balt
Berichterstatterin

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 11 – Drucksache 14/9624

Bericht der Abgeordneten Rolf Stöckel, Thomas Dörflinger, Christian Simmert
Klaus Haupt und Monika Balt

I. Überweisung
1. Drucksache 14/8181
Die Unterrichtung durch die Bundesregierung – Drucksache
14/8181 – wurde in der 221. Sitzung des Deutschen Bun-
destages am 28. Februar 2002 dem Ausschuss für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend zur federführenden Beratung
und an den Sportausschuss, den Ausschuss für Arbeit und
Sozialordnung, den Ausschuss für Gesundheit, den Aus-
schuss für die Angelegenheiten der neuen Länder und den
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung zur Mitberatung überwiesen.

2. Drucksache 14/8383
Der Entschließungsantrag auf Drucksache 14/8383 wurde in
der selben Sitzung dem Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zur federführenden Beratung und an den
Sportausschuss, den Ausschuss für Arbeit und Sozialord-
nung, den Ausschuss für Gesundheit, den Ausschuss für die
Angelegenheiten der neuen Länder und den Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zur
Mitberatung überwiesen.

II. Wesentlicher Inhalt der Vorlagen
1. Drucksache 14/8181
Der 11. Kinder- und Jugendbericht befasst sich mit der
Lebenssituation junger Menschen und den Leistungen der
Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Dabei werten die
Sachverständigen die Bedingungen für das Aufwachsen in
unserer Gesellschaft als nicht nur familiäre Aufgabe, son-
dern als Bestandteil der öffentlichen Verantwortung. Im ers-
ten Teil des Berichts werden die Strukturen der Kinder- und
Jugendhilfe untersucht und Vorschläge für ihre Modernisie-
rung gemacht. Im zweiten Teil analysiert die Kommission
die Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen, wobei un-
ter anderem folgende Bereiche näher beleuchtet werden:
Bedeutung sozialer Nahräume, Bildung, Ausbildung und
Arbeit, kulturelle Vielfalt und kulturelle Praxis, Migration
und Mobilität, Teilhabe und Beteiligung. Im dritten Teil
wird die Jugendpolitik als Lebenslagenpolitik beleuchtet.
Die Kommission spricht Empfehlungen für die Kinder- und
Jugendhilfe im 21. Jahrhundert aus: u. a. Recht der Jugend
auf Teilhabe an den gesellschaftlichen Ressourcen, neuer
Generationenvertrag, Ausbildungs- und Beschäftigungsga-
rantie, Ganztagsangebote der Bildung und Betreuung. Die
Stellungnahme der Bundesregierung wertet den Bericht als
wichtiges Instrument, das nicht nur einzelne Handlungs-
empfehlungen benennt, sondern auch einen Maßstab für die
Bewertung und Weiterentwicklung der Kinder- und Jugend-
politik auf allen Ebenen liefert. Die Bundesregierung
stimmt der Kommission bei der Forderung nach einer öf-
fentlichen Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern
und Jugendlichen zu und sieht sich in ihrer Politik weitge-
hend bestätigt.

2. Drucksache 14/8383
Die Antragsteller stimmen den Feststellungen und Schluss-
folgerungen der Kommission grundsätzlich zu. Insbeson-
dere ein Paradigmenwechsel in der Kinder- und Jugendpoli-
tik sei zu befürworten. Im Blickpunkt der Kinder- und
Jugendpolitik sollte nicht länger vorwiegend der Staat ste-
hen, der durch sozialpolitische Maßnahmen auf die Fami-
lien einzuwirken suche, sondern vielmehr die Kinder und
Jugendlichen selbst. Insofern sei Kinder- und Jugendpolitik
Querschnittpolitik, die sich in viele gesellschaftliche Berei-
che erstrecke. Der Antrag konzentriert sich auf elf Punkte,
die u. a. die gesellschaftliche Verantwortung für das Auf-
wachsen betreffen, Kinderbetreuung, Bildung, Integration
Behinderter, demographischer Wandel und Generationenge-
rechtigkeit.
III. Stellungnahmen der mitberatenden

Ausschüsse
1. Drucksache 14/8181
Der Sportausschuss hat in seiner 58. Sitzung am 24. April
2002 einvernehmlich beschlossen zu empfehlen, die Vor-
lage zur Kenntnis zu nehmen.
Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung hat in sei-
ner 129. Sitzung am 24. April 2002 einstimmig beschlossen,
die Kenntnisnahme zu empfehlen.
Der Ausschuss für Gesundheit hat in seiner 141. Sitzung
am 15. Mai 2002 einstimmig die Kenntnisnahme des Be-
richts empfohlen.
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der neuen Län-
der hat in seiner 79. Sitzung am 20. März 2002 einstimmig
beschlossen, die Kenntnisnahme zu empfehlen.
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung hat in seiner 69. Sitzung am 15. Mai 2002
einstimmig die Kenntnisnahme des Berichts empfohlen.
2. Drucksache 14/8383
Der Sportausschuss hat in seiner 58. Sitzung am 24. April
2002 beschlossen zu empfehlen, den Antrag abzulehnen.
Der Beschluss wurde mit den Stimmen der Fraktionen SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP bei Stimmenthaltung
der Fraktion der PDS gefasst.
Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung hat in sei-
ner 129. Sitzung am 24. April 2002 beschlossen, die Ableh-
nung des Antrags zu empfehlen.
Der Beschluss wurde mit den Stimmen der Fraktionen SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der
Fraktionen der FDP und PDS bei Stimmenthaltung der
Fraktion der CDU/CSU gefasst.
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der neuen Län-
der hat in seiner 79. Sitzung am 20. März 2002 die Vorlage
beraten und die Ablehnung des Antrags empfohlen.

Drucksache 14/9624 – 12 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Der Beschluss wurde mit den Stimmen der Fraktionen SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der
Fraktionen der CDU/CSU, FDP und PDS gefasst.
Der Ausschuss für Gesundheit hat in seiner 141. Sitzung
am 15. Mai 2002 die Ablehnung des Antrags empfohlen.
Der Beschluss wurde mit den Stimmen der Fraktionen SPD,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS gegen die Stimmen
der Fraktion der FDP bei Stimmenthaltung der Fraktion der
CDU/CSU gefasst.
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung hat in seiner 69. Sitzung am 15. Mai 2002
die Ablehnung des Antrags empfohlen.
Der Beschluss wurde mit den Stimmen der Fraktionen SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der
Fraktion der FDP bei Stimmenthaltung der Fraktionen der
CDU/CSU und PDS gefasst.
IV. Beratungsverlauf und Beratungsergebnisse

im federführenden Ausschuss
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend hat die Vorlagen in seiner 92. Sitzung am 5. Juni 2002
beraten und in seiner 954. Sitzung am 12. Juni 2002 eine er-
weiterte öffentliche Ausschussberatung nach § 69a GOBT
unter Beteiligung der mit beratenden Ausschüsse durchge-
führt.
Abstimmungsergebnisse
Die Beratungen führten zu folgendem Ergebnis:
1. Unterrichtung der Bundesregierung auf Drucksache

14/8181
a) Der Ausschuss hat beschlossen, die Unterrichtung zur

Kenntnis zu nehmen.
Der Beschluss wurde einstimmig gefasst.
b) Der Ausschuss hat beschlossen, den vorstehend abge-

druckten Entschließungsantrag der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN anzunehmen.

Der Beschluss wurde mit den Stimmen der Fraktionen SPD,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS gegen die Stimmen
der Fraktionen der CDU/CSU und FDP gefasst.
2. Entschließungsantrag auf Drucksache 14/8383
Der Ausschuss hat beschlossen, den Entschließungsantrag
auf Drucksache 14/8383 abzulehnen.
Der Beschluss wurde mit den Stimmen der Fraktionen SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der
Fraktionen der FDP und PDS bei Stimmenthaltung der
Fraktion der CDU/CSU gefasst.
Inhalt der Ausschussberatungen
a) Sitzung vom 5. Juni 2002
Die Fraktion der SPD betonte, die Bedingungen für das
Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen hätten sich ver-
ändert. Die Familie habe ihre beherrschende Stellung als
Sozialisationsinstanz verloren. Daher sei das Ineinander-
greifen von privater und öffentlicher Verantwortung für die
Bedingungen des Aufwachsens notwendig. Der Staat müsse

die Eltern in ihrer Erziehungsarbeit ergänzen, unterstützen
und notfalls auch ersetzen. Die Phase der Kindheit und Ju-
gend sei zunehmend eine eigenständige Lebensphase ge-
worden, die aber auch durch soziale Ungleichheit, Hetero-
genität der Lebensumstände und Vielfalt der Weltbilder und
Lebensstile geprägt sei. Staat und Gesellschaft müssten die
Lebensbedingungen so gestalten, dass Eltern und Jugend-
liche für sich selbst und füreinander verantwortlich sein
können. Kinder- und Jugendpolitik sei Lebenslagenpolitik,
Querschnittspolitik, Aufgabe öffentlicher und freier Träger.
Nachdem die sozialen Leistungssysteme unter Druck ste-
hen, seien die Sicherung der sozialen Infrastruktur, Be-
kämpfung der Armut, Mittel für verbesserte Infrastruktur,
Förderung von sozial benachteiligten Familien zentrale
Aufgaben politischer Gestaltung geworden. Die demogra-
phische Entwicklung, Verschuldung und Verknappung der
Ressourcen mache einen neuen Generationenvertrag not-
wendig. Leistungen für Familien seien nicht nur bei Rechts-
ansprüchen, sondern auch ergänzend notwendig.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz bilde eine gute Grund-
lage, es gebe aber Diskrepanzen zwischen dem theoreti-
schen Anspruch und der Alltagspraxis der Jugendhilfe.
Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN begrüßte
ebenfalls die mit dem 11. Kinder- und Jugendbericht vorge-
legte umfassende Beschreibung der Situation von Kindern
und Jugendlichen in Deutschland. Wichtige Punkte seien
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, der noch defizitäre
Bereich Kinderbetreuung und soziale Infrastruktur. Es habe
finanzielle Verbesserungen und bessere Rahmenbedingun-
gen für Familien gegeben: Stärkung von Kinderrechten
durch Maßnahmen wie das Gesetz zur gewaltfreien Erzie-
hung und das Gewaltschutzgesetz.
Verwiesen wurde noch auf die Programme „Entwicklung
und Chancen“ (E & C) sowie „Soziale Stadt“, mit denen
die Bundesregierung neue Wege beschritten habe.
Die Fraktion der CDU/CSU erklärte, schon der Titel „Auf-
wachsen in öffentlicher Verantwortung“ mache den Unter-
schied in der politischen Herangehensweise der Fraktionen
deutlich. Die Fraktion der CDU/CSU begreife das Auf-
wachsen von Kindern gerade nicht primär als Bestandteil
öffentlicher Verantwortung, sondern als in der Verantwor-
tung der Eltern liegend. Zwar sei eine Veränderung der Be-
deutung von Familie als Sozialisationsinstanz eingetreten,
aber entscheidend sei doch, welche Schlussfolgerung man
hieraus ziehe: ob man diese Tatsache nur zur Kenntnis
nehme oder aber Instrumentarien wie das KJHG als Hilfe
für Familien einsetzen wolle, um diese in den Stand zu ver-
setzen, ihrer Aufgabe gerecht zu werden.
Die Fraktion der CDU/CSU lehne es eindeutig ab, das
KJHG als Instrument zu benutzen, um eine Art Alterna-
tivinstitution zur Familie in staatlicher Regie zu schaffen.
Kritisiert wurde ferner auch die Bilanz des JUMP-Pro-
gramms, das nach den Ausführungen im Bericht für die
neuen Länder keine positiven Ergebnisse zeitige, was die
Bundesregierung aber nicht zur Kenntnis nehmen wolle. Zu
beanstanden sei auch eine rückläufige Ausgabenstruktur bei
der Sprachförderung. Die Begründung beispielsweise mit
sinkenden Aussiedlerzahlen sei vor dem Hindergrund des
Bedarfs nicht stichhaltig.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 13 – Drucksache 14/9624

Die Fraktion der FDP meinte, wenn auch das Bild von Fa-
milie sich gewandelt habe, bleibe sie dennoch der zentrale
Ort für das Aufwachsen. Allerdings sei der Einfluss der Öf-
fentlichkeit ebenfalls gestiegen. Familie gebe es heute in
verschiedenen Erscheinungsformen. Unabhängig davon,
wie sie sich als Verantwortungsgemeinschaft darstelle,
dürfe dies nicht zu Lasten der Kinder gehen. Im Zusammen-
hang mit den Ausführungen zum Paradigmenwechsel im
Antrag auf Drucksache 14/8383 wurde erklärt, man lehne
nicht etwa den Staat ab, sondern benenne als eine wesent-
liche Zukunftsaufgabe die Schaffung sozialer Infrastruktur
für Familien mit Kindern in Deutschland. Auch die Stellung
der Kinder und Jugendlichen selbst, die stärker als Subjekte
mit eigener Verantwortung wahrgenommen würden, sei
heute eine andere.
Die Fraktion der PDS unterstrich, erfreulich sei die Unter-
stützung der Forderung zur Stärkung von Elternkompetenz
und demAusbau der sozialen Infrastruktur fürKinder und Ju-
gendliche – z. B: Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsle-
ben, Ausbau von Betreuungs- und Freizeiteinrichtungen. Po-
sitiv sei ebenfalls die vorgesehene Weiterentwicklung der
Kindertagesbetreuung auch für unter 3- und über 6-Jährige
mit flexiblen Öffnungszeiten. Ferner sei die Anerkennung
des Bildungsauftrages auch in außerschulischen Angeboten
zu begrüßen. ImZusammenhangmit demAusbau einer ganz-
tägigen Kinderbetreuung sollte aber noch einmal über eine
finanzielle Beteiligung des Bundes nachgedacht werden. Die
Fraktion der PDS würde gerne langfristig erreichen, dass die

Kinderbetreuung an sich kostenlos ist. Kinder- und Jugend-
hilfe sowie Bildung und Ausbildung sollte allen in Deutsch-
land lebenden Kindern und Jugendlichen gleichermaßen zu-
stehen.Man unterstütze die Forderung der Sachverständigen,
die Rechte von Kindern in das Grundgesetz aufzunehmen.
b) Sitzung vom 12. Juni 2002
Am 12. Juni 2002 fand als 95. Sitzung eine erweiterte öf-
fentliche Ausschussberatung statt. In deren Verlauf stell-
ten die Berichterstatterinnen und Berichterstatter des feder-
führenden Ausschusses ihre Positionen dar. Ferner wurde
aus dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung und dem Sportausschuss Bericht erstattet.
Eingeführt wurde der 11. Kinder- und Jugendbericht ein-
schließlich der Stellungnahme der Bundesregierung von
der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis
(BMFSFJ).
Wegen der Einzelheiten wird auf das stenografische Proto-
koll der 95. Sitzung verwiesen.
Die vom Ausschuss als Entwurf vorgelegte Beschlussemp-
fehlung wurde mit den Stimmen der Fraktionen SPD,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS angenommen.
Der zu dieser Sitzung seitens der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachte Entschließungsantrag (Ausschussdrucksache
14/890) wurde gegen die Stimmen der Fraktion der CDU/
CSU mit den Stimmen der anderen Fraktionen abgelehnt.

Berlin, den 12. Juni 2002
Rolf Stöckel
Berichterstatter

Thomas Dörflinger
Berichterstatter

Christian Simmert
Berichterstatter

Klaus Haupt
Berichterstatter

Monika Balt
Berichterstatterin

Drucksache 14/9624 – 14 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Anlage zum Bericht
Folgender Antrag fand keine Mehrheit im Ausschuss2):
Entschließungsantrag
der Abgeordneten Maria Eichhorn, Thomas Dörflinger,
Antje Blumenthal, Dr. Maria Böhmer, Cajus Caesar,
Wolfgang Dehnel, Renate Diemers, Anke Eymer (Lü-
beck), Ingrid Fischbach, Walter Link (Diepholz), Hans-
Peter Repnik, Heinz Schemken, Marion Seib, Gerald
Weiß (Groß-Gerau) und der Fraktion der CDU/CSU
zu der Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend (13. Ausschuss)
– Drucksache 14/… –
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
– Drucksache 14/8181 –
Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und
die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutsch-
land
– Elfter Kinder- und Jugendbericht –
mit der Stellungnahme der Bundesregierung
Der Bundestag stellt fest:
I. Der 11. Kinder- und Jugendbericht wählt als Leitmotiv
„Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“. Die Bundes-
regierung hat den darin zum Ausdruck gebrachten Perspek-
tivwechsel ausdrücklich begrüßt und die Nachrangigkeit in-
dividueller Transferleistungen zugunsten des Vorrangs einer
bedarfsgerechten sozialen Infrastruktur als Leitlinie der ei-
genen Politik unterstrichen.
Der Deutsche Bundestag sieht in dieser Weichenstellung ei-
nen Paradigmenwechsel, der dem verfassungsrechtlichen
Auftrag einer Stärkung der Erziehungsverantwortung der
Eltern zuwiderläuft und die aus dem Grundgesetz abgelei-
tete Abgrenzung der Kompetenzen und Handlungszustän-
digkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen igno-
riert.
Statt den verfassungsrechtlichen Auftrag ernst zu nehmen
und die Familie in ihrer Erziehungsverantwortung verstärkt
zu fördern und zu unterstützen, setzt die Bundesregierung
einseitig auf den Ausbau öffentlicher Erziehung zu Lasten
von Angeboten für individuelle Hilfe. Dies kann nicht mit-
getragen werden, weil damit der Schutzgedanke des Arti-
kel 6 GG ausgehebelt, der Vorrang familiärer Erziehung vor
öffentlicher Erziehung ins Gegenteil verkehrt wird.
Der Deutsche Bundestag betont ausdrücklich die Notwen-
digkeit eines altersübergreifenden Ausbaus der Kinderbe-
treuungsangebote. Die Handlungsverantwortung hierfür
liegt eindeutig auf der Ebene der Länder und Kommunen.
Der Bund hat jedoch im Rahmen der Finanzverfassung ge-
meinsam mit den Ländern dafür Sorge zu tragen, dass aus-
reichend Mittel für diese Aufgabe zur Verfügung stehen. Er
hat darüber hinaus im Rahmen seiner Verantwortung für
einen gerechten und angemessenen Familienleistungsaus-
gleich zu sorgen, der es Eltern ermöglicht, selbst zu bestim-

men ob und inwieweit sie dritte Personen zur Erfüllung ih-
res Erziehungsauftrags heranziehen wollen.
Die Bundesregierung hat angekündigt, jede vierte Schule
zur Ganztagsschule auszubauen. Die Bundesregierung wird
aufgefordert, hierzu konkrete Konzepte, Strategien und In-
halte offen zu legen, auf die sich Eltern, Kinder und Lehrer
verlassen können. Beim Ausbau einer Schule zu einer
Ganztagsschule geht man gewöhnlich von Mehrkosten in
Höhe von 30% aus. Hierzu sind Finanzierungskonzepte vor-
zulegen.
Eine ausdrückliche Prioritätensetzung zugunsten der
Fremdbetreuung bei gleichzeitiger Nachrangigkeit der fi-
nanziellen Transferleistungen des Familienleistungsaus-
gleichs bedeutet deshalb im Ergebnis eine Nachrangigkeit
der familienpolitischen Handlungsverantwortung des Bun-
des, die auf eine Einschränkung der Wahlfreiheit der Eltern
hinausläuft.
Der Deutsche Bundestag pflichtet dem 11. Kinder- und Ju-
gendbericht in seiner abschließenden Handlungsempfeh-
lung Nr. 6 bei, dass die Ausgaben den Aufgaben zu folgen
haben.
Der Deutsche Bundestag bedauert, dass die Bundesregie-
rung in ihrer Stellungnahme keinerlei Aussage darüber
getroffen hat, wie sie Länder und Kommunen in ihrer Ver-
antwortung für den Ausbau der Kinderbetreuung zu unter-
stützen gedenkt.
Der Deutsche Bundestag sieht mit Sorge, dass die maßgeb-
liche Rolle des Bundes in der Gestaltung der finanziellen
Rahmenbedingungen von Familien in den Hintergrund ge-
rückt und gleichzeitig die vorrangige Verantwortung der
Länder und der Kommunen postuliert wird.
Die öffentliche Verantwortung für Kinder und Familien
ernst zu nehmen kann nicht bedeuten, den Familien Verant-
wortung und Wahlfreiheit zu nehmen, vielmehr gilt es, an-
gesichts vielfältiger Lebenslagen und Erziehungsstile, Ver-
antwortung und Wahlfreiheit zu stärken. Der Deutsche
Bundestag betont, dass eine einseitige Beschränkung auf
den Ausbau der sozialen Infrastruktur dieser Zielsetzung in
keinster Weise genügt. Der Deutsche Bundestag hält hinge-
gen eine Prioritätensetzung zugunsten der Familienpolitik
insgesamt für notwendig und nicht eine Prioritätensetzung,
die unterschiedliche familienpolitische Handlungsebenen
zugunsten des Bundes gegeneinander ausspielt.
II. Die Bundesregierung teilt die Einschätzung des 11. Kin-
der- und Jugendberichtes, dass es von grundlegender Be-
deutung ist, die Chancengleichheit im Zugang und in der
Nutzung von Bildungsangeboten zu erhalten und weiter her-
zustellen. Allgemeine Bildung und berufliche Bildung sind
die beste Vorbeugung gegen Arbeitslosigkeit.
Hierfür sind neben der Bereitstellung finanzieller Förder-
mittel inhaltliche und strukturelle Reformen von Bedeu-
tung, mit dem Ziel eine Modernisierung von Berufsaus-
bildung zu erreichen. In der Stellungnahme der
Bundesregierung zum Bericht wird behauptet, das Sofort-
programm „Jump“ der Bundesregierung habe entscheidende
Fortschritte beim Abbau der Jugendarbeitslosigkeit erzielt.2) Ausschussdrucksache 14/890

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 15 – Drucksache 14/9624

Die unterschiedlichen Finanzierungssysteme erschweren
die Realisierung von Maßnahmen oder verhindern sie sogar.
Der Deutsche Bundestag ist hingegen der Meinung, dass
dem Sofortprogramm „Jump“ und anderen Programmen der
Bundesregierung keine deutlichen Fortschritte bescheinigt
werden können. Sie dienen letztendlich als Warteschleifen
zur Schönung der Statistiken und sind als Ersatzangebote
zur Regelförderung eher abgekoppelt. Die Jugendarbeitslo-
sigkeit ist trotz des hohen Mitteleinsatzes der zusätzlichen
Förderung nur marginal kurzfristig zurückgegangen. Der
Deutsche Bundestag teilt die Auffassung des 11. Kinder-
und Jugendberichtes, dass die Unvereinbarkeit der Finan-
zierungssysteme und Sozialgesetze trotz „Job AQTIV-Ge-
setz“ weiter bestehen. Diese sind als überregulierter „Sub-
ventionsdschungel und Kompetenzchaos“ ein Hemmnis für
Innovation und Effizienz lokaler und regionaler Arbeits-
marktpolitik.
III. Der Deutsche Bundestag betont, dass der 11. Kinder-
und Jugendbericht auch im eigentlichen Handlungsfeld der
Kinder- und Jugendhilfe die Aussage „Die Ausgaben folgen
den Aufgaben“ in den Vordergrund stellt. Dies soll verdeut-
lichen, dass der Politik nicht nur die Aufgabe der jugend-
politischen Zielsetzung übertragen ist, vielmehr hat sie auch
für eine bedarfsgerechte finanzielle Ausstattung der Leis-
tungserbringer zu sorgen. Die Bundesregierung geht in ihrer
Stellungnahme auf diese Forderung nicht ein, sondern ver-
weist in diesem Zusammenhang formaltechnisch auf Finan-
zierungszuständigkeiten, insbesondere der öffentlichen Trä-
ger der Jugendhilfe. Lediglich der Verweis, dass es Aufgabe
der Länder und Gemeinden ist, die im Rahmen eines auf-
wendig gestalteten Sozialleistungsgesetzes notwendigen
Leistungen zu erbringen, ohne finanzielle Grundlagen hier-
für geschaffen zu haben, ist nach Auffassung des Deutschen
Bundestages nicht ausreichend.
IV. Der 11. Kinder- und Jugendbericht befürwortet weitere
Integrationshilfen für jugendliche Aussiedlerinnen und Aus-
siedler. Die Bundesregierung schließt sich dieser Position
an und verweist auf ihr Ziel, die Integration von Zuwande-
rinnen und Zuwanderern, insbesondere auch die Chancen-
gleichheit und Entwicklungspotentiale von Kindern und Ju-
gendlichen, stärker zu fördern und eine konzeptionelle
Neuorientierung der Integrationspolitik zu erarbeiten.
Der Deutsche Bundestag begrüßt die in diesem Zusammen-
hang von der Bundesregierung beabsichtigte Ausweitung
der Sprachförderung auf alle Zuwanderungsgruppen dem
Grunde nach, vertritt jedoch die Auffassung, dass das Ziel
des Bundes, die Integration der in Deutschland lebenden
Zuwanderer zu verbessern und verstärkt zu fördern, mit
dem von der Bundesregierung angesprochenen Entwurf ei-
nes Zuwanderungsgesetzes nicht erreicht wird. Die Bundes-
regierung strebt vielmehr eine Sprachausbildung für alle
Zuwanderer auf niedrigem Niveau an, wobei die vorgesehe-
nen Integrationsangebote gerade für jugendliche Spätaus-
siedler im Vergleich zur bisherigen Sprachförderung zu ei-
ner erheblichen Verschlechterung führen.
V. Die Bundesregierung sieht sich durch den 11. Kinder-
und Jugendbericht in ihrer Politik für Mädchen und Jungen
und in ihrer Verantwortung für die nachfolgende Generation
weitgehend bestätigt. Sowohl hinsichtlich der Sicherung der
materiellen Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen
wie bezüglich der Bildungs- und Ausbildungsvoraussetzun-

gen und der Beteiligung junger Menschen an der politischen
Gestaltung und Entwicklung des Gemeinwesens unter-
nimmt die Bundesregierung nach eigener Auffassung die
notwendigen Schritte. Einen wichtigen Beitrag zur Genera-
tionengerechtigkeit bildet nach Einschätzung der Bundesre-
gierung auch die Anfang 2001 verabschiedete Rentenre-
form.
Der Deutsche Bundestag widerspricht dieser Aussage ent-
schieden. Die Bundesregierung hat angesichts von 4,3 Mil-
lionen Arbeitslosen das Gegenteil erreicht. Auch die Ren-
tenreform 2001 ist kein gutes Beispiel für die Verdienste der
Bundesregierung. Einerseits kam sie entschieden zu spät
und zum anderen benachteiligt sie einige Gruppen unange-
messen, besonders Frauen. Die Reform konzentriert sich
einseitig auf erwerbstätige Frauen und benachteiligt diejeni-
gen, die sich wegen Kindererziehung oder zur Pflege von
Familienangehörigen nicht am Erwerbsleben beteiligen.
Durch die allgemeine Absenkung des Rentenniveaus und
die Kürzung der Witwenrente sowie die Anrechnung jeg-
lichen Einkommens auf die Witwenrente werden Frauen
mehrfach benachteiligt, sie sind die Hauptverlierer der Ren-
tenreform.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:
1. Individuelle Transferleistungen und eine bedarfsge-

rechte soziale Infrastruktur leiten sich gleichermaßen ab
aus dem verfassungsrechtlichen Auftrag zur Stärkung
der Erziehungsverantwortung. Neben einem bedarfsge-
rechten Ausbau der Betreuungsinfrastruktur sind die fi-
nanziellen Transferleistungen zu einem Familiengeld
auszubauen und den Verfassungsauftrag des Artikel 6
Grundgesetz zu achten.

2. Der einseitige Ausbau öffentlicher Erziehung zu Lasten
von Angeboten für individuelle Hilfe ist mit dem
Schutzgedanken des Artikel 6 Grundgesetz unvereinbar
und verkehrt den Vorrang familiärer Erziehung vor öf-
fentlicher Erziehung ins Gegenteil. Eltern, die nicht er-
werbstätig sind und sich ausschließlich der Erziehung
der Kinder widmen dürfen gegenüber Erwerbstätigen fi-
nanziell nicht benachteiligt werden.

3. Kindererziehung ist zuallererst eine Angelegenheit der
Eltern und liegt in deren Hauptverantwortung. Im Sinne
einer echten Wahlfreiheit ist – nicht nur lebenslagenbe-
zogen – die freie Entscheidung der Eltern zugunsten der
Kindererziehung ganz, teilweise oder zeitweise auf Er-
werbsarbeit zu verzichten, zu respektieren.

4. Ein altersübergreifender Ausbau der Kinderbetreuungs-
angebote ist dringend notwendig. Die Bundesregierung
wird aufgefordert, den notwendigen Ausbau öffentlicher
Angebote der Kinderbetreuung durch eine Stärkung der
Finanzkraft von Ländern und Kommunen zu unterstützen
und gleichrangig den Familienleistungsausgleich und da-
mit die Rahmenbedingungen familiärer Erziehung nach-
haltig zu verbessern. Die Bundesregierungwird aufgefor-
dert, konkrete Vorschläge für eine finanzielle Ausstattung
der Gemeinden und Länder durch den Bund vorzulegen.

5. Ein schlüssiges Konzept vorzulegen, wie der bedarfsge-
rechte Ausbau von Ganztagsschulen erfolgen soll und
nach welchem Schlüssel die Finanzmittel verteilt wer-
den.

Drucksache 14/9624 – 16 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
6. Die Wirksamkeit, Leistungsfähigkeit und Nachhaltigkeit
der jugendarbeitsmarktpolitischen Programme ist zu er-
höhen. Die Bewertung der Programme ist von der Ar-
beitsverwaltung unabhängigen Instituten zu übertragen.
Die Förderprogramme müssen vereinheitlicht, verein-
facht und zwischen ihnen Transparenz hergestellt wer-
den. Die Länder und Kommunen sind bei der Planung
und Umsetzung früh- und rechtzeitig zu beteiligen. Im
Übrigen ist bei der Finanzierung hinsichtlich der Kom-
munen auf eine ausgewogene Verteilung zu achten.

7. Politik hat nicht nur die Aufgabe der jugendpolitischen
Zielsetzung, sondern hat auch für eine bedarfsgerechte
finanzielle Ausstattung der Leistungserbringer zu sorgen.

8. Die Ausweitung der Sprachförderung auf alle Zuwande-
rungsgruppen ist dem Grunde nach zu begrüßen. Das
Ziel des Bundes, die Integration der in Deutschland le-

benden Zuwanderer zu verbessern und verstärkt zu för-
dern wird jedoch mit dem von der Bundesregierung an-
gesprochenen Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes
nicht erreicht. Eine Sprachausbildung für alle Zuwande-
rer auf niedrigem Niveau ist unbedingt zu vermeiden.
Die von der Bundesregierung vorgesehenen Integra-
tionsangebote gerade für jugendliche Spätaussiedler füh-
ren jedoch im Vergleich zur bisherigen Sprachförderung
zu einer erheblichen Verschlechterung. Die Bundesre-
gierung wird aufgefordert, die nach dem Garantiefonds
gewährte Sprachförderung und sozialpädagogische Be-
treuung der jugendlichen Spätaussiedler durch die Neu-
regelung der Integrationsförderung nicht zu verringern.

Die gesetzgeberischen Beiträge zur Generationengerechtig-
keit sind ohne jedwede Benachteiligung von Frauen zu erar-
beiten.

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