BT-Drucksache 14/9555

25 Jahre Psychiatrie-Reform - Verstetigung und Fortentwicklung

Vom 26. Juni 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/9555
14. Wahlperiode 26. 06. 2002

Antrag
der Abgeordneten Regina Schmidt-Zadel, Eike Hovermann, Eckhart Lewering,
Dr. Martin Pfaff, Marga Elser, Klaus Kirschner, Helga Kühn-Mengel,
Götz-Peter Lohmann (Neubrandenburg), Dr. Carola Reimann,
Dr. Hansjörg Schäfer, Horst Schmidbauer (Nürnberg), Wilhelm Schmidt
(Salzgitter), Fritz Schösser, Dr. Angelica Schwall-Düren, Dr. Margrit Spielmann,
Dr. Wolfgang Wodarg, Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Monika Knoche, Katrin Dagmar Göring-Eckardt,
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

25 Jahre Psychiatrie-Reform – Verstetigung und Fortentwicklung

A. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1975 wurde dem Deutschen Bundestag die Psychiatrie-Enquête zugeleitet.
Die Enquete kritisierte die unzureichende Versorgung von psychisch Kran-
ken und behinderten Menschen, die oft über viele Jahre in schlecht aus-
gestatteten Einrichtungen mit bis zu 2000 und mehr Betten hospitalisiert
wurden. Ambulante und komplementäre Hilfeangebote fehlten fast vollstän-
dig. In der Psychiatrie-Enquête wurden erstmals die – auch heute noch gülti-
gen – Prinzipien für eine adäquate psychiatrische Versorgung aufgestellt.
Als Ergebnis wurde mit dem Modellprogramm Psychiatrie der notwendige
Reformprozess eingeleitet.
Nach der Hauptmaxime der Psychiatrie-Reform haben psychisch kranke und
behinderte Menschen dasselbe Recht wie somatisch Kranke auf
– größtmögliche Selbstbestimmung
– ein privates Leben möglichst außerhalb von institutionalisierten Einrich-

tungen sowie
– eine Teilnahme am sozialen Leben in ihrem Wohnumfeld haben.
Das Ziel bestand darin, von einer verwahrenden Psychiatrie – mit oft lebens-
langer Hospitalisierung – zu einer therapeutisch und rehabilitativ ausgerich-
teten Versorgung möglichst im Lebensumfeld zu kommen.
Die Ergebnisse der Psychiatrie-Enquête wurden generell zum Orientierungs-
maßstab für die Planung und Weiterentwicklung der psychiatrischen Versor-
gung in den Ländern.
Auf der Grundlage der Ergebnisse hat eine Expertenkommission der
Bundesregierung den Bericht zur Reform der psychiatrischen Versorgung
erarbeitet und 1988 Empfehlungen vorgelegt. Diese Empfehlungen konzent-
rierten sich auf die Bereiche Behandlung, Pflege, Rehabilitation, Wohnen,
Arbeit und soziale Teilhabe psychisch Kranker und entwickelten die bereits
in der Psychiatrie-Enquête aufgestellten Grundprinzipien fort.

Drucksache 14/9555 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Im Jahr 2000 wurde von Expertenseite übereinstimmend festgestellt, dass es
im Verlauf des Reformprozesses erhebliche Fortschritte in der psychiatri-
schen Versorgung gegeben hat:
Positiv hervorgehoben wurde vor allem
– der Abbau von über 50 % der Krankenhausbetten,
– die Dezentralisierung der stationären Versorgung durch Aufbau von

ca. 160 psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern,
– die Senkung der stationären Verweildauer auf 20 bis 40 Tage sowie
– die Zunahme der Nervenärzte um das 4fache.
Ebenso wurden kommunale Versorgungsstrukturen wie Sozialpsychiatrische
Dienste, betreute Wohnformen, Übergangswohnheime, tagesstrukturierende
und arbeitsintegrierende Hilfen erheblich ausgebaut.
Die Aufnahme von Soziotherapie als neue ambulante Regelleistung der
GKV und der Rechtsanspruch auf Einrichtung einer Institutsambulanz auch
für Psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern sowie die
Beibehaltung von Tages-/Abteilungspflegesätzen auf der Grundlage der
Psych-PV als Ausnahmetatbestand wurden als wichtige sozialrechtliche
Veränderungen im Gesundheitsreformgesetz 2000 verankert.
Dennoch werden nach wie vor bestehende Mängel insbesondere der ambu-
lanten Behandlung und Rehabilitation beklagt. Konkrete Problembereiche
sind:
– Das Fehlen eines flächendeckend gleich guten Aufbaus gemeindeinteg-

rierter ambulanter und komplementärer Versorgungsstrukturen,
– die fehlende Vernetzung, Kooperation und Koordination zwischen den

Versorgungsdiensten,
– das Fehlen von leistungsträger- und einrichtungsträgerübergreifenden

Gesamtkonzepten,
– Mängel in speziellen Versorgungsbereichen wie der Gerontopsychiatrie

und der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

B. Der Deutsche Bundestag stellt fest, dass trotz nicht zu leugnender Fort-
schritte durch die Psychiatrie-Reform nach wie vor Benachteiligungen
psychisch kranker Menschen bestehen und die Versorgungssituation weiter
verbessert werden muss.
Folgende Schritte sind erforderlich:
l Das Prinzip „ambulant vor stationär“ ist auch heute noch nicht ausrei-

chend umgesetzt. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung
auf, darauf hinzuwirken, die Gleichstellung psychisch Kranker gegen-
über körperlich Kranken weiter zu verbessern. Dazu muss insbesondere
der Anteil teilstationärer und ambulanter Hilfen als ambulante Komplex-
leistungen sowohl in der Akutbehandlung als auch in der Rehabilitation
weiter erhöht werden. Da die konkrete Umsetzung der Reformziele oft-
mals Ländersache ist, sind Länder und Gemeinden gefordert, den Grund-
gedanken der Enquête „Integration und Teilhabe“ weiter umzusetzen.
Der Deutsche Bundestag fordert die Entwicklung klarer gesetzlicher Re-
gelungen zur Sicherstellung des individuellen Behandlungsanspruchs
und politische Initiativen zur Überprüfung der Umsetzung.

l Als ein besonders gravierendes Problem hat sich die unzureichende Früh-
erkennung psychotischer Erkrankungen bei jungen Menschen erwiesen.
Mangelnde Information und noch im Bereich der Grundlagenforschung

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/9555

steckendes Wissen um Präventionsmöglichkeiten weisen auf einen ver-
stärkten Bedarf an Ausbau spezifisch gesundheitspolitischer Kompetenz
in der psychiatrischen Versorgung hin. Die Selbstverwaltung, die For-
schung und das öffentliche Gesundheitswesen sind in besonderer Weise
aufgefordert, sich diesem Bereich der Unterversorgung von jungen chro-
nisch Kranken zu widmen. Evidenzbasierte Behandlungsleitlinien für
junge Menschen mit Persönlichkeitsstörungen sind zu entwickeln.

l In den am 1. Januar 2002 in Kraft getretenen Richtlinien zur Soziothera-
pie ist der anspruchsberechtigte Personenkreis restriktiv definiert. Es ist
fraglich, ob in der jetzigen Form die Soziotherapie den ursprünglichen
Anspruch erfüllen kann, integrierter Bestandteil eines komplexen am-
bulanten Hilfsangebotes zu sein und schwer kranke Patienten bei der In-
anspruchnahme ihnen zustehender ambulanter Hilfen zu unterstützen.
Soziotherapie darf keine weitere isolierte Einzelleistung darstellen. Der
Deutsche Bundestag fordert eine Evaluierung der Umsetzung der Richt-
linien von unabhängiger Seite, um eine erfahrungsorientierte Fortschrei-
bung der Regelungen sicherzustellen.

l Die ambulante psychiatrische Behandlungspflege ist nach wie vor nicht
selbstverständlicher Bestandteil des Leistungskataloges der gesetzlichen
Krankenkassen, obwohl Gutachten belegen, dass ambulante psychiatri-
sche Behandlungspflege im Kontext komplexer Hilfen unverzichtbar ist.
Den Selbstverwaltungsorganen ist es bisher nicht gelungen, eine ein-
vernehmliche Regelung über diesen Punkt zu erzielen. Der Deutsche
Bundestag fordert die Bundesregierung auf, auf die Selbstverwaltung ein-
zuwirken, damit über bereits vorliegende Entwürfe umgehend beraten
und entschieden wird. Die ambulante psychiatrische Behandlungspflege
muss als fester Bestandteil der ambulanten psychiatrischen Versorgung
verankert werden.

l Die im Rahmen der Novellierung des BSHG durch die Länder zugesagte
Änderung der Aufgabenverteilung im Hinblick auf die geteilte sachliche
Zuständigkeit der Sozialhilfeträger auf örtlicher und überörtlicher Ebene
ist erst von einigen Ländern umgesetzt worden. Der Deutsche Bundestag
fordert die Bundesregierung auf, auf die Länder einzuwirken, die not-
wendige Zusammenfassung der Zuständigkeiten für ambulante und stati-
onäre Hilfen in einer Hand endlich wirkungsvoll umzusetzen, um das
Ziel „ambulant vor stationär“ bei der Eingliederungshilfe realisieren zu
können.

l Psychisch Kranke sind trotz des häufig chronischen bzw. chronisch-rezidi-
vierenden Verlaufs vieler psychischer Erkrankungen bei der Rehabilitation
im Vergleich zu somatisch Kranken erheblich benachteiligt. Spezifische
Rehabilitationseinrichtungen („RPK“) existieren bisher nur in Ansätzen
und keinesfalls flächendeckend. Der Ausbau der Rehabilitation unter
Einbeziehung teilstationärer und ambulanter Strukturen ist dringend
geboten. Von den Leistungsträgern wird die Umsetzung von Konzepten
gefordert, die eine Flexibilisierung bisher stationärer medizinische Reha-
bilitation psychisch Kranker ermöglichen.

l Ebenso sind Angebote integrierter medizinisch-beruflicher Rehabilitation
gemeindenah zu etablieren.

l Auch nach mehr als 25 Jahren des Reformprozesses darf die Bundespolitik
sich nicht aus der Unterstützung der Belange schwer und chronisch psy-
chisch kranker Menschen zurückziehen. Der Deutsche Bundestag fordert
von der Bundesregierung, auch weiterhin finanzielle Mittel insbesondere
für die Evaluations- und Versorgungsforschung bereitzustellen. Aufgaben
der Versorgungsforschung und der Evaluation sind von großer Bedeutung

Drucksache 14/9555 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
in einem Versorgungssystem, das sich in den letzten 25 Jahren erheblich
verändert hat und wesentlich komplexer geworden ist. Es bedarf konkreter
Zahlen sowie quantitativer und qualitativer Indikatoren, um eine weitere,
bedarfs- und bedürfnisorientierte Versorgung sicherzustellen. Im Weiteren
ist es erforderlich, Modellprojekte zu psychotherapeutischen Verfahren in
der Akutpsychiatrie aufzulegen.

l Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, ein Psychia-
trie-Forum zur Konkretisierung eines Konzepts zur notwendigen Weiter-
entwicklung der Psychiatrischen Versorgung in der 15. Wahlperiode um-
zusetzen.

Berlin, den 26. Juni 2002
Dr. Peter Struck und Fraktion
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.