BT-Drucksache 14/9051

Intensivierung der Beziehungen zwischen der Europäischen Union, Lateinamerika und der Karibik

Vom 15. Mai 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/9051
14. Wahlperiode 15. 05. 2002

Antrag
der Abgeordneten Lothar Mark, Wolfgang Behrendt, Hans Büttner (Ingolstadt),
Petra Ernstberger, Anke Hartnagel, Reinhold Hemker, Monika Heubaum,
Hans-Ulrich Klose, Dr. Elke Leonhard, Markus Meckel, Christoph Moosbauer,
Volker Neumann (Bramsche), Dieter Schloten, Wilhelm Schmidt (Salzgitter),
Volkmar Schultz (Köln), Joachim Tappe, Gert Weisskirchen (Wiesloch),
Inge Wettig-Danielmeier, Uta Zapf, Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Intensivierung der Beziehungen zwischen der Europäischen Union,
Lateinamerika und der Karibik

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest
1. Der Deutsche Bundestag bekräftigt seine Unterstützung für die Bildung der

biregionalen strategischen Partnerschaft zwischen den Ländern der Europäi-
schen Union und denen Lateinamerikas und der Karibik, die bei ihrem Tref-
fen am 28. und 29. Juni 1999 in Rio de Janeiro beschlossen wurde, und be-
grüßt die Fortsetzung des eingeleiteten Prozesses durch den bevorstehenden
zweiten Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Partnerländer in Madrid
am 17. und 18. Mai 2002. Dieses Treffen bietet beiden Partnern die Chance,
ihre in Rio beschworene „strategische Partnerschaft“ durch Konkretisierung
und Erweiterung der gemeinsamen Agenda zu aktualisieren, deutlicher aus-
zugestalten und ihr eine stärkere Dynamik zu verleihen. Eine engere Zusam-
menarbeit zwischen Europa und Lateinamerika/Karibik auf globaler, regio-
naler und subregionaler Ebene dient den Zielen und Interessen beider
Regionen und stärkt ihre Stellung in Weltwirtschaft und -politik. Sie schafft
die nötigen Voraussetzungen, damit beide Regionen den neuen politischen,
wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Herausforderungen, die im
Zuge der Globalisierung entstanden sind, wirksamer begegnen können.

2. Die Kooperation zwischen Lateinamerika/Karibik und Europa ist ein wichti-
ger Teil der transatlantischen Beziehungen. Sie orientiert sich am Leitbild
eines kooperativen und fairen Multilateralismus. Die Voraussetzungen für
eine enge biregionale Kooperation sind dabei aufgrund einer historisch ge-
wachsenen kulturellen Verbundenheit günstig. Beide Regionen bilden eine
Werte- und Interessengemeinschaft, die eine Übereinstimmung in einer Viel-
zahl politischer Fragen verbindet. Der parlamentarische Dialog, der sich in
einem System interparlamentarischer Konferenzen entfaltet, kann durch
neue Organisationsformen vertieft werden. Der biregionale Dialog ist unter-
halb der staatlichen Ebene von einem dichten Netzwerk zivilgesellschaft-

Drucksache 14/9051 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

licher Organisationen getragen, wie es für Europa in Bezug auf keine andere
Weltregion besteht.

3. Mit der Erklärung und dem Aktionsplan des ersten Gipfeltreffens der Staats-
und Regierungschefs der Europäischen Union, Lateinamerikas und der Kari-
bik unter der EU-Präsidentschaft der Bundesrepublik Deutschland in Rio de
Janeiro wurde zwar eine breite Grundlage zur Weiterentwicklung und Inten-
sivierung der beiderseitigen Beziehungen geschaffen, die praktische Imple-
mentierung der angeregten Maßnahmen blieb jedoch bis heute eher beschei-
den. Daher sind größere Anstrengungen und neue Impulse nötig, um die
gemeinsamen Aufgaben erfüllen und die angestrebten Ziele erreichen zu
können. Die protagonistische Rolle Deutschlands auf dem ersten biregiona-
len Gipfeltreffen in Rio begründet eine besondere Verantwortung unseres
Landes für den Folgeprozess zwischen den Regionen. Insgesamt muss die
„strategische Partnerschaft“ mit Lateinamerika und der Karibik auf europäi-
scher Seite als eine Gemeinschaftsaufgabe begriffen werden, an der sich alle
Mitgliedstaaten der EU aktiv beteiligen.

4. Die politischen Beziehungen zwischen Lateinamerika und Europa sind ge-
nerell frei von Spannungen. Diese Tatsache begünstigt eine Intensivierung
des politischen Dialogs. Fragen der äußeren und inneren Sicherheit und der
Verteidigung bedürfen künftig einer eingehenderen Behandlung, die die
Schaffung einer politischen Sicherheitspartnerschaft Europa-Lateinamerika
zum Ziel hat. Im Bereich der klassischen Sicherheitspolitik wurden zahlrei-
che Anregungen für vertrauensbildende Maßnahmen und die Transparenz
von Militärausgaben gegeben. Durch die Vorlage gemeinsamer Initiativen
zur Rüstungskontrolle und zur Kontrolle der Verbreitung von Kleinwaffen,
zur Rüstungsexportkontrolle, zur Nichtverbreitung von Massenvernich-
tungswaffen sowie weiterer Probleme im Bereich von Sicherheit und Vertei-
digung kann der sicherheitspolitische Dialog erweitert werden. Ferner
besteht eine gemeinsame Verantwortung für Europa und Lateinamerika bei
der Bekämpfung der organisierten Kriminalität und des Drogenhandels. Der
begonnene Menschenrechtsdialog muss intensiv fortgeführt werden. Der
Durchsetzung der Rechte der Frauen, von Minderheiten und der indigenen
Bevölkerungsgruppen kommt auch künftig eine große Bedeutung im biregi-
onalen Dialog zu.

5. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Regionen sind traditio-
nell eng. Sie sind aber trotz günstiger Ausgangsbedingungen im vergange-
nen Jahrzehnt, besonders im Hinblick auf den Anteil am Außenhandel
Lateinamerikas/Karibik, hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Die la-
teinamerikanischen Märkte zeichneten sich in den vergangenen Jahren
durch eine hohe Dynamik aus, an der europäische Unternehmen nicht in
gleicher Weise wie andere partizipierten. Im Bereich der ausländischen
Direktinvestitionen in Lateinamerika/Karibik hat Deutschland im Vergleich
mit anderen EU-Ländern sogar deutlich an Gewicht verloren. Im Gegensatz
dazu haben sich die ökonomischen Verflechtungen zwischen den amerikani-
schen Hemisphären stark verdichtet. Lateinamerika wird auch weiterhin
exzellente Chancen für die europäische Wirtschaft bieten. Deutschland und
Europa müssen mehr tun, um diese zu beiderseitigem Vorteil zu nutzen.

6. Im Bereich der europäischen Agrarpolitik ist es bisher nicht zu einem von
den lateinamerikanischen Ländern erwarteten Abbau von Subventionen und
protektionistischen Maßnahmen gekommen. Die Diskrepanz zwischen frei-
händlerischen Aussagen und wirtschaftlichem Handeln der EU behindert die
Fortentwicklung der gemeinsamen Handelsbeziehungen. Europäische Un-
ternehmen möchten auf den lateinamerikanischen Märkten stärker präsent
sein, daher müssen wir unsere Märkte für lateinamerikanische Agrar-
produkte öffnen.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/9051

7. Trotz festzustellender ökonomischer Fortschritte durch marktwirtschaftliche
Reformen bleibt Lateinamerika/Karibik die weltweit am stärksten von sozia-
len Disparitäten gekennzeichnete Region. Zwar haben sich die makroökono-
mischen Indikatoren verschiedener Volkswirtschaften verbessert, die Ar-
mutsschere hat sich im vergangenen Jahrzehnt jedoch insgesamt weiter
geöffnet. Die Bemühungen zur Bekämpfung der Armut und der strukturellen
sozialen Probleme Lateinamerikas und der Karibik müssen intensiv im
Wege der biregionalen Entwicklungszusammenarbeit fortgeführt werden.

8. Die Kulturbeziehungen zwischen Lateinamerika und Europa sind nach wie
vor eng und stellen damit mehr als nur eine hervorragende Grundlage zur
Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit der bei-
den Regionen dar. Traditionell sind am kulturellen und wissenschaftlichen
Austausch eine Vielzahl von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren be-
teiligt. Dennoch ist hier die gleiche fehlende Dynamik wie bei den wirt-
schaftlichen Austauschbeziehungen zu konstatieren. Auch im kulturellen
und insbesondere im wissenschaftlichen Bereich muss eine zunehmende
Orientierung zentral- und südamerikanischer Länder an den Vereinigten
Staaten von Amerika verzeichnet werden, die als Wissenschaftsstandort für
die dortigen Eliten vielfach attraktiver sind als Europa. Von europäischer
Seite werden die attraktiven Bildungsangebote lateinamerikanischer Ein-
richtungen nicht in befriedigendem Maße genutzt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,
1. im Hinblick auf die Konkretisierung der in Rio de Janeiro beschlossenen

„strategischen Partnerschaft“ auf einen nachhaltigen Ausbau der politischen,
wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zu Lateinamerika und der Ka-
ribik hinzuwirken und dieses Ziel sowohl in nationaler wie auch in euro-
päischer Perspektive zu verfolgen.

2. im Sinne einer Intensivierung der politischen Beziehungen darauf hinzuwir-
ken, dass gleichgerichtete Interessen der beiden Weltregionen vertieft und
künftig zum Ausgangspunkt gemeinsamer Initiativen in der Weltpolitik wer-
den, besonders in den Bereichen äußere und innere Sicherheit, illegale
Drogen, Bioethik, Umwelt- und Klimaschutz, Biodiversität, Menschen- und
Sozialrechte, Rüstungskontrolle, internationales Strafrecht. Die EU sollte ihr
Profil im Rahmen der transatlantischen Beziehungen stärken und gerade in
den lateinamerikanischen Krisenregionen, wie z. B. in Kolumbien oder
Argentinien, eine aktivere Rolle bei der zivilen Konfliktlösung übernehmen.

3. darauf hinzuwirken, dass innerhalb der europäischen Agrarpolitik protektio-
nistische Maßnahmen und Subventionen abgebaut werden, um mit Latein-
amerika und der Karibik einen Handel zu gewährleisten, der in beide Rich-
tungen frei ist und somit den Interessen beider Seiten entspricht. Darüber
hinaus sollte die Bundesregierung auf eine Verstetigung der bestehenden
Sonderpräferenzen für die Andenländer und die Länder Zentralamerikas im
Rahmen des Allgemeinen Präferenzsystems (APS) der EU hinwirken, so-
lange mit ihnen keine Assoziierungsabkommen geschlossen sind.

4. auf einen schnellen Abschluss der Assoziationsabkommen mit dem Merco-
sur und mit Chile hinzuwirken und insgesamt den Ausbau der ökonomi-
schen Kooperation mit den verschiedenen Integrationsräumen Lateinameri-
kas und der Karibik zu betreiben. Die EU kann dabei Lateinamerika und der
Karibik ihr Modell der Marktwirtschaft mit sozialem Interessenausgleich als
Orientierung anbieten. Auch können die Erfahrungen der EU beim Integra-
tionsprozess im Hinblick auf die verschiedenen Regionalisierungsbestrebun-
gen dort nutzbar gemacht werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Europa
in seinen Beziehungen zu Lateinamerika und der Karibik in einem Wett-

Drucksache 14/9051 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
bewerb mit den USA steht, die mit den lateinamerikanischen Ländern ein
gesamtamerikanisches Freihandelsabkommen (ALCA/FTAA) bis 2005 an-
streben.

5. mit den lateinamerikanischen und karibischen Ländern einen verstärkten
sicherheitspolitischen Dialog zu führen, dem ein neuer präventiver Sicher-
heitsbegriff zu Grunde liegt.

6. die Zusammenarbeit im Umweltbereich noch weiter zu intensivieren. Dabei
ist zu beachten, dass neben den Projekten zum Schutz der natürlichen Um-
welt und dem Ressourcenschutz in Zukunft verstärkte Anstrengungen im
Bereich erneuerbarer Energien und der städtischen Umwelt unternommen
werden müssen. In diesem Bereich liegen für europäische Unternehmen
beachtliche Geschäftschancen.

7. den kulturellen Dialog zwischen Lateinamerika, der Karibik und Europa als
einen wertorientierten Prozess zu intensivieren und stärker in einen globalen
Kontext zu stellen. Auf gleicher Augenhöhe sollten grundsätzliche Frage-
stellungen im Hinblick auf die neuen globalen Herausforderungen diskutiert
werden. Dadurch würde die derzeit festzustellende Asymmetrie in den
Kulturbeziehungen zu Ungunsten Lateinamerikas und der Karibik und dort
besonders der kleineren, wirtschaftlich schwächeren Länder aufgehoben
werden.
Eine verbesserte Koordinierung der Mittlerorganisationen kann zu einer In-
tensivierung des Dialogs beitragen. Dabei wären neue flexible Formen des
kulturellen Dialogs zu bevorzugen, die auch der in den jeweiligen Ländern
bestehenden Vielfalt an Initiativen und Trägern gerecht werden. Auf diese
Weise können die bestehenden europäisch-lateinamerikanischen Netzwerke
ausgebaut werden und gleichzeitig neue entstehen.

8. den wissenschaftlichen Austausch zwischen Lateinamerika, der Karibik und
Europa im Rahmen der finanzpolitischen Leitlinien zu fördern. Dies würde
u. a. bedeuten, die Arbeit der einzelnen europäischen Forschungsinstitute
und Universitäten, die sich mit Lateinamerika befassen, enger zu koordinie-
ren und finanziell besser zu unterstützen. Die Elitenförderung sollte durch
eine Erhöhung der Stipendien intensiviert werden. Die Förderung neuer
akademischer Laufbahnen und Abschlüsse kann dazu beitragen, die gegen-
seitige Anerkennung zu vereinfachen.

9. eine stärkere zivilgesellschaftliche Beteiligung der Politischen Stiftungen,
Kirchen, Gewerkschaften und NRO an den unter II. aufgeführten Koopera-
tionsbereichen zu fördern und zivilgesellschaftliche Organisationen stärker
an Regierungsaktivitäten zu beteiligen.

Berlin, den 15. Mai 2002
Dr. Peter Struck und Fraktion
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.