BT-Drucksache 14/8597

Aussteigerprogramm für Rechtsextremisten

Vom 19. März 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/8597
14. Wahlperiode 19. 03. 2002

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS

Aussteigerprogramm für Rechtsextremisten

Am 17. April vergangenen Jahres kündigte das Bundesministerium des Innern
(BMI) ein Aussteigerprogramm für Rechtsextremisten an. In der Pressemittei-
lung des BMI hieß es dazu: „Das Programm richtet sich an alle Angehörigen
der rechtsextremistischen Szene – von so genannten Führungspersonen bis hin
zu den ‚Mitläufern‘.“ Ziel sei es, „die rechtsextremistische Szene personell zu
schwächen und so die menschenverachtenden Aktivitäten einzudämmen. Mit
diesem weiten Ansatz soll auch einem Abdriften von Sympathisanten in die
Szene vorgebeugt werden. (…) Diese Initiative ist ein Baustein zur Erhöhung
der Inneren Sicherheit. Sie kann allerdings nur in engem Kontakt mit den Län-
dern zum Erfolg führen.“
In einem Interview mit der „FAZ.NET“ am 20. Februar 2001 sagte der Bundes-
minister des Innern, Otto Schily, auf die Frage, ob man „in Deutschland erst
rechtsradikal werden (müsse), um als Jugendlicher einen Arbeitsplatz zu be-
kommen“: „Es geht um ein Hilfsangebot an Personen, seien es Führungsfiguren
oder sei es das Fußvolk, das in dieser Szene sich organisiert, dazu zu ermuntern,
sich aus dieser rechtsextremen Szene zu lösen.“
In dem selben Interview erläuterte der Bundesminister, worin diese Hilfe beste-
hen könnte: „Es kann sein, dass man sagt, wir schaffen dir ein neues soziales
Umfeld, dadurch dass wir eine Wohnung verschaffen oder einen Arbeitsplatz an
anderer Stelle – bis hin zu durchaus materieller Hilfe, um ihn aus einer schwie-
rigen Situation herauszulösen und – wenn mit dem Ausstieg Gefährdungen ver-
bunden sind – auch Schutzmaßnahmen.“
Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel befürchtete laut „Berliner Zei-
tung“ vom 21. Februar 2001, „wenn man das Aussteigen subventioniert, dann
fördert man natürlich das Einsteigen“.
Der Bundesminister des Innern, Otto Schily, erläuterte gegenüber „FAZ.NET“
weiter: „Selbst das wäre für uns interessant, wenn jemand sagt, er kommt aus
dem inneren Kreis der NPD, und er will sich daraus lösen, und er will uns viel-
leicht sogar Informationen geben, und er will uns erklären, wie er auf diesen
Irrweg geraten ist, das alles kann für uns von Interesse sein.“
Ziel und Vorgehen des Aussteigerprogramms beschrieb Otto Schily: „Auf der
Bundesebene geht es vornehmlich um die Führungsfiguren, und auf Landes-
ebene geht es eher um das Fußvolk, wenn ich es so nennen darf. Dort ist einiges
an Personen unmittelbar im Visier. Schauen Sie in die Haftanstalten, schauen
Sie in Untersuchungshaftanstalten, schauen Sie sich an, was in Ermittlungs-
und Strafverfahren verwickelt ist. Das ist ein Personenkreis, der dafür in Be-
tracht kommt. Das sind Straftaten, die von Propagandadelikten bis zu schweren
Gewaltdelikten reichen.“ (FAZ.NET, 20. Februar 2001)

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Auch die Länder richteten im letzten Jahr Aussteigerprogramme für Rechts-
extremisten ein. Die Bundesregierung sieht den Aufbau eines Hilfsnetzes im
Bereich der Länder als Voraussetzung für das Aussteigerprogramm auf Bundes-
ebene an. Die Länderprogramme unterschieden sich hinsichtlich Vorgehens-
weise und Ausgestaltung. So hätten im Magdeburger Aussteigerprogramm ge-
zielte Gespräche mit allen Rechtsextremisten, die Gewalttaten begangen haben,
Priorität. Ausgenommen seien Personen, die eine Strafe verbüßen und gegen
die Ermittlungsverfahren laufen (Berliner Morgenpost, 14. Mai 2001). Baden-
Württemberg richtete ein polizeilich orientiertes Aussteigerprogramm ein, das
beim dortigen Landeskriminalamt angesiedelt wurde. Im Rahmen „Gefährder-
Ansprachen“ werde gezielt auf bekannte Rechtsextremisten zugegangen (DER
SPIEGEL, 19. Februar 2001, S. 17). Am 1. November 2001 nahm die zentrale
Anlaufstelle „Aussteigerhilfe Rechts“ der niedersächsischen Justiz ihre Arbeit
auf. Dieses Konzept sieht vor, Straftätern mit rechtsradikalem Hintergrund eine
verbesserte Hilfestellung zum Ausstieg aus ihrem Umfeld zu leisten (Pressemit-
teilung des Niedersächsischen Justizministeriums vom 31. Oktober 2001). Nie-
dersachsen, Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpom-
mern richteten ähnlich dem Aussteigerprogramm des Bundes eine Telefon-
Hotline ein (NWZ-online.de, 24. August 2001).
Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber und der saarländische Minister-
präsident Peter Müller unterstützten das Programm. Edmund Stoiber sagte
dazu, es gebe schon heute die Möglichkeit, Aussteiger als Zeugen zu gewinnen
(Berliner Zeitung, 21. Februar 2001). „SPIEGEL ONLINE“ schreibt dazu am
22. April 2001: „Viele Landesämter würden die Ausstiegswilligen viel lieber
als Quellen innerhalb der rechtsextremen Szene werben – was nach dem Kon-
zept des BfV (Bundesamt für Verfassungsschutz) allerdings ausgeschlossen ist.
Zumindest bereits als Spitzel angeworbene Neonazis sollen nicht angesprochen
werden, weil die Staatsschützer um ihre Informationszugänge fürchten.“

Wir fragen die Bundesregierung:
1. In welcher Höhe standen bzw. stehen in den Jahren 2001 und 2002 Bundes-

mittel für das Aussteigerprogramm zur Verfügung und wie schlüsselt sich
der Gesamtetat auf (bitte nach Jahren und Sachgebieten wie allgemeinen
Verwaltungskosten für das BfV, Kosten für Wohnungs-, Arbeitsplatzbe-
schaffung, finanzielle Unterstützung, Zeugenschutzprogramme etc. auf-
schlüsseln)?

2. Welchem Konzept folgt das Aussteigerprogramm des Bundes und worin un-
terscheidet es sich von den Programmen der Länder hinsichtlich der Ziele,
Vorgehensweise und Ausgestaltung?

3. Inwieweit sind die Aussteigerprogramme der Länder mit dem des Bundes
aufeinander abgestimmt bzw. bedingen die Länderprogramme das Bundes-
programm?

4. Warum wurde die Durchführung des Aussteigerprogramms einem Geheim-
dienst wie dem BfV übertragen, nicht aber einer Stelle der Kriminalitätsbe-
kämpfung, des Strafvollzugs, der politischen Bildung oder privaten Einrich-
tungen wie „Exit“?

5. Hat es im Vorfeld der Einrichtung des Aussteigerprogramms auf Bundes-
ebene einen Austausch mit bereits bestehenden Aussteigerprogrammen wie
z. B. „Exit“ gegeben?
a) Wenn ja, in welcher Form und mit welchem Ergebnis?
b) Wenn nein, warum nicht?

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6. Warum wurde das Aussteigerprogramm eingerichtet, obwohl es bereits
Aussteigerprogramme wie „Exit“ gibt, die mit zusätzlichen Mitteln hätten
ausgestattet werden können?

7. Wie viele Rechtsextremisten haben sich bisher bei der Telefon-Hotline des
BfV für Verfassungsschutzes gemeldet bzw. wurden vom Verfassungs-
schutz angesprochen (bitte für diese und alle folgenden Fragen nach Mona-
ten sowie nach Mitläufern, einfachen Mitgliedern, führenden Rechts-
extremisten/hohen Funktionären und Strafgefangenen aufschlüsseln)?
a) Wie viele der Anrufer bzw. Angesprochene gehörten rechtsextremisti-

schen Parteien (NPD/JN, DVU, Rep), neonazistischen Kameradschaf-
ten, der Skinhead-Szene oder anderen rechtsextremistischen Organisa-
tionen an (bitte aufschlüsseln)?

b) Welche Motive gaben die ausstiegswilligen Rechtsextremisten an, aus
der rechten Szene aussteigen zu wollen?

c) Wie viele Anrufe bzw. Ansprachen führten zu Treffen mit den ausstiegs-
willigen Rechtsextremisten?

d) Wie viele der Anrufer bzw. der Angesprochenen wurden in das Ausstei-
gerprogramm aufgenommen und werden heute vom Verfassungsschutz
betreut?

e) Wie viele Gespräche mit ausstiegswilligen Rechtsextremisten wurden
aus welchen Gründen abgebrochen?

f) Wie viele erfolgreiche Ausstiege hat es bis heute gegeben?
g) In wie vielen Fällen wurde ausstiegswilligen Rechtsextremisten ein Um-

zug in eine neue Wohnung finanziert, ein (neuer) Job, eine Lehrstellen,
Weiterbildungs- oder Umschulungsmaßnahme vermittelt?

h) In wie vielen Fällen erhielten ausstiegswillige Rechtsextremisten in wel-
cher Höhe finanzielle Unterstützung oder Kredite?

i) Gegen wie viele Rechtsextremisten, die in das Programm aufgenommen
wurden, liefen Ermittlungs- und Strafverfahren (bitte nach Straftaten
aufschlüsseln)?

j) In wie vielen Fällen wurden für ausstiegswillige Rechtsextremisten mil-
dere Strafen, vorzeitige Haftentlassung oder Haftverschonung erwirkt?

k) In wie vielen Fällen wurden ausstiegswillige Rechtsextremisten in Zeu-
genschutzprogramme aufgenommen?

8. In wie vielen Fällen wurden und werden ausstiegswillige Rechtsextremis-
ten vom Verfassungsschutz als Informanten über die rechte Szene „abge-
schöpft“ oder als V-Leute geführt?

9. In wie vielen Fällen erhielten ausstiegswillige Rechtsextremisten für Infor-
mationen über die rechte Szene welche Vergünstigungen?

10. In wie vielen Fällen wurden Rechtsextremisten nicht angesprochen, weil
sie als V-Leute des Verfassungsschutzes geführt wurden und man auf diese
Quellen zukünftig nicht verzichten wollte?

11. Welche Kriterien müssen laut Konzept des Aussteigerprogramms erfüllt
sein, um von einem erfolgreichen Ausstieg sprechen zu können?

12. Wie genau erfolgt die Vermittlung von Arbeitsplätzen, Lehrstellen, Weiter-
bildungs- oder Umschulungsmaßnahmen für ausstiegswillige Rechtsextre-
misten (z. B. gezieltes Ansprechen von Betrieben, Arbeitsplätze zur Verfü-
gung zu stellen)?

Drucksache 14/8597 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
13. Wie erfolgreich kann ein Aussteigerprogramm sein, das Rechtsextremisten
erst „ermuntern“ muss, sich aus der rechten Szene heraus zu lösen bzw. ist
die Chance für einen erfolgreichen Ausstieg nach Erkenntnis der Bundesre-
gierung nicht grundsätzlich größer, wenn sich Betroffene aus eigener Moti-
vation ohne „Ermunterung“ oder Anreize, einen (neuen) Job oder eine neue
Wohnung zu bekommen, melden?

14. Wie kann verhindert werden, dass Rechtsextremisten sich lediglich aus tak-
tischem Kalkül melden, um sich beispielsweise mildere Strafen oder Haft-
erleichterungen zu erkaufen?
Wurden Kontakte zu Rechtsextremisten aus diesem Grund abgebrochen
und wenn ja, in wie vielen Fällen?

15. Wird erwogen, den Ausstieg von Führungspersonen oder „einfachen“ Mit-
gliedern der rechten Szene ggf. öffentlich zu machen und wenn ja, warum,
bzw. wenn nein, warum nicht?

16. Hat die Einrichtung des Aussteigerprogramms zu einer Verunsicherung in
der rechten Szene geführt und woran misst die Bundesregierung dies ggf.?

17. Wie bewertet die Bundesregierung die Ergebnisse des Aussteigerpro-
gramms bis heute?

18. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussteigerprogramme der Länder
und das Zusammenwirken der Aussteigerprogramme auf Landesebene mit
dem auf Bundesebene?

Berlin, den 18. März 2002
Ulla Jelpke
Roland Claus und Fraktion

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