BT-Drucksache 14/8422

Haltung der Bundesregierung zur Reaktion der Türkei auf Forderungen nach Zulassung der kurdischen Sprache an Schulen und Hochschulen der Türkei

Vom 28. Februar 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/8422
14. Wahlperiode 28. 02. 2002

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS

Haltung der Bundesregierung zur Reaktion der Türkei auf Forderungen
nach Zulassung der kurdischen Sprache an Schulen und Hochschulen
der Türkei

Seit November letzten Jahres hat sich in der Türkei eine breite Auseinander-
setzung um die Zulassung der kurdischen Sprache an Schulen und Hoch-
schulen entwickelt. Nach Presseberichten sollen mehr als 20 000 Studierende,
Schülerinnen und Schüler sowie ihre Eltern an Schulen und Hochschulen in
türkischen und kurdischen Städten förmliche Anträge auf Zulassung des Kurdi-
schen als Unterrichtssprache eingereicht haben. Verschiedene Basisorganisatio-
nen, Gewerkschaften, Intellektuelle und Künstler haben sich der Kampagne an-
geschlossen. In Istanbul unterzeichnete ein Zusammenschluss von 12 Frauen-
organisationen Briefe an den türkischen Staatspräsidenten, an den Parlaments-
präsidenten und das Erziehungsministerium, in denen die Zulassung des
Kurdischen als Unterrichtssprache gefordert wird.
Die türkischen Behörden reagieren auf die Kampagne mit harter Repression.
Sie berufen sich dabei u. a. auf Artikel 42 der Verfassung der Republik Türkei
und ähnlich lautende Klauseln in den Schul- und Hochschulgesetzen. Artikel 42
der Verfassung der Republik Türkei schreibt vor, dass in Erziehungs- und
Bildungsinstitutionen türkischen Staatsbürgern als Muttersprache keine andere
Sprache als Türkisch beigebracht werden darf.
Etwa 2 000 Menschen sollen bisher kurzzeitig verhaftet worden sein, gegen
über 100 Personen wurde bereits Haftbefehl erlassen. Im Nationalen Sicher-
heitsrat, dem noch immer entscheidenden Machtorgan in der Türkei, sollen die
dort vertretenen Militärs die Kampagne als „separatistisch“ und als Teil einer
von ihnen bekämpften „Politisierung der PKK“ eingestuft haben.
Die prokurdische Tageszeitung „Özgür Politika“ berichtete Ende Januar, Mesut
Yilmaz, Vorsitzender der Partei ANAP, Staatsminister für den EU-Beitritt und
stellvertretender Ministerpräsident, habe die Kampagne als „Provokation“ ein-
gestuft und erklärt: „In der Türkei kann in keiner Sprache außer Türkisch Un-
terricht erteilt werden. Zu diesem Thema haben wir niemandem eine Garantie
abgegeben, und auch die EU hat an uns keine Forderung zu diesem Thema ge-
stellt.“ (Özgür Politika, 31. Januar 2002). Ministerpräsident Bülent Ecevit soll
nach der gleichen Zeitung erklärt haben: „Es kann nicht davon die Rede sein,
dass wir im Bereich des Erziehungswesens Zugeständnisse machen.“
Diese Reaktionen der türkischen Regierung stehen in klarem Widerspruch zu
den Kopenhagener Kriterien der EU für Beitrittskandidaten, in denen die Ach-
tung und der Schutz von Minderheiten gefordert wird. Auch in ihren diversen
„Fortschrittsberichten“ hat die EU-Kommission von der Türkei wiederholt
Korrekturen gefordert. So heißt es im Fortschrittsbericht 2000: „Die Türkei hat

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bis jetzt den Rahmenvertrag des Europarats zum Schutz Nationaler Minderhei-
ten nicht unterzeichnet und erkennt auch keine anderen Minderheiten als die an,
die im Lausanner Vertrag definiert sind. … Kulturelle Rechte für alle türki-
schen Staatsbürger, ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft, wie das Recht auf
Rundfunk in der Muttersprache, die Muttersprache zu lernen oder Unterricht in
der Muttersprache zu erhalten, werden nicht garantiert.“
Auch in internationalen Abkommen und Konventionen wie der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte, in der UN-Konvention über die Rechte des
Kindes, im UNESCO-Abkommen und der Europäischen Menschenrechtskon-
vention ist das Recht auf Unterricht und Erziehung in der Muttersprache garan-
tiert. Mehrere dieser Abkommen sind auch von der Türkei ratifiziert.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Kenntnisse über die seit Ende November erhobenen Forderungen,

über die Träger der Kampagne und über das Ausmaß der Aktionen an
Schulen und Hochschulen in der Türkei hat die Bundesregierung?

2. Wie viele Menschen haben sich nach Kenntnis der Bundesregierung an der
Kampagne bisher beteiligt?

3. Gegen wie viele Personen laufen nach Kenntnis der Bundesregierung straf-
rechtliche Schritte und auf welche Paragrafen der türkischen Verfassung
oder anderer Gesetze stützt sich diese Strafverfolgung?

4. Wie beurteilt die Bundesregierung diese Paragrafen der türkischen Verfas-
sung und einzelner Gesetze vor dem Hintergrund internationaler Konven-
tionen und der Kopenhagener Kriterien der EU für Beitrittskandidaten?

5. Wie viele Personen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung seit Be-
ginn der Kampagne verhaftet, wie viele von ihnen zu welchen Strafen ver-
urteilt?

6. Welche Organisationen unterstützen nach Kenntnis der Bundesregierung
diese Kampagne und wie reagieren die türkischen Behörden auf diese orga-
nisierte Unterstützung?

7. Hält die Bundesregierung die Forderung nach Zulassung des Kurdischen
als Unterrichtssprache an Schulen und Hochschulen für ein legitimes durch
internationale Konventionen geschütztes Anliegen?

8. Welche Schritte hat die Bundesregierung seit Beginn der Kampagne ergrif-
fen, um dieses legitime Anliegen zu unterstützen und die türkischen Behör-
den zu einer Beendigung ihrer Repressionen gegen diese Kampagne zu ver-
anlassen?

9. Welche Schritte hat die Europäische Kommission seit Beginn der Kampa-
gne ergriffen, um die türkischen Behörden zu einer Einstellung ihrer Re-
pression gegen diese Kampagne zu veranlassen?

10. Erwägt die Bundesregierung bei einer Fortsetzung der Repressionen ener-
gischere Maßnahmen – ggf. im Benehmen mit anderen EU-Staaten und der
Kommission der EU – gegenüber der türkischen Regierung?
Wenn ja, welche Maßnahmen erwägt die Regierung im Einzelnen?
Wenn nein, warum nicht?

11. Erwägt die Bundesregierung – ggf. im Benehmen mit anderen EU-Staaten –
eine Unterbrechung von finanziellen Zahlungen der Bundesrepublik
Deutschland und der EU, falls die türkischen Behörden ihre repressive
Politik gegenüber dieser Kampagne fortsetzen?

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/8422

12. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass eine Beibehaltung der
türkischen Politik in dieser Frage unvereinbar ist mit einem EU-Beitritt der
Türkei und diesen Beitritt direkt gefährdet?

Berlin, den 27. Februar 2002
Ulla Jelpke
Roland Claus und Fraktion

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