BT-Drucksache 14/8029

Weißbuch der Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Strategie für eine zukünftige Chemikalienpolitik

Vom 22. Januar 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/8029
14. Wahlperiode 22. 01. 2002

Antrag
der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Dr. Peter Paziorek, Dr. Klaus W. Lippold
(Offenbach), Matthias Wissmann, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Cajus Caesar,
Marie-Luise Dött, Dr. Hansjürgen Doss, Klaus Francke, Erich G. Fritz, Georg
Girisch, Kurt-Dieter Grill, Ulrich Klinkert, Helmut Lamp, Dr. Paul Laufs, Vera
Lengsfeld, Bernward Müller (Jena), Elmar Müller (Kirchheim), Franz Obermeier,
Friedhelm Ost, Dr. Bernd Protzner, Christa Reichard (Dresden), Hans-Peter
Repnik, Dr. Heinz Riesenhuber, Hartmut Schauerte, Karl-Heinz Scherhag,
Hans Peter Schmitz (Baesweiler), Max Straubinger, WernerWittlich, DagmarWöhrl
und der Fraktion der CDU/CSU

Weißbuch der Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Strategie für eine
zukünftige Chemikalienpolitik

Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Im Februar 2001 hat die Europäische Kommission ihr Weißbuch „Strategie für
eine zukünftige Chemikalienpolitik“ vorgelegt. Mit dem Weißbuch wird eine
grundlegende Neuorientierung der gesamten europäischen Chemikaliengesetz-
gebung erarbeitet. Zentrales Element der vorgeschlagenen Regelungen ist die
Einführung eines Systems zur Registrierung, Bewertung und Zulassung aller in
der EU hergestellten, importierten und verwendeten Chemikalien (REACH-
System). Nach dem Vorschlag der Kommission sollen die Hersteller bzw. Im-
porteure von Stoffen innerhalb bestimmter, nach Produktionsmengen gestufter
Fristen, die Stoffe unter Angabe von Prüfdaten, Verwendungszwecken, Risiko-
bewertungen und Risiko-Management-Maßnahmen in einem zentralen euro-
päischen Register registrieren. Für großvolumige Stoffe ist darüber hinaus ein
Bewertungsverfahren der eingereichten Informationen durch die zuständigen
Behörden vorgesehen. Bestimmte besorgniserregende Stoffe sollen nach dem
Vorschlag der EU-Kommission künftig nur nach einer vom Hersteller oder Im-
porteur zu beantragenden Autorisierung durch die entsprechenden Behörden
produziert, importiert oder verwendet werden dürfen.
Der Deutsche Bundestag begrüßt grundsätzlich die Initiative der Europäischen
Kommission und unterstützt die Ziele des Weißbuchs, denn das heute existie-
rende Chemikalienrecht ist in viele Einzelrichtlinien aufgesplittert, unübersicht-
lich und im Vollzug unnötig bürokratisch und ineffizient geworden.
Besonders Deutschland ist durch die Bedeutung seiner chemischen Industrie
einerseits und die sich aus Bevölkerungszahl und -dichte ergebende Bedeutung
der Umwelt-, Verbraucher- und Arbeitsschutzaspekte andererseits in hervorge-
hobenerWeise betroffen. Eine Verbesserung des Chemikalienrechts ist daher aus
deutscher Sicht für Europa längst überfällig. Die EU-Kommission hat dazu mit
dem von ihr ausgearbeiteten Weißbuch einen ersten wichtigen Impuls gegeben.

Drucksache 14/8029 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Die imWeißbuch getroffene Weichenstellung zu einer systematischen Überprü-
fung neuer und alter Stoffe stellt eine Korrektur des alten Konzepts dar und ist
eine gute Basis, um die Defizite des geltenden Chemikalienrechts zu beseitigen.
In Übereinstimmung mit dem Umweltministerrat (Entschließung vom Juni
1999) überträgt das Weißbuch die Verantwortung für Risikobewertungen der In-
dustrie und sieht die Rolle der Behörden in der Kontrolle dieser Bewertungen.
Die Vorschläge des Weißbuchs weisen jedoch erhebliche Schwachpunkte und
offene Fragen auf, z. B. bei der Abgrenzung der Verantwortungsbereiche von
Herstellern, Weiterverarbeitern und Anwendern: bei den Anforderungen für im-
portierte Erzeugnisse und insbesondere bei den zu vagen Formulierungen zum
Zulassungsverfahren, das nach der derzeitigen Lage zu einem unvertretbar
hohen bürokratischen Aufwand führen würde.
Deutschland zählt im Bereich der Chemie zu den führenden Industrienationen
der Welt. Mehr als ein Viertel der Umsätze innerhalb der EU wird in Deutsch-
land erzeugt, das damit nach den USA und Japan der weltweit größte Chemie-
produzent ist. Die chemische Industrie in unserem Land ist der fünftgrößte
Arbeitgeber des verarbeitenden Gewerbes. Die deutsche Chemie ist auch in
weitem Umfang mittelständisch strukturiert. Es ist deshalb unerlässlich, die
Auswirkungen der Pläne des Weißbuchs auch auf die Innovations- und Wett-
bewerbsfähigkeit der deutschen Chemie und der Wirtschaft insgesamt und die
Folgen der geplanten Neuregelungen vor allem auch für kleine und mittelstän-
dische Unternehmen genau zu prüfen und zu bewerten. So könnte die Down-
stream-user-Problematik gerade für kleine und mittelständische Unternehmen
aller Branchen zur Folge haben, dass eine hoher Anteil der Unternehmen bei
Anwendung des Weißbuchs vom Markt verschwinden würden. Denn aufgrund
der Vorgaben zum Risk Assessment in jedem Anwendungsbereich, den die EU
derzeit vorgibt, bedeutet dies, dass auch ein Handwerksunternehmen, z. B. ein
Malereibetrieb für seine Farben und Lacke, ein solch umfangreiches Verfahren
durchführen müsste.
Bundesregierung und Deutscher Bundestag müssen daher das Ziel verfolgen,
für Mensch und Umwelt europaweit mehr Sicherheit im Umgang mit Chemika-
lien zu gewährleisten, dafür aber möglichst effiziente und praktikable Regelun-
gen finden, die auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie insge-
samt und der chemischen Industrie insbesondere bewahrt. In diesem Sinne
muss die Bundesregierung daher in den anstehenden Verhandlungen auf ent-
sprechende Klarstellungen und Nachbesserungen hinwirken.
Dies bedeutet im Einzelnen:
– möglichst schnell einheitliche und für alle Mitgliedstaaten verbindliche Re-

gelungen für die zukünftige Chemikalienpolitik zu finden. Es ist daher dem
Erlass von EU-Verordnungen der Vorzug zu geben, die sofortige und gleiche
Wirkung in allen Mitgliedstaaten haben.

– Das vorgeschlagene Zulassungsverfahren für Stoffe mit besonders gefährli-
chen Eigenschaften (CMR-Stoffe) sowie für POP-Substanzen dürfte zu
erheblichen Entscheidungsverzögerungen führen und die Kosten für die
Industrie dramatisch erhöhen. Es wird zu massiven Wettbewerbsnachteilen
in der gesamten Wertschöpfungskette der europäischen Industrie gegenüber
anderen Wirtschaftsregionen führen, die solche Zulassungsverfahren nicht
kennen und die, wie zum Beispiel die USA, mit einem Anzeigeverfahren für
bedeutsame Änderungen beim Einsatz von Chemikalien pragmatische und
sichere Lösungen gefunden haben.
Das im Weißbuch vorgeschlagene System muss pragmatisch, praxisgerecht
und kosteneffizient ausgestaltet werden, wobei darauf zu achten ist, dass be-
reits eingeführte und bewährte Instrumentarien sowie bereits vorliegende
Datenbestände vordringlich genutzt werden. Insbesondere kleine und mittel-
ständische Unternehmen dürfen nicht durch unverhältnismäßig hohe Anfor-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/8029

derungen in ihrer Wettbewerbsfähigkeit und damit in ihrer Existenz gefähr-
det werden.
Die vorgesehene Registrierung und Bewertung von Stoffen im Rahmen des
REACH-Systems wird dabei die Datenlage über Stoffe soweit verbessern,
dass künftige Entscheidungen über notwendige Schutzmaßnahmen, Ver-
wendungsbeschränkungen und Verwendungsverbote schnell und effektiv
möglich sein werden. Dabei sollten Verwendungen von Substanzen, die zu
besonderen Risiken führen könnten, vorrangig nach Ausschöpfung von Risk
Assessment und Risk Management einer Bewertung und Entscheidungen
von Verboten und Beschränkungen zugeführt werden (Rapid Restriction).

– Im Rahmen der weiteren Verhandlungen über das Weißbuch ist darauf hin-
zuwirken, dass für Stoffe mit einem Verwendungs- bzw. Importvolumen von
mehr als 1 000 Tonnen pro Jahr kurzfristige Regelungen getroffen werden.

– Zum Schutz der kleinen und mittleren Unternehmen ist die eingeführte
Mengenschwelle von 10 Jahrestonnen als Untergrenze für die Durchführung
aufwendiger Untersuchungen im Rahmen der Basisbeschreibung beizube-
halten.

– Für chemische Stoffe in importierten Erzeugnissen gelten nicht die gleichen
Anforderungen wie für chemische Stoffe, die in Reinform oder in Gemi-
schen auf den EU-Markt gebracht und dort weiterverarbeitet werden. Die
Kommission macht bislang keine ausreichenden Vorschläge, wie diese
Sicherheitslücke zu schließen ist. Eine Regelung für diesen Bereich der che-
mischen Stoffe ist jedoch unerlässlich. Viele der im Ausland hergestellten
Produkte enthalten chemische Substanzen, deren Auswirkungen auf Mensch
und Umwelt ohne eine Prüfung unbekannt blieben. An der derzeitigen Situ-
ation würde sich ohne eine Regelung für diesen Bereich nichts ändern, was
zu einer Wettbewerbsverzerrung zu Lasten europäischer und insbesondere
deutscher Wirtschaft führt.

– Die Verantwortung für die Bereitstellung von Risikobewertungen, Informa-
tionen über Expositionen und Wirkungen sowie zu Risikominderungsmaß-
nahmen muss bei Herstellern, Importeuren und Anwendern liegen. Die Ver-
lagerung der Verantwortlichkeit auf die Industrie und die Anwender wird
unterstützt. Es müssen jedoch noch eindeutige Kriterien und Abgrenzungen
für die Verantwortungsbereiche von Herstellern, Weiterverarbeitern und An-
wendern erfolgen.

– Das von der Kommission vorgeschlagene Recht der Öffentlichkeit auf Zu-
gang zu Informationen über Stoffe muss so ausgestaltet sein, dass einerseits
dem Informationsbedürfnis der Verbraucher, andererseits dem Schutzbe-
dürfnis der Hersteller an vertraulichen Informationen Rechnung getragen
wird. Andererseits bedarf es praktikabler Vorschläge für die künftige Rege-
lung von Eigentumsrechten an Prüfdaten, um Unternehmen vor in- und aus-
ländischen Wettbewerbern zu schützen, die den gleichen Stoff vermarkten
wollen, ohne aufwendige Prüfungen und Bewertungen vorzunehmen.

– Hilfreich wäre eine Institution zur Beratung und Förderung kleiner und mit-
telständischer Unternehmen für das Chemikalienmanagement einzurichten.
Eine solche Institution sollte kleine Unternehmen direkt bei den Verfahrens-
schritten zur Registrierung und Evaluierung unterstützen. Ähnlich wie in
Japan, das die Finanzierung der Altstoffprüfung für die Unternehmen ins-
gesamt übernimmt, sollten für diese Unternehmen finanzielle Mittel im Ein-
zelfall zur Verfügung gestellt werden.

– Die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen, aber auch der eu-
ropäischen Industrie muss im weltweiten Vergleich erhalten und gestärkt
werden. Dabei ist auch sicherzustellen, dass die Ergebnisse der umfangrei-
chen, freiwilligen Stoffanalysearbeiten der deutschen Chemie in den vergan-
genen Jahren in das europäische Verfahren eingebracht werden können.

Drucksache 14/8029 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, bei den anstehen-
den Verhandlungen darauf hinzuwirken,

1. dass die Kommission die Umsetzung der neuen Chemikalienpolitik in
Form von Rechtsverordnungen vornimmt,

2. dass zu dem vorgeschlagenen Zulassungsverfahren für besonders gefähr-
liche Stoffe (POPs und CMR-Stoffe) unbürokratische Alternativen ent-
wickelt werden,

3. dass Stoffe mit besonderen Risiken nach Ausschöpfung von Risk Assess-
ment und Risk Management einer vorrangigen Bewertung und Entschei-
dung zugeführt werden,

4. dass für Stoffe mit einem Import- bzw. Verwendungspotential von mehr als
1 000 Tonnen pro Jahr kurzfristige Regelungen für die Registrierung und
Evaluierung getroffen werden,

5. dass die Sicherheitslücken bezüglich importierter chemischer Stoffe sowie
von Stoffen in importierten Erzeugnissen geschlossen werden,

6. dass die Verantwortungsbereiche von Herstellern und nachgelagerten Ver-
arbeitern (Down-stream-user) bei der Risikobewertung genau voneinander
abgegrenzt werden,

7. dass ein möglichst kurzer Bewertungszeitraum für die Erfassung aller
Stoffe vorgesehen wird,

8. dass praktische Vorschläge für die künftige Regelung von Eigentumsrech-
ten an allen Daten einerseits und für eine vernünftige Informationspflicht
andererseits erstellt werden,

9. dass kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht unverhältnismäßig
hohe Anforderungen durch umfangreiche Verfahren auferlegt werden,

10. dass eine Institution zur Beratung und Förderung kleiner und mittlerer Un-
ternehmen eingerichtet wird,

11. dass die neuen Regelungen so gestaltet werden, dass die Innovations- und
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und europäischen Industrie verbessert
wird.

Berlin, den 12. Dezember 2001
Dr. Christian Ruck
Dr. Peter Paziorek
Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach)
Matthias Wissmann
Wolfgang Börnsen (Bönstrup)
Cajus Caesar
Marie-Luise Dött
Dr. Hansjürgen Doss
Klaus Francke
Erich G. Fritz
Georg Girisch
Kurt-Dieter Grill
Ulrich Klinkert
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Vera Lengsfeld

Bernward Müller (Jena)
Elmar Müller (Kirchheim)
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Dr. Bernd Protzner
Christa Reichard (Dresden)
Hans-Peter Repnik
Dr. Heinz Riesenhuber
Hartmut Schauerte
Karl-Heinz Scherhag
Hans Peter Schmitz (Baesweiler)
Max Straubinger
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Friedrich Merz, Michael Glos und Fraktion

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