BT-Drucksache 14/802

Behandlung von Kosovo-Flüchtlingen durch deutsche Stellen vor und nach Beginn der NATO-Luftangriffe

Vom 16. April 1999


Deutscher Bundestag: Drucksache 14/802 vom 16.04.1999

Kleine Anfrage der Fraktion der PDS Behandlung von Kosovo-Flüchtlingen
durch deutsche Stellen vor und nach Beginn der NATO-Luftangriffe =

16.04.1999 - 802

14/802

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS
Behandlung von Kosovo-Flüchtlingen durch deutsche Stellen vor und nach
Beginn der NATO-Luftangriffe

Am 7. April 1999 meldete dpa aus Skopje, albanische Flüchtlinge seien
mittels einer von der NATO organisierten Luftbrücke "oft gegen ihren
Willen in die Türkei und nach Norwegen gebracht" worden. Am 8. April
1999 berichtete die albanische Nachrichtenagentur ATA, etwa 14 000
Flüchtlinge, die in der Nacht zum Mittwoch aus einem Flüchtlingslager
nahe der Grenzstadt Blace entfernt wurden, seien "gegen ihren Willen
und mit Gewalt abtransportiert" worden. Einige dieser Flüchtlinge waren
kurz darauf laut BBC "auf dem Weg in die Türkei, nach Norwegen oder
Deutschland".
Auch die Flüchtlingsbetreuung in den Grenzgebieten zum Kosovo scheint
zu erheblichen Teilen in der Entscheidungsgewalt von militärischen
Organen der NATO bzw. der Bundeswehr zu liegen. Die Hilfsflüge der
Bundeswehr wurden laut Angaben des Bundesministeriums der Verteidigung
von Bundesminister Rudolf Scharping angeordnet -- von einer Abstimmung
mit dem UNHCR, mit dem Internationalen Roten Kreuz und anderen
internationalen, für die Flüchtlingsbetreuung zuständigen
Organisationen ist in diesen Angaben nirgends die Rede. Auch die
Errichtung von Flüchtlingslagern durch Einheiten der Bundeswehr --
eines in Tetovo ist schon errichtet, ein zweites soll in den nächsten
Tagen nahe der südalbanischen Stadt Korca folgen -- scheint die
Bundeswehr nach eigenem Gutdünken zu entscheiden.
Auch türkische militärische Stellen sind offenbar mit der
Flüchtlingsbetreuung befaßt. Staatspräsident Demirel verkündete nach
einem Albanien-Besuch, sein Land habe bereits 6 000 albanische
Flüchtlinge aufgenommen, türkische Soldaten würden in der albanischen
Stadt Elbasan ein Flüchtlingslager für 6 000 Flüchtlinge errichten,
auch in Mazedonien sei ein Lager geplant (dpa, 11. April 1999).
Die "humanitäre Hilfe" der Bundeswehr und anderer deutscher Stellen
nach dem Beginn der Bombenangriffe steht in auffälligem Kontrast zur
vorherigen Behandlung von Kosovo-Flüchtlingen. 1998 lag die
Anerkennungsquote für Flüchtlinge aus dem Kosovo in bundesdeutschen
Asylverfahren nur bei 2,5 %, d. h. 97,5 % aller Asylanträge wurden
abgewiesen.
Im Lagebericht des Auswärtigen Amts über die Situation im Kosovo hieß
es nach Presseberichten noch am 18. November 1998, also einen Monat
nach dem Beschluß des Deutschen Bundestages über eine Beteiligung an
NATO-Militäraktionen gegen Jugoslawien -- angeblich "zur Abwendung
einer humanitären Katastrophe im Kosovo": "Die Wahrscheinlichkeit, daß
Kosovo-Albaner im Falle ihrer Rückkehr in ihre Heimat massiven
staatlichen Repressionen ausgesetzt sind, ist insgesamt als gering
einzuschätzen." Wenn Gerichte trotzdem die Abschiebung albanischer
Flüchtlinge verhinderten, gab es massive Politikerschelte, z. B. durch
den bayerischen Innenminister Dr. Günther Beckstein (SPIEGEL, 15/99, S.
38).
Am 31. März 1999 hieß es dann im Lagebericht des Auswärtigen Amts nach
Presseberichten auf einmal, seit 1990 betreibe der jugoslawische
Präsident Milosevic "die Etablierung eines Apartheidsystems" im Kosovo.
Seit März 1998 hätten Milosevics Sicherheitskräfte eine "gezielte
Vertreibungsstrategie" und eine "Politik der verbrannten Erde" begonnen
mit dem Ziel, Albanern den "Verbleib in ihren Häusern und Dörfern
unmöglich" zu machen (alle Zitate aus SPIEGEL, 15/99, S. 39).
Trotzdem hat z. B. das Nürnberger Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge noch bis unmittelbar vor Ausbruch des
Krieges, sogar nach Kriegsbeginn Ablehnungsbescheide für Flüchtlinge
aus dem Kosovo verschickt (ebenda).
Auch die von den Innenministern vereinbarte befristete Aufnahme von 10
000 Kosovo-Flüchtlingen bedeutet keineswegs, daß diese Asyl erhalten.
Nach Presseberichten sollen die Flüchtlinge vielmehr einen auf drei
Monate befristeten "vorläufigen Aufenthaltsstatus" bekommen, wobei
dieser nur vergeben wird, wenn kein Asylantrag gestellt wird. Selbst
diese befristete Aufnahme ohne jeden Asylanspruch scheint manchen zu
weit zu gehen. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU/CSU)
hat verlangt, "nur medizinische Notfälle nach Deutschland einfliegen
(zu) lassen" (ADN, 11. April 1999), die nach erfolgter medizinischer
Behandlung sofort wieder nach Mazedonien oder Albanien zurückgebracht
werden sollen.
Wir fragen die Bundesregierung:
1. Trifft es zu, daß der Lagebericht vom 31. März 1999 des
Auswärtigen Amts zu dem Urteil kommt, seit 1990 habe die Regierung
Milosevic eine systematische "Apartheidpolitik" im Kosovo begonnen?
a) Wenn nein, welche Beurteilung der Situation im Kosovo wird in
diesem letzten Lagebericht des Auswärtigen Amts vorgenommen?
b) Wenn ja, gab es auch in früheren Lageberichten eine solche
Beurteilung der Situation im Kosovo (bitte die Berichte im einzelnen
nennen und ihre Beurteilung der Situation darstellen)?
2. Wie viele Flüchtlinge aus dem Kosovo sind seit 1990 auf welche
Weise in die Bundesrepublik Deutschland gekommen?
3. Wie vielen Flüchtlingen aus dem Kosovo wurde seit 1990 an
bundesdeutschen Grenzen die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland
verweigert und warum?
4. Wie hoch war seit 1990 die Zahl der jährlich gestellten
Asylanträge von Kosovo-Flüchtlingen, und wie hoch war die
Anerkennungsquote bei diesen Anträgen (bitte Angaben für jedes Jahr)?
5. Wie viele Flüchtlinge aus dem Kosovo wurden seit 1990 aus der
Bundesrepublik Deutschland abgeschoben bzw. zur Ausreise aufgefordert?
6. Sofern Abschiebungen erfolgten: Wohin wurden die Flüchtlinge aus
dem Kosovo abgeschoben?
7. Welche Beurteilung der Situation im Kosovo und von Flüchtlingen
aus dem Kosovo und den Motiven und Hintergründen ihrer Flucht
enthielten die vom BGS erstellten Sonderlageinformationen "Afghanistan,
Irak und Kosovo" (Drucksache 14/720 vom 1. April 1999, S. 3) in den
Jahren 1990 bis 1999?
8. Stimmt es, daß das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge (BAFl) in Nürnberg noch unmittelbar vor Beginn der NATO-
Militärangriffe auf Jugoslawien Asylanträge albanischer Flüchtlinge
abwies und sogar nach Beginn der Bombardierungen solche Abweisungen
verschickte?
9. a) Wie viele Asylanträge von Flüchtlingen aus dem Kosovo hat das
Bundesamt in den Jahren 1990 bis 1999 bearbeitet (bitte nach Jahren
aufschlüsseln)?
b) Wie viele dieser Asylanträge hat der Bundesbeauftragte ablehnend
beschieden (bitte nach Jahren aufschlüsseln)?
c) Wie viele dieser Ablehnungsbescheide wurden seit dem 16. Oktober
1998, also seit dem Beschluß des Deutschen Bundestages zur Beteiligung
an NATO-Militäreinsätzen zur "Abwendung einer humanitären Katastrophe
im Kosovo", und bis zum Beginn der NATO-Luftangriffe verschickt?
d) Wurden auch nach dem Beginn der NATO-Luftangriffe noch weitere
Ablehnungsbescheide verschickt, und wenn ja, wie viele und mit welcher
Begründung?
10. Hält die Bundesregierung eine solche Asylverweigerung gegenüber
Flüchtlingen aus dem Kosovo auch nach dem 16. Oktober 1998 für
vereinbar mit ihren gleichzeitigen Erklärungen, NATO-Bombenangriffe
gegen Jugoslawien seien "zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im
Kosovo" unvermeidbar?
Wenn nein, wie beurteilt die Bundesregierung diese offensichtliche
Diskrepanz zwischen ihrer eigenen Asylpolitik und ihrer militärischen
Außenpolitik?
11. Wie will die Bundesregierung dem Eindruck entgegentreten, daß das
in den letzten Tagen zu beobachtende geänderte Verhalten gegenüber
Flüchtlingen aus dem Kosovo einzig deshalb erfolgte, um die NATO-
Luftangriffe gegen Jugoslawien zu legitimieren?
12. a) Warum hat sich der Bundesminister des Innern, Otto Schily,
bei seinem Besuch am Ostersonntag in Tirana dafür eingesetzt, "100 000
Vertriebene, die zur Zeit in Mazedonien Zuflucht gefunden haben, in
Albanien aufzunehmen" (aus der Pressemitteilung des Bundesministeriums
des Innern vom 6. April 1999)?
b) Kann die Bundesregierung Presseberichte bestätigen, wonach
mazedonische Stellen die Rekrutierung von UCK-Kämpfern unter den
albanischen Flüchtlingen behindern?
c) Sollen deshalb die albanischen Flüchtlinge von Mazedonien nach
Albanien verlegt werden?
13. a) Stimmt es, daß "die Bundesregierung Fakten über Greuel,
besser noch Bilder von Grausamkeiten, die Milosevics Schergen begangen
haben" (SPIEGEL, 15/99, S. 29) braucht und "Elendsbilder, die zur
politisch-moralischen Rechtfertigung des Militäreinsatzes unerläßlich
sind", sucht (ebenda)?
b) Hat der Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping, deshalb
die Informationspolitik der NATO öffentlich gerügt?
c) Wie viele Beamte der Bundesregierung bzw. Bundeswehrangehörige
sind mit der Befragung der Flüchtlinge aus dem Kosovo über die Gründe
und Umstände ihrer Flucht seit Beginn der NATO-Luftangriffe befaßt?
Welche Stellen sind damit genau befaßt (bitte Ministerien oder
Behörden genau auflisten)?
d) Wohin werden die Ergebnisse dieser Befragungen geschickt?
e) Wann und in welcher Weise werden die Abgeordneten des Deutschen
Bundestages über die Ergebnisse dieser Befragungen unterrichtet?
14. Warum haben die Innenminister und -senatoren von Bund und Ländern
am 6. April 1999 die vorübergehende Aufnahme von 10 000 Flüchtlingen
aus dem Kosovo beschlossen?
a) Auf welcher Rechtsgrundlage wurde dies beschlossen?
b) Stimmt es, daß die vorübergehende Aufnahme dieser Flüchtlinge
daran gebunden ist, daß diese keinen Asylantrag hier stellen?
Wenn ja, warum?
c) Warum wurde die Zahl der Aufzunehmenden auf 10 000 begrenzt?
d) Ist eine Überprüfung dieser Zahl geplant?
Wenn ja, wann und wie soll diese Überprüfung erfolgen?
e) Wie lange ist die Aufnahme der Flüchtlinge aus dem Kosovo
befristet?
f) Wann und wie soll über eine eventuelle Verlängerung der Aufnahme
beraten werden?
g) Wie hoch sind die Kosten für die Aufnahme dieser Flüchtlinge für
Bund, Länder und Kommunen?
h) Aus welchen Haushaltstiteln will das Bundesministerium des Innern
diese Kosten bestreiten?
i) Werden zur Finanzierung dieser vorübergehenden Aufnahme
Haushaltsmittel für die Aufnahme von Flüchtlingen aus anderen Ländern
gekürzt oder gestrichen?
Wenn ja, welche Titel sind davon betroffen?
15. a) Wie hoch sind -- verglichen mit den jetzt entstehenden Kosten
der Unterbringung von 10 000 Kosovo-Flüchtlingen in Deutschland und der
Versorgung der Kosovo-Flüchtlinge auf dem Balkan -- die bisherigen
militärischen Kosten der Luftangriffe auf Jugoslawien für den deutschen
Staatshaushalt?
b) Welche Mittel werden von NATO und EU für die Unterbringung und
Versorgung der Flüchtlinge aus dem Kosovo in den angrenzenden Ländern
ausgegeben?
c) Welche Kosten sind der NATO vergleichsweise durch die bisherigen
Militäreinsätze gegen Jugoslawien entstanden?
16. Haben vor der Entscheidung über die Aufnahme dieser 10 000
Flüchtlinge aus dem Kosovo Konsultationen mit NATO-Stellen
stattgefunden?
Wenn ja, welche Wünsche wurden von militärischer Seite an die
Bundesregierung diesbezüglich gerichtet?
17. a) Auf welchen Beratungen der NATO bzw. der NATO-Außen- und -
Verteidigungsminister und militärischer Stellen der NATO wurde die
Behandlung der Flüchtlinge aus dem Kosovo seit Anfang März erörtert
(bitte die Beratungen im einzelnen nennen)?
b) Welche Empfehlungen hinsichtlich der Behandlung der Flüchtlinge
aus dem Kosovo waren Ergebnis dieser Beratungen?
c) Sieht die Bundesregierung die Sicherheit der Flüchtlinge in den
Grenzgebieten zum Kosovo gewährleistet, oder welche anderen
Überlegungen haben dazu geführt, daß die Flüchtlinge vor allem in den
Grenzgebieten in Lagern untergebracht sind?
d) Warum wurden diese Empfehlungen nicht dem Innenausschuß des
Deutschen Bundestages zugeleitet?
18. In welcher Weise und seit wann wurden der UNHCR, das
Internationale Rote Kreuz und andere internationale Organisationen für
die Betreuung von Flüchtlingen in die Beratungen und Entscheidungen der
Bundesregierung und der NATO hinsichtlich der Behandlung der
Flüchtlinge aus dem Kosovo einbezogen?
a) Hat es solche Konsultationen überhaupt gegeben?
Wenn ja, wann, wo und mit welchen Beteiligten?
Wenn nein, warum nicht?
b) Lagen dem Bundesministerium der Verteidigung vor der Entscheidung
über die "humanitären Hilfsflüge" der Bundeswehr Hilfeersuchen der oben
genannten Stellen oder anderer Stellen vor?
Welche Hilfeersuchen waren das genau?
c) Welche Anforderungen seitens internationaler, für die Betreuung
von Flüchtlingen zuständiger Organisationen und Stellen lagen bei der
Entscheidung der Bundeswehr zur Errichtung der Flüchtlingslager in
Tetovo und Korca vor?
19. Hält die Bundesregierung die Entscheidungsgewalt militärischer
Stellen bei Fragen der Versorgung und Unterbringung von Flüchtlingen
für vereinbar mit der Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen?
20. a) Wann hat in den Augen der Bundesregierung eine "humanitäre
Katastrophe" ein solches Ausmaß erreicht, daß Luftangriffe der NATO
analog wie nun gegen Jugoslawien erforderlich und gerechtfertigt sind,
und wann nicht?
b) Gilt dieser Grundsatz nur für europäische Gebiete oder auch für
andere Erdteile?
c) Liegt die Türkei innerhalb oder außerhalb dieser regionalen
Begrenzungen?
d) In welchen Gebieten der Welt haben Vertreibungen und Unterdrückung
von großen Bevölkerungsgruppen nach Auffassung der Bundesregierung ein
solches Ausmaß erreicht, daß NATO-Luftangriffe eigentlich erforderlich
sind?
Bonn, den 13. April 1999
Ulla Jelpke
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

16.04.1999 nnnn

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