BT-Drucksache 14/7791

zu der Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers Tagung des Europäischen Rates in Laeken am 14./15. Dezember 2001

Vom 12. Dezember 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/7791
14. Wahlperiode 12. 12. 2001

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Uwe Hiksch, Dr. Dietmar Bartsch,
Wolfgang Gehrcke und der Fraktion der PDS

zu der Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers
Tagung des Europäischen Rates in Laeken am 14./15. Dezember 2001

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1. Der europäische Einigungsprozess bietet für die soziale und ökologische

Entwicklung große Chancen. Die geringe Außenwirtschaftsabhängigkeit der
Europäischen Union ermöglicht eine binnenwirtschaftliche Strategie nach
ökologischen und sozialen Kriterien, die weitgehend vom Druck der „Globa-
lisierung“ befreit wäre. Stattdessen richtet sich die gegenwärtige Politik auf
eine expansive Weltmarktstrategie, die die Entwicklung der Binnennach-
frage vernachlässigt. Die Realität ist aber geprägt von steigender Armut, so-
zialer Ausgrenzung, Massenarbeitslosigkeit und sozialen Verwerfungen. Der
Aufbau eines sozialen Europas der Bürgerinnen und Bürger, das die Festi-
gung, Weiterentwicklung und Modernisierung des Sozialstaates ins Zentrum
stellt, befindet sich in einer Krise. Während die wirtschaftliche Integration
weit fortgeschritten ist, kommt die soziale Integration kaum voran. Die sozi-
aldemokratischen Regierungen haben an dieser Schieflage nichts geändert.
Der versprochene Politikwechsel blieb auf nationaler wie auf europäischer
Ebene aus. Das von der Europäischen Union angestrebte Ziel der Voll-
beschäftigung rückt in weite Ferne: In den europäischen Staaten werden die
Gräben zwischen einem Heer dauerhaft oder temporärer Arbeitsloser, einem
breiten Gürtel prekärer Arbeitsverhältnisse und einem kleiner gewordenen
Kern unbefristeter Vollzeitbeschäftigung tiefer. Unternehmerische Risiken
werden auf die Beschäftigten abgewälzt und der Arbeitsdruck erhöht. Nicht
die Schaffung von existenzsichernden Arbeitsplätzen, sondern die Durchset-
zung immer höherer Finanzmarktrenditen ist der Maßstab für die Verwer-
tung von Kapitalanlagen in Industrie und Dienstleistungen. Durch den
Shareholder-Kapitalismus und die liberalisierten Finanz- und Kapitalströme
ist die Börse zum entscheidenden Markt geworden, der über die Zukunft von
Arbeitsplätzen und Unternehmen entscheidet. Das Modell der sozialen
Marktwirtschaft wurde vom marktradikalen Shareholder-Kapitalismus
abgelöst. Der Sozialstaat, seine Daseinsvorsorgepflicht und die kollektive
Absicherung von Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter werden
in Frage gestellt. Ein Gesellschaftsmodell, das auf sozialer Desintegration
basiert und die historischen Errungenschaften zur Zivilisierung des Kapita-
lismus – Sozialstaat, Kollektivrechte, Wirtschaftssteuerung – demontiert,
führt zur Demokratieentleerung und nimmt immer stärker autoritäre Züge
an.

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Die Politiken der Nationalstaaten, aber auch die Arbeits- und Lebensbedin-
gungen von Millionen Menschen werden immer mehr von der europäischen
Ebene bestimmt. Deshalb ist die fortschrittliche Gestaltung europäischer Po-
litiken für die Zukunft der sozialen und ökologischen Entwicklung unserer
Gesellschaften von entscheidender Bedeutung. Wenn aber auch in Europa
immer mehr die Kapital- und Unternehmensinteressen dominieren, werden
die Zukunftschancen der Menschen in Europa leichtfertig aufs Spiel gesetzt.
Politisch sind die Weichen nicht in Richtung eines sozialen Europas gestellt.
Diese falsche Weichenstellung kommt deutlich in den Verträgen von
Maastricht, Amsterdam und Nizza zum Ausdruck. Die Folge der in den Ver-
trägen festgeschriebenen monetären Wirtschafts- und Finanzpolitik ist, dass
eine politische Gestaltung des europäischen Integrationsprozesses nach ge-
sellschaftlichen Zielsetzungen wie Beschäftigung, nachhaltige Entwicklung
und dem Ausgleich regionaler Ungleichheiten unterbleibt und stattdessen
die Spielräume für die öffentliche Hand eingeschränkt werden. Das hat in
den meisten Ländern der Union zu Eingriffen in die sozialen Sicherungssys-
teme und zu Sozialabbau geführt. Verstärkt wird dieser Prozess durch die
von der Europäischen Kommission vorangetriebene Liberalisierung öffent-
licher Wirtschaftszweige, wie dem Schienenverkehr, der Wasser- und Ener-
gieversorgung, die mit Arbeitsplatzabbau und Qualitätsverlusten einhergeht.

2. Bedingt durch die sozialen Proteste und die damit bewirkten politischen Ver-
änderungen kam es seit Mitte der 90er Jahre zur Aufnahme eines beschäf-
tigungspolitischen Kapitels in den Vertrag von Amsterdam.
Das sog. Beschäftigungskapitel verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Koordi-
nierung ihrer nationalstaatlichen Politiken. Der Beschäftigungspolitik als ei-
genständiger Politikbereich der EU wurde aufgewertet, den Ursachen der
Massenarbeitslosigkeit wird eine höhere Aufmerksamkeit zuteil. Instru-
mente wie die Erstellung beschäftigungspolitischer Leitlinien, deren Umset-
zung in Nationale Aktionspläne, sowie die Evaluierung der unterschied-
lichen Arbeitsmarktinitiativen (Benchmarking) sind ein erster Schritt in die
richtige Richtung: Die Berichtspflicht der Nationalstaaten zwingt zur Be-
gründung beschäftigungspolitischer Strategien und ermöglicht einen europa-
weiten Diskussionsprozess über erfolgreiche Wege zur Bekämpfung von
Massenarbeitslosigkeit. Angesichts der steigenden Massenarbeitslosigkeit
müssen aber von der EU eigenständige beschäftigungspolitische Initiativen
ausgehen und durch europäische Fonds finanziert werden.
Die vier Säulen der Beschäftigungspolitischen Leitlinien – Verbesserung der
Beschäftigungsfähigkeit, Entwicklung des Unternehmergeistes und Schaf-
fung von Arbeitsplätzen, Förderung der Anpassungsfähigkeit der Unterneh-
men und ihrer Beschäftigten, Förderung der Chancengleichheit von Frauen
und Männern – setzen nicht an den Ursachen der Massenarbeitslosigkeit in
Europa an und werden deshalb keinen wirklichen Umschwung auf dem Ar-
beitsmarkt herbeiführen können.
l In der Säule Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit setzt die EU

richtigerweise auf eine Qualifizierung von Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmern und eine Modernisierung der Arbeitsverwaltungen, wie
neue Arbeitsplätze auf der Angebotsseite geschaffen werden sollen,
bleibt aber offen.

l Unter dem Stichwort Entwicklung des Unternehmergeistes und Schaf-
fung von Arbeitsplätzen setzen die Leitlinien einseitig auf die Schaf-
fung von Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor.

l Die Säule Förderung der Anpassungsfähigkeit der Unternehmen und
ihrer Beschäftigten orientiert einseitig auf eine Flexibilisierung von Ar-
beitsverträgen und betrieblichen Arbeitszeitmodellen. Kollektive Ar-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/7791

beitszeitverkürzungen und Überstundenabbau kommen in den Leitlinien
nicht vor.

l In der Säule „Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Män-
nern“ greifen die Leitlinien richtigerweise die prekäre Situation von
Frauen auf dem Arbeitsmarkt und die Lohndiskriminierung auf. Die ge-
forderten Beratungsmechanismen und Indikatoren zur Erfassung der
Frauendiskriminierung reichen jedoch nicht aus, die Anforderungen an
die Mitgliedstaaten zum Abbau geschlechtsspezifischer Diskriminierung
bleiben zu vage. So fehlen zum Beispiel Quotenregelungen für den öf-
fentlichen wie den privaten Sektor und konkrete Vorgaben für einen Aus-
bau von Kinderbetreuungsangeboten.

Als Resümee kann festgehalten werden: Die bisherige europäische Beschäfti-
gungspolitik ist eher eine abhängige Variable der Wirtschaftspolitik und ent-
spricht nicht oder nur sehr eingeschränkt den Notwendigkeiten einer aktiven
Politik mit direkten Maßnahmen und der Bereitstellung entsprechender finan-
zieller Mittel.
3. Die Proklamierung der Europäischen Charta der Grundrechte eröffnet

die Chance für einen umfassenden Grundrechtsschutz für die Bürgerinnen
und Bürger in der Europäischen Union und leistet einen wichtigen Beitrag
zur Überwindung einer einseitig marktwirtschaftlich ausgerichteten Gestal-
tung des heutigen und des künftigen Europas. Die Mehrzahl der sozialen
Grundrechte ist aber nicht als Individualrecht einklagbar. Zudem bleibt die
Grundrechte-Charta im sozialen Bereich hinter der 1996 revidierten Europä-
ischen Sozialcharta des Europarates zurück. Das Recht auf Arbeit, das Recht
auf ein gerechtes Arbeitsentgelt, das europäische Streikrecht und andere un-
verzichtbare Forderungen der demokratischen europäischen Öffentlichkeit
blieben unberücksichtigt.

4. Die Sozialpolitische Agenda – als sozialpolitisches Arbeitsprogramm bis
2005 – bietet einen wichtigen Rahmen für eine koordinierte europäische So-
zialpolitik. Sie enthält wichtige europäische Initiativen wie die Verabschie-
dung einer Reihe neuer Regelungen zum Themenkomplex „Information und
Konsultation von Arbeitnehmern“ bis 2002, die Novellierung der Richtlinien
über Europäische Betriebsräte und über den Schutz der Arbeitnehmer beim
Bankrott von Unternehmen, bei Massenentlassungen und dem Eigentümer-
wechsel des Unternehmens. Weiterhin will die EU eine Gemeinschaftsstrate-
gie zum Arbeits- und Gesundheitsschutz in Angriff nehmen. Das Ziel ist ins-
besondere, die bestehende Gesetzgebung zu vereinfachen, was aber auch
neue Gesetzesinitiativen zu neuen Gesundheitsrisiken wie Stress am Ar-
beitsplatz usw. einschließt.
Unter dem Stichwort ,Kampf gegen alle Formen von Diskriminierung
und Ausgrenzung zur Verbesserung der sozialen Integration‘ startet die
EU eine Koordination der nationalen Armutsbekämpfungsstrategien: Die
Mitgliedstaaten müssen nationale Aktionspläne mit einer Laufzeit von zwei
Jahren aufstellen.
Insgesamt gibt die EU den Themen erhöhter sozialer Mindeststandards und
Verhinderung von Sozialdumping keine gesteigerte Priorität. Gesetzgeberi-
sche Vorhaben spielen eine eher geringfügige Rolle. Maßnahmeprogramme
der EU oder eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu entsprechenden natio-
nalstaatlichen Programmen samt ihrer Finanzierung sind bislang kein Dis-
kussionsgegenstand.
Im Aktionsfeld „Modernisierung des Sozialschutzes“ geht es im Wesent-
lichen um die „nachhaltige Reform der Rentensysteme“. Die Mitgliedstaaten
und Expertengremien sollen Berichte über die Veränderungen ihrer Renten-
systeme und Einschätzungen zu ihrer Stabilität liefern, um einen gemeinsa-

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men Erfahrungsaustausch zu beginnen. Für die Kommission und die meisten
Regierungen steht dabei eine Strategie zur Verlängerung der faktischen Le-
bensarbeitszeit sowie die Erfahrungen mit Betriebsrentensystemen und dem
Aufbau einer kapitalgedeckten Säule der Altersversorgung im Mittelpunkt.
Die Diskussion um die Zukunft der Rentenversicherung in Europa bleibt
verkürzt auf die Frage nach der Finanzierungssicherheit. Im Vordergrund
stehen stabile Staatshaushalte und nicht stabile Renten. Eine Sicherung der
Rentenversicherungssysteme zu erreichen, bedeutet in erster Linie, alle Ein-
kommensarten zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme heranzu-
ziehen. Die Privatisierung immer größerer Teile der Altersvorsorge ist kein
erfolgversprechender Weg, weil er Altersarmut bei den Beziehern niedriger
Erwerbseinkommen vorprogrammiert.
Durch eine Beschleunigung der Steuerharmonisierung und eine aktive Be-
kämpfung von Steuerhinterziehung im Rahmen der EU kann eine solidari-
sche Gesellschaft vorangebracht und finanziert werden. Die Produktivitäts-
und Profitsteigerungen der europäischen Unternehmen begründen einen ge-
steigerten Beitrag der Kapitalseite zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und zur
Sicherung und Erhöhung sozialer Standards. Die vom belgischen Vorsitz an-
gestrebte Ausgestaltung des europäischen Sozialmodells wird begrüßt. Der
Deutsche Bundestag hebt jedoch hervor, dass die Koordinierung der Sys-
teme der sozialen Sicherheit nur ein Zwischenschritt ist, der zur Verein-
barung verbindlicher gemeinsamer hoher Standards führen muss. Die Über-
führung dieser europaweit zu diskutierenden Standards in die Grundrechte-
Charta und deren Aufnahme in die Verträge sind der wesentlichste Beitrag
zur Modernisierung und Ausgestaltung des europäischen Sozialmodells.
Angesichts dieser Ausgangsposition sind die bisherigen Fortschritte seit
dem Gipfel von Lissabon zu gering, die Zielsetzungen zu wenig ambitio-
niert. Die Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen durch soziale
Mindeststandards muß im Zentrum der europäischen Sozialpolitik stehen.
Die Arbeitslosigkeit als wichtigste Quelle von Armut und sozialer Ausgren-
zung wurde in den Mitgliedstaaten mit dem höchsten Bevölkerungsanteil,
darunter Deutschland, nicht entscheidend gesenkt. Die Beschäftigungsquote
bleibt konstant unter den angestrebten 70 Prozent, sie ist nicht mit verbindli-
chen Maßnahmen untersetzt. In Ostdeutschland geht sie sogar weiter zurück.
Vollbeschäftigung ist in weite Ferne gerückt, keine Schritte sind erkennbar,
die durch gezielte Maßnahmen einer gemeinsamen europäischen Arbeits-
markt- und Beschäftigungspolitik in die richtige Richtung gehen würden.
Eine neue Politik der Vollbeschäftigung kann nicht das Beschäftigungs-
wachstum auf zunehmender sozialer Polarisierung, mehr prekärer Beschäf-
tigung und einer Abnahme der Lebensqualität und Umweltzerstörung auf-
bauen. Ebenso untauglich sind die Versuche, in erster Linie die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und die Arbeitslosen für den Mangel
an bezahlter Arbeit verantwortlich zu machen und den Ausweg einseitig in
lebenslangem Lernen und höherer Mobilität und Flexibilität zu suchen. Zu
begrüßen sind hingegen alle Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, die Er-
werbstätigkeit von Frauen, von Menschen mit Behinderungen, von Jugend-
lichen, von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu fördern und die
Wiedereingliederung besonders älterer Arbeitsloser in den Arbeitsmarkt ver-
stärkt zu stimulieren.

5. Die gegenwärtige belgische Ratspräsidentschaft hat ähnlich wie die schwe-
dische hervorgehoben, dass hohe soziale Standards, dass soziale Sicherheit
aller Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union nicht in erster Linie
als Kostenfaktor zu sehen sind, sondern als europäischer Standortvorteil und
als Produktivitätszugewinn. Wirtschaftliche Reformen und eine erfolgver-
sprechende Beschäftigungs- und Sozialpolitik müssen eng miteinander ver-
flochten werden.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/7791

Die Ratstagung der EU in Laeken wird eine Bilanz über die Umsetzung des
Programmes der belgischen Ratspräsidentschaft ziehen. Der Ausbau des
europäischen Sozialmodells und die Verbesserung der Lebensqualität der
Bürgerinnen und Bürger Europas spielen darin wie auch schon in den
Schlußfolgerungen des vorausgegangenen schwedischen Vorsitzes eine zen-
trale Rolle.

6. Die bisher unternommenen Schritte auf der Ebene der Europäischen Union
zur Weiterentwicklung der Union zu einem sozialen Europa reichen nicht
aus. Auch die selbst gesteckten Ziele, wie etwa die Anhebung der Qualität
der Sozialpolitik durch Anhebung des Schutzniveaus, die Förderung sozialer
Dienstleistungen und die Garantie von Grundrechte und sozialen Rechten,
werden nicht konsequent genug in Angriff genommen.
Auch geht es nicht, wie überwiegend von den europäischen Regierungen in-
terpretiert, allein um „neue offene Koordinierungsmethoden“, sondern um
verbindliche neue Gesetzgebung.
Die Union ist im Wesentlichen bisher bei der Reform der Rentensysteme
und bei der Verhinderung von sozialer Ausgrenzung aktiv geworden. Die so-
zialen Sicherungssysteme, wie etwa Absicherung bei Arbeitslosigkeit, So-
zialhilfe, Gesundheitsschutz, Familie, Ausbildung und Studium u. ä. wurden
bisher kaum berührt.

7. Der Deutsche Bundestag hält die folgenden Schritte auf dem Weg zu einem
sozialen Europa für dringend geboten:
l In einem ersten Schritt müsste die EU einen neuen institutionellen Me-

chanismus einführen, um Sozialdumping zu verhindern. Geeignet dafür
wäre die Einführung eines Korridormodells, bei dem bestimmte Sozial-
leistungsquoten festgeschrieben werden, die im Gleichklang mit dem
Wachstum des Bruttosozialproduktes steigen müssen.

l Zweitens sollten quantitative und qualitative Vorgaben zur Verbesserung
des Gesundheitsschutzes, zum Mindestniveau der sozialen Grundsiche-
rung, zur Überwindung der Wohnungsnot oder des Analphabetismus ver-
einbart werden, um langfristig soziale Konvergenz in Europa zu errei-
chen, ohne höherwertige nationale Sicherungssysteme nach unten
angleichen zu müssen.

l Die Wirksamkeit der beschäftigungspolitischen Leitlinien muß durch ver-
bindliche und quantifizierbare Zielvorgaben sowie die Einführung von
Sanktionsmöglichkeiten erhöht werden.

l Eine Erneuerung und Stärkung der öffentlichen Dienste und der Daseins-
vorsorge im Interesse der Allgemeinheit, und der Sozialwirtschaft, des
„Dritten Sektors“, als wichtige ergänzende Quelle der Wohlfahrt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:
1. Sich dafür einzusetzen, dass die Sozialpolitik, das „europäische Sozialmo-

dell“, einen vorderen Platz auf der Agenda der Themen einnimmt, die auf
dem Gipfel in Laeken diskutiert werden.

2. Sich dafür einzusetzen, dass die in Nizza nicht angenommenen Vorschläge
des Europäischen Parlaments vom Rat und der Kommission als neue sozial-
politische Initiativen aufgegriffen werden: Dazu gehören u. a. Forderungen,
wie die Ausweitung des Sozialschutzes auf neue Beschäftigungsformen
(Heim- und Telearbeit, mehrfache Beschäftigung, neue Selbständigkeit
usw.), die Einführung von Sozialklauseln bei öffentlichen Ausschreibungen,
in internationalen Übereinkommen und im Hinblick auf Wettbewerbskont-
rolle bei Fusionen und Unternehmensübernahmen.

Drucksache 14/7791 – 6 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

3. Sich dafür einzusetzen, dass zügig weiter an der Grundrechte-Charta gear-
beitet wird mit dem Ziel, die sozialen Rechte zu stärken und zu erweitern.
Dazu gehören das Recht auf Arbeit, das Recht auf ein garantiertes soziales
Mindesteinkommen, das Recht auf Wohnen, gleicher Zugang für alle zu
öffentlichen Diensten, gewerkschaftliche Rechte wie Koalitionsfreiheit, das
Recht auf Tarifverhandlungen und -verträge, das Streikrecht usw. und zu
verlangen, dass die Grundrechte-Charta breit in der europäischen Öffentlich-
keit diskutiert und Bestandteil des europäischen Vertragswerkes wird.

4. Bei der bevorstehenden Aufnahme neuer Mitglieder sicherzustellen, dass
hohe soziale Sicherungsmaßnahmen und die Gewährleistung des sozialen
Schutzes eine Priorität in den Beitrittsverhandlungen bekommt.

5. Sich für die Rechtsverbindlichkeit und Einklagbarkeit der Grundrechte-
Charta einzusetzen und ein direktes Klagerecht beim Europäischen Gerichts-
hof in Luxemburg für alle Bürgerinnen und Bürger in Europa anzustreben.

6. Sich für die Forderungen von Gewerkschaften, Verbänden und sozialen Be-
wegungen in Europa nach einer weiteren Ausgestaltung der Charta im Hin-
blick auf die individuelle Einklagbarkeit aller individuellen Freiheitsrechte
und sozialen Grundrechte vor dem Europäischen Gerichtshof einzusetzen.
Insbesondere das Recht auf Arbeit, das Recht auf Bildung, Aus- und Weiter-
bildung, das Recht auf soziale Sicherheit, auf menschenwürdiges Wohnen
und das Recht auf Schutz der Gesundheit müssen bei der weiteren Arbeit an
der Charta in den Text aufgenommen bzw. als individuell einklagbare
Grundrechte formuliert werden. Von grundsätzlicher Bedeutung für die Aus-
gestaltung der europäischen Sozialunion ist die Aufnahme des Rechts auf
Mindestlohn bzw. eine individuelle existenzsichernde Grundsicherung.

Berlin, den 12. Dezember 2001
Dr. Klaus Grehn
Uwe Hiksch
Dr. Dietmar Bartsch
Wolfgang Gehrcke
Roland Claus und Fraktion

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