BT-Drucksache 14/7689

Haltung der Bundesregierung zum "Fortschrittsbericht" der EU-Kommission zur Türkei, zur dortigen Menschenrechtssituation und zur kurdischen Frage

Vom 27. November 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/7689
14. Wahlperiode 27. 11. 2001

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS

Haltung der Bundesregierung zum „Fortschrittsbericht“ der EU-Kommission
zur Türkei, zur dortigen Menschenrechtssituation und zur kurdischen Frage

Am 13. November 2001 hat die EU-Kommission ihren neuesten „Fortschritts-
bericht“ über die Entwicklung der Beitrittskandidaten-Länder auf dem Weg in
die Europäische Union vorgelegt („Die Erweiterung erfolgreich gestalten.
Strategiepapier und Bericht der EU-Kommission über die Fortschritte jedes
Bewerberlandes auf dem Weg zum Beitritt“, Brüssel, 13. November 2001).
In der Presse (u. a. Süddeutsche Zeitung und DER TAGESSPIEGEL vom
15. November 2001, DIE WELT, Handelsblatt und Frankfurter Rundschau vom
14. November 2001) wird der Bericht als Ankündigung bewertet, dass zehn
Länder vor den nächsten Wahlen zum EU-Parlament im Jahr 2004 der Europä-
ischen Union beitreten können. Bei drei Staaten – genannt werden Rumänien,
Bulgarien und die Türkei – sei dieser Zeitplan vermutlich nicht einzuhalten.
Bezüglich der Türkei stellt der Bericht fest, dass diese „die politischen Kri-
terien von Kopenhagen noch nicht erfüllt“ (S. 13). Die am 3. Oktober 2001 im
türkischen Parlament beschlossenen Verfassungsänderungen werden begrüßt
als „wichtiger Schritt zur besseren Gewährleistung der Achtung der
Menschenrechte und Grundfreiheiten“ (S. 14).
Ansonsten wird die Türkei u. a. aufgefordert, „auf eine Lösung des Zypern-
problems hin(zu)arbeiten“ (S. 38), „die Differenzen in der europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu überwinden“ (ebenda) und darauf zu
achten, dass „die Menschenrechte in der Praxis besser beachtet“ werden.
Das extrem gewalttätige Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte gegen hun-
gerstreikende politische Gefangene in den letzten Wochen und Monaten, bei
dem zahlreiche Hungerstreikende unter bis heute nicht geklärten Umständen
ums Leben kamen, wird lediglich als „unverhältnismäßiger Rückgriff auf
Gewalt bei der Zerschlagung der Proteste in den Gefängnissen“ kritisiert, der
„bedauerlich“ sei (S. 84).
Ansonsten wird die türkische Regierung lediglich aufgefordert, „dass besonde-
res Augenmerk auf eine deutliche Verbesserung der Situation im Südosten des
Landes gerichtet wird“.
Der anhaltende Ausnahmezustand in den kurdischen Gebieten wird mit keinem
Wort erwähnt, ebenso wenig die immer noch anhaltenden Repressionen gegen
die Partei HADEP, die weiter anhaltenden Folterungen und Morde „unbekann-
ter Täter“ und türkischer Sicherheitskräfte gegen kurdische und andere Opposi-
tionelle (s. entsprechende Berichte von amnesty international).
Die erst kürzlich vor einem türkischen Gericht eingereichten Klagen gegen
alevitische Vereinigungen wegen angeblichem „Separatismus“ (Pressemittei-

Drucksache 14/7689 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

lungen der Föderation der Aleviten-Gemeinden in Deutschland (AABF) vom
24. September 2001 und 28. September 2001) werden ebenso wenig erwähnt
wie die immer noch anhaltende Entführung des vor seiner Entführung in
Deutschland als anerkannter Flüchtling lebenden kurdischen Politikers Cevat
Soysal, der in der Türkei schwer gefoltert wurde und dem im Verfahren vor
dem Staatssicherheitsgericht als angebliche „Nr. 2 der PKK“ die Todesstrafe
droht (s. entsprechende Berichte von amnesty international).
Durch die Nichterwähnung dieser und anderer gravierender Verstöße der
Türkei gegen die Menschenrechte sowie durch die Tatsache, dass die EU-Kom-
mission erneut kein Wort der Kritik an der türkischen Politik in der kurdischen
Frage äußert, entsteht der Eindruck, dass geopolitische und machtpolitische
Interessen der EU Menschenrechtsfragen in den Hintergrund drängen.
In der Presse wird deshalb im Hinblick auf den „Fortschrittsbericht“ auch fast
nur noch über die Differenzen zwischen der EU und der Türkei in der Zypern-
Politik berichtet und spekuliert.
Eine solche Bagatellisierung schwerer Verstöße und Defizite in Fragen der
Menschenrechte und beim Umgang mit der kurdischen Frage entmutigt demo-
kratische Kräfte in der Türkei und Europa und insbesondere die kurdische
Bevölkerung, die sich von der EU Unterstützung bei ihrem Bemühen um eine
Demokratisierung der Türkei und bei einer demokratischen Lösung der kurdi-
schen Frage erhoffen.
Der „Dialog-Kreis: Krieg in der Türkei – Die Zeit ist reif für eine politische Lö-
sung“ hat zudem kürzlich darauf hingewiesen, dass sowohl die USA als auch
Großbritannien die PKK erneut auf die Liste terroristischer Organisationen
gesetzt haben, „obwohl diese einseitig auf den bewaffneten Kampf verzichtet
hat und seit Jahren für eine friedliche politische Lösung im Rahmen der Türkei
plädiert“.
Diese Entscheidungen erwecken den Eindruck, dass die EU wie die USA kein
Interesse an einer demokratischen Lösung der kurdischen Frage in der Türkei
haben und nichts gegen den offiziellen türkischen Kurs der Repression gegen
alle kurdischen Bestrebungen unternehmen wollen.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Hält die Bundesregierung den neuen „Fortschrittsbericht“ der EU-Kommis-

sion für einen angemessenen Umgang mit den schweren Menschenrechts-
verletzungen und Defiziten der Türkei?

2. Wie viele Menschen sind nach Kenntnis der Bundesregierung seit der Auf-
nahme der Türkei in den Kreis der Beitrittskandidaten zur EU
– von „unbekannten Tätern“ bzw. von staatlichen Sicherheitskräften umge-

bracht worden,
– in Polizeihaft oder im Gefängnis gefoltert worden,
– in Polizeihaft oder Gefängnishaft unter ungeklärten Umständen oder

durch nachgewiesene Übergriffe der Sicherheitskräfte zu Tode gekom-
men?

3. Wie viele Zeitungen, Zeitschriften, Verlage oder Rundfunk- und Fernseh-
stationen in der Türkei bzw. Eigentümer und Beschäftigte dieser Medien
sind seit der Aufnahme der Türkei in den Kreis der EU-Beitrittskandidaten
verboten, vorübergehend geschlossen oder wegen „Separatismus“ und ähn-
lichen Vorwürfen mit Geldstrafen belegt worden (bitte die Zeitungen, Zeit-
schriften, Verlage etc. und die gegen sie verhängten Strafen und Geldbußen
einzeln aufführen)?

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/7689

4. Wie viele Parteien, Gewerkschaften und Vereine sind seit der Aufnahme
der Türkei in den Kreis der EU-Beitrittskandidaten verboten worden bzw.
seitdem von einem Verbotsverfahren bedroht (bitte die einzelnen Parteien
und Vereine und die Begründung des Verbotsverfahrens einzeln auffüh-
ren)?

5. Wie viele Mittel – Zuschüsse wie Kredite – hat die Türkei
a) von der EU
b) von der Bundesregierung und deutschen öffentlichen Stellen, wie z. B.

Hermes seit der Aufnahme in den Kreis der Beitrittskandidaten der EU
erhalten?

6. Welche Waffenlieferungen hat die Türkei seit der Aufnahme in den Kreis
der Beitrittskandidaten zur EU
a) aus der Bundesrepublik Deutschland
b) aus anderen EU-Staaten
c) aus anderen, nicht zur EU gehörenden Staaten der NATO
erhalten und was hat sie dafür bezahlt?

7. Wie beurteilt die Bundesregierung diese Waffenlieferungen vor dem Hin-
tergrund der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in der Türkei?

8. Wie viele Flüchtlinge wurden seit der Aufnahme der Türkei in den Kreis
der Beitrittskandidaten zur EU aus der Bundesrepublik Deutschland abge-
schoben?

9. Wie viele Eilaktionen und Proteste von Menschenrechtsorganisationen wie
amnesty international und anderen hat die Bundesregierung seit der Auf-
nahme der Türkei in den Kreis der Beitrittskandidaten zur EU zum Anlass
genommen, um die Türkei mit konkreten Schritten zur Korrektur ihrer
Menschenrechtspolitik und ihrer Politik in der kurdischen Frage zu drän-
gen?

10. Hält die Bundesregierung die Einstufung der PKK durch die Regierungen
der USA und Großbritanniens als „terroristisch“ für angemessen und zu-
treffend?
Wenn ja, warum?
Wenn nein, wie beurteilt die Bundesregierung die PKK und deren aktuelle
Politik?

11. Wie beurteilt die Bundesregierung die Politik der Türkei in der Minder-
heitenfrage, wonach es in der Türkei keine nationalen Minderheiten mit
eigener Sprache und Kultur, sondern nur religiöse Minderheiten gibt, und
welche Schritte will die Bundesregierung ergreifen, um die Türkei auf die-
sem Gebiet zu einer Korrektur ihrer Politik zu bewegen?

12. Wie beurteilt die Bundesregierung die Politik der Türkei, die kurdische
Sprache zwar im Alltagsgebrauch zuzulassen, aber an allen staatlichen
Schulen – also auch in den kurdischen Gebieten – jeden Unterricht in der
kurdischen Sprache weiter zu verbieten, und welche Schritte will die Bun-
desregierung ergreifen, um die Türkei zu einer Korrektur dieser Politik zu
bewegen?

13. Hält die Bundesregierung eine politische und demokratische Lösung der
kurdischen Frage in der Türkei weiter für eine unverzichtbare Vorausset-
zung eines Beitritts der Türkei in die Europäische Union?
Wenn ja, durch welche konkreten Schritte will die Bundesregierung der
Türkei dies deutlich machen?

Drucksache 14/7689 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
14. Welche konkreten Schritte will die Bundesregierung – im Rahmen der EU
wie auch bilateral – ergreifen, um den politischen Druck auf die türkische
Regierung zur Verbesserung der Menschenrechtssituation zu erhöhen?

Berlin, den 22. November 2001
Ulla Jelpke
Roland Claus und Fraktion

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