BT-Drucksache 14/6916

Kritiken von NS-Opfern, Presse und Beschäftigten an der Arbeit der Leitung des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen

Vom 17. September 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/6916
14. Wahlperiode 17. 09. 2001

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS

Kritiken von NS-Opfern, Presse und Beschäftigten an der Arbeit der Leitung
des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen

In der Öffentlichkeit wird immer wieder Kritik laut an der Leitung des Interna-
tionalen Suchdienstes in Bad Arolsen wegen viel zu langer Bearbeitungszeit
bei Anfragen von NS-Opfern und wegen des schlechten Betriebsklimas und
zahlreicher Auseinandersetzungen mit Beschäftigten. Für viele NS-Opfer ist
eine rasche Nachweisbeschaffung für ihre Zwangsarbeit unverzichtbar, um die
beschlossene Entschädigung zu erhalten.
Im Mai 1999 berichtete der Westdeutsche Rundfunk in seiner Sendung „Kriti-
sches Tagebuch“ (26. Mai 1999) über Beschwerden von Überlebenden der NS-
Zeit. Es dauere oft Jahre, bis Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die
nach Bad Arolsen schreiben, „mehr als lapidare Eingangsbestätigungen erhal-
ten“. Seit 1995 wachse die Kritik. „Den Stellen, die sich mit Zwangsarbeitern
befassen, ist immer unverständlicher, warum die Antworten aus Arolsen so
lange auf sich warten lassen.“ Der Bericht zitiert weiter ein Schreiben von Lei-
tern der KZ-Gedenkstätten, in dem diese erklären, die Bearbeitungszeit beim
Suchdienst führten „im Ergebnis dazu, dass dieses Problem in zynischer Weise
letztlich mit dem Tod der Überlebenden der NS-Verfolgung gelöst wird“.
Ähnliche Vorwürfe folgten am 23. September 1999 in einer Fernsehsendung
der ARD, in der ebenfalls schwere Vorwürfe gegen die Arbeit des Suchdienstes
erhoben wurden. Eine Beschwerde des Direktors des Suchdienstes gegen den
Beitrag wurde vomWDR zurückgewiesen. Am 13. Juli 2000 wurde der Beitrag
auch von „Phoenix“ ausgestrahlt.
Auch im „SPIEGEL“ wurde der „Fallstau“ – „an die 450 000 unbeantwortete
Anfragen“ stapelten sich – und der autoritäre Führungsstil des Direktors des
Suchdienstes in einem Artikel kritisiert. „Im Betrieb herrscht ein Klima der
Angst“, wurde die Vorsitzende des DGB Kreis Waldeck-Schwalm-Eder zitiert.
Die halbe Belegschaft habe Zeitverträge. Wer aufmucke gegen den Direktor
und seine Führungsriege, bekomme keine Verlängerung. „Verkrustete Organi-
sationsstrukturen, mangelnde Kooperation mit den KZ-Gedenkstätten und das
überaus schlechte Betriebsklima … lähmten die Arbeit.“ (SPIEGEL 4/2000)
In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der PDS bestätigte die
Bundesregierung den „Fallstau“ in Bad Arolsen und sprach von „große(n) or-
ganisatorische(n) und personelle(n) Probleme(n)“ im Suchdienst. Die durch-
schnittliche Bearbeitungszeit für Anfragen liege zwischen sechs und zwölf
Monaten. Die Bundesregierung gehe aber davon aus, dass durch mehr Personal
und Anwendung moderner Technik „die Bearbeitungszeit deutlich gesenkt
werden kann“ (Bundestagsdrucksache 14/2858, Frankfurter Rundschau vom
27. März 2000).

Drucksache 14/6916 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Im April 2000 unterrichtete die Arbeitsgemeinschaft (AG) der KZ-Gedenkstät-
ten den Beauftragten der Bundesregierung für die Entschädigung von NS-
Zwangsarbeit, Otto Graf Lambsdorff, dass der Suchdienst „trotz mehrfacher
Proteste auch der KZ-Gedenkstätten nicht in der Lage (sei), allen Antragstel-
lern zeitnah eine amtliche Auskunft über ihre Haftzeiten zu erteilen“. Die Be-
arbeitungszeit betrage „nicht selten mehr als drei Jahre“. Der Direktor der
Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und Leiter der AG der KZ-Gedenk-
stätten schlug vor, im Bundesministerium des Innern (BMI) ein „unabhängiges
Expertengremium“ einzurichten, um „Maßnahmen zur Beschleunigung des
Nachweisverfahrens“ zu beraten.
Auf der Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags zum Ge-
setzentwurf zur Errichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zu-
kunft“ im Juni 2000 wurde bekannt, dass die Bundesregierung das Personal des
Suchdienstes aufgestockt habe, aber offenbar nur Zeitarbeitskräfte eingestellt
wurden, deren Verträge in kettenähnlicher Weise immer wieder verlängert wür-
den (Protokoll der Anhörung, 7. Juni 2000, S. 33).
Trotz Personalaufstockung, einer Anhebung der Mittel für den Suchdienst im
Etat des BMI auf 28,6 Mio. DM in 2000 und auf 32,2 Mio. DM in 2001 sowie
der Einführung moderner Techniken scheint der „Fallstau“ beim Suchdienst
nicht geringer zu werden. Auch die Öffnung der Archive des Suchdienstes für
die Forschung soll erst in zwei bis drei Jahren umgesetzt werden (DER
TAGESSPIEGEL, 11. August 2000).
Am 24. Dezember 2000 berichtete „Bild am Sonntag“, noch immer scheiterten
„viele Opfer an der deutschen Bürokratie unter Leitung des Roten Kreuzes …
bis zur Bearbeitung der Formulare sind die betroffenen Menschen oft schon
verstorben“. Der Direktor des Suchdienstes wird mit den Worten zitiert: „Wir
haben einen Rückstand von Einzelanfragen, der über 400 000 beträgt, denn wir
brauchen dafür jeweils drei bis dreieinhalb Jahre.“ Mitarbeiter des Suchdiens-
tes und des BMI würden erklären, dass es im Suchdienst „knirscht, die Zusam-
menarbeit klappt nicht“ (ebenda).
Am 3. April 2001 ist in der „Süddeutschen Zeitung“ erneut die Rede von „Ber-
gen von unbeantworteten Briefen“. Der Rückstau betrage „inzwischen fast eine
halbe Million Briefe“, darunter „300 000 ungeöffnete, unübersetzte Briefe mit
Anfragen russischer Nazi-Opfer“. Der Direktor des Suchdienstes wird zitiert
mit der Aussage, der Suchdienst mit seinen 440 Mitarbeitern sei „von einer
Lawine überrollt“ worden.
Zur Hilfe bei der Nachweisbeschaffung hat das Kuratorium der Bundesstiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ vor kurzem ebenfalls noch Mittel
bereitgestellt, die auch dem Suchdienst zufließen werden und dort zur schnelle-
ren Beantwortung von Anfragen von NS-Opfern führen sollen.
Zusammengefasst verdichtet sich der Eindruck, dass der Suchdienst ein Fass
ohne Boden ist sowohl für Steuermittel wie für Anfragen von NS-Opfern, wäh-
rend die Leitung des Suchdienstes mit Steuermitteln weiter eine Vielzahl von
Arbeitsgerichtsverfahren gegen Beschäftigte und gegen kritische Pressebe-
richte führt. So berichten Gewerkschaftsvertreter von weiter ungewöhnlich vie-
len Arbeitsgerichtsverfahren. Eine schon vor Jahren eingereichte Petition von
Beschäftigten gegen die Zustände im Suchdienst beschäftigt inzwischen über
drei Jahre lang den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags. Auch gegen
kritische Berichte in Zeitungen (z. B. die polnische Zeitschrift „Politika“) geht
die Leitung des Suchdienstes unter Inanspruchnahme vermutlich von Steuer-
mitteln weiter gerichtlich vor.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/6916

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie groß ist derzeit die Zahl der unbeantworteten Schreiben und Anfragen

von NS-Überlebenden beim Internationalen Suchdienst und wie hat sich
dieser „Fallstau“ in den letzten zwei Jahren entwickelt?

2. Wie viele neue Mitarbeiter und zusätzliche Mittel hat der Suchdienst seit
Sommer 1999 erhalten?

3. Für welche genauen Aufgaben sind die neuen Mitarbeiter eingestellt, wel-
che Qualifikation haben sie?

4. Wie viele neue Mitarbeiter sind auf Basis von Zeitverträgen angestellt?
Wie lange laufen diese Verträge?

5. Welche technischen Verbesserungen bei der Bearbeitung von Anfragen
sind seit 1999 ergriffen worden?

6. Wie lange dauert derzeit die durchschnittliche Bearbeitungszeit für Anfra-
gen von NS-Überlebenden beim Suchdienst?
Wie beurteilt die Bundesregierung diese Bearbeitungszeit vor dem Hinter-
grund der umfangreichen Mittel- und Personalaufstockungen beim Such-
dienst in den letzten Jahren?

7. Welche Schritte will die Bundesregierung ergreifen, um den „Fallstau“
beim Suchdienst zu beseitigen?

8. Wann werden die Archive des Suchdienstes für die historische Forschung
zur Verfügung stehen?

9. Gilt die Öffnung der Archive für alle Archive beim Suchdienst oder sind
davon Teile ausgenommen?
Wenn ja, welche Teile sind ausgenommen und warum?

10. Wie viele Arbeitsgerichtsverfahren zwischen Beschäftigten des Suchdiens-
tes und ihren gewerkschaftlichen Vertreterinnen und Vertreter und der Lei-
tung des Suchdienstes hat es in den Jahren
a) 1998
b) 1999
c) 2000
d) 2001
nach Kenntnis der Bundesregierung gegeben und wie endeten diese Ver-
fahren?

11. Wie viele Steuermittel hat die Leitung des Suchdienstes für diese Arbeits-
gerichtsverfahren in Anspruch genommen (bitte nach Jahren aufschlüs-
seln)?

12. Hält die Bundesregierung Zahl und Inhalt dieser Verfahren für normal oder
will sie Maßnahmen ergreifen, um ihrer Fürsorgepflicht für die Beschäftig-
ten nachzukommen und Abhilfe zu schaffen?

13. Wie viele Prozesse gegen kritische Presseberichte hat die Leitung des
Suchdienstes in den Jahren
a) 1998
b) 1999
c) 2000
d) 2001
geführt und wie endeten diese Verfahren?

Drucksache 14/6916 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
14. Wie viele Steuermittel hat die Leitung des Suchdienstes für diese in
Frage 13 genannten Verfahren in Anspruch genommen (bitte nach Jahren
aufschlüsseln)?

15. Hält die Bundesregierung die Zahl dieser Auseinandersetzungen der Lei-
tung des Suchdienstes mit kritischen Presseberichten für normal oder sieht
sie darin Zeichen für ein gestörtes Verhältnis der Leitung des Suchdienstes
zu kritischer Berichterstattung?

16. Wann wurde der amtierende Direktor des Suchdienstes bestellt, wer hat
über seine Bestellung entschieden, wie lange läuft sein Vertrag?

17. Erwägt die Bundesregierung Maßnahmen, um ihrer Fürsorgepflicht für die
Beschäftigten des Suchdienstes und ihrer Pflicht gegenüber NS-Opfern zu
rascher Beantworten ihrer Anfragen nachzukommen und eine Korrektur
der Amtsführung der Leitung des Suchdienstes zu erreichen?
Wenn ja, welche Maßnahmen will sie ergreifen?
Wenn nein, warum nicht?

18. Erwägt die Bundesregierung gegenüber den Aufsichtsorganen über den
Suchdienst Schritte zur Beendigung oder Verkürzung der Amtszeit der am-
tierenden Leitung des Suchdienstes?
Wenn ja, welche Schritte?
Wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 13. September 2001
Ulla Jelpke
Roland Claus und Fraktion

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