BT-Drucksache 14/6870

Rechtsextrem motivierte Tötungsdelikte gegen Obdachlose und deren Erfassung

Vom 4. September 2001


Deutscher Bundestag

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6870

14. Wahlperiode

04. 09. 2001

Kleine Anfrage

der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS

Rechtsextrem motivierte Tötungsdelikte gegen Obdachlose und deren Erfassung

In unserer Kleinen Anfrage vom 18. Juni 2001 „Tatsächlich oder vermutlich
rechtsextrem motivierte Tötungsdelikte in den Monaten Januar bis Mai 2001“
(Bundestagsdrucksache 14/6288) fragten wir nach einem möglichen rechts-
extremen Hintergrund bei der Tötung eines 51-jährigen Sozialhilfeempfängers
aus Grimmen (Mecklenburg-Vorpommern), der am 26. März diesen Jahres von
zwei 17 und 21 Jahre alten, inzwischen geständigen Männern, die ebenfalls aus
Grimmen seien, zu Tode getreten und geschlagen worden sei (Berliner Zeitung,
28. März 2001).

Die Antwort der Bundesregierung lautete damals:
„Nach Mitteilung der zuständigen Landespolizeidienststelle dauern die Ermitt-
lungen im Zusammenhang mit der am 26. März 2001 in Grimmen (MV) verüb-
ten Tat derzeit noch an. Anhaltspunkte für einen rechtsextremistischen Tat-
hintergrund sind nach Einschätzung der ermittelnden Behörden bislang nicht
erkennbar.“
Abschließend hieß es: „Für den Zeitraum Januar bis Mai 2001 wurden im Rah-
men des kriminalpolizeilichen Meldedienstes ,politisch motivierte Kriminali-
tät‘ von den zuständigen Polizeidienststellen der Länder bislang keine Straf-
taten mit Todesfolge aus tatsächlicher oder zu vermutender rechtsextremer
Motivation gemeldet.“ (Bundestagsdrucksache 14/6657)
Am 16. August 2001 berichtete die „Berliner Morgenpost“, ein bereits vier
Jahre zurückliegender Tod eines Obdachlosen in Angermünde (Uckermark) sei
nun offenbar aufgeklärt: Vermutlich sei der Obdachlose, der am 23. September
1997 schwer verletzt gefunden wurde und fast ein Jahr später an den Folgen
seiner Verletzungen starb, von zwei damals 16- und 19-Jährigen zusammenge-
schlagen worden. Die mutmaßlichen Täter waren ins Visier der Polizei geraten,
weil sie schon mehrfach Obdachlose überfallen und zusammengeschlagen hat-
ten. Als Tatmotiv gelte „Langeweile“ (Berliner Morgenpost, 16. August 2001).
Bisher wurde dieser Fall eines getöteten Obdachlosen in keiner Statistik über
Tötungsdelikte mit tatsächlichem oder zu vermutendem rechtsextremen Hinter-
grund geführt.
Vor wenigen Tagen berichtete die „Berliner Morgenpost“ von einem Obdach-
losen, der am 9. August 2001 in Dahlewitz (Brandenburg) von fünf jungen
Männern zu Tode getreten und geschlagen wurde. Den inzwischen geständigen
Männern, die mit dem Vorwurf des vorsätzlichen Totschlags festgenommen
wurden, wirft die Staatsanwaltschaft Potsdam vor, „aus falsch verstandenem
Ordnungssinn“ gehandelt zu haben. Einen rechtsextremen Hintergrund der Tat
schließt die Staatsanwaltschaft aber aus, obwohl einer der Täter „ein Faible für
Musik rechter Gruppen hatte“ und „Leute aus der rechten Szene in dem Haus
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[dem Wohnhaus des Täters] ein- und ausgegangen sein“ sollen (Berliner
Morgenpost, 23. August 2001).
Die „Berliner Morgenpost“ hält einen rechtsextremen Hintergrund der Tat aber
offenbar dennoch für möglich und zitiert den Rechtsextremismus-Experten
Burkhard Schröder mit folgenden Worten: „Das Entscheidende ist die Motiv-
lage: Einen Obdachlosen aus ,falsch verstandenem Ordnungssinn‘ umzubrin-
gen entspricht eins zu eins einem rechtsradikalen Weltbild.“ (Berliner Morgen-
post, 23. August 2001)
Im Mai dieses Jahres wurde auf der Innenministerkonferenz in Schierke/Harz
ein neues Erfassungskriterium für rechte Straf- und Gewalttaten eingeführt, da
das bisherige Zählverfahren Schwachstellen infolge „erheblicher Bewertungs-
spielräume der Länder“ und „Erfassungsdefiziten für bestimmte Fallgruppen“
zeigte (zitiert nach: „Zusatzinformation zum neuen kriminalpolizeilichen
Meldedienst ,politisch motivierte Kriminalität‘“ des Bundesministeriums des
Innern – BMI).
Statt des bislang geltenden Kriteriums „extremistisch“, das als Motiv einen be-
absichtigten Angriff auf den Staat und die freiheitlich demokratische Grund-
ordnung voraussetzte, um eine Tat als rechtsextrem motiviert einstufen zu kön-
nen, wird im neuen Zählverfahren eine Tat als rechts motiviert bewertet, wenn
sie unter das Kriterium der „politisch motivierten Kriminalität“ fällt.
Das BMI erläuterte das neu einzuführende Erfassungskriterium im März in
seiner „Zusatzinformation“ wie folgt:
„Entscheidend für die Bewertung einer Straftat als politisch motivierte Tat ist
das jeweils tatauslösende politische Element entsprechend den objektiven Um-
ständen der Tat und/oder Einstellung des Täters. Als politisch motiviert gilt
eine Tat insbesondere dann, wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung
des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ih-
rer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe,
Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung
oder ihres äußeren Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status
richtet.“
Anschließend veranschaulicht das BMI seine Erläuterungen an einem Beispiel:
„Der Angriff rechtsorientierter Jugendlicher oder auch Unbekannter auf einen
deutschen Obdachlosen stellt eine (zu vermutende) politisch motivierte Tat dar
und wird als solche im Rahmen des KPMD – PMK [= kriminalpolizeilicher
Meldedienst – politisch motivierte Kriminalität] erfasst.“
Die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe hatte in einer
Pressemitteilung vom 19. Dezember 2000 von mindestens 107 wohnungslosen
Menschen gesprochen, die von 1989 bis 2000 von Tätern außerhalb der Woh-
nungslosenszene getötet worden seien und dazu erklärt:
„Ein großer Teil der Täter legt ein Verhalten an den Tag, das rechtsextremen
Ideologien entspricht, ohne dass die Täter in entsprechenden Organisations-
strukturen verankert sind. Armut, soziale Ausgrenzung, Wohnungslosigkeit
gelten den Tätern als Beweis für die Minderwertigkeit des Opfers, die zugleich
Legitimation für die Täter ist. Der kleinere Teil der Täter, ohne diesen exakt be-
ziffern zu können – ist offen rechtsextremistisch motiviert.
Ihre Taten bezeichnen sie häufig als ,Pennerklatschen‘ – ein Begriff, der das
Ausmaß der Menschenverachtung und des blinden Hasses ausdrückt. [...]
In der Öffentlichkeit wird die Brisanz dieser Taten aber bislang nicht deut-
lich wahrgenommen.“ (Pressemitteilung der BAG-Wohnungslosenhilfe vom
19. Dezember 2000)
Mit der Einführung der neuen Erfassungsmethode schien es so, als wollten
Bund und Länder auf solche Kritik reagieren. In der inzwischen vorliegenden
ersten amtlichen Statistik nach der neuen Erfassungsmethode für das erste
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Halbjahr 2001 ist aber kein einziges Todesopfer aufgeführt (Bundestagsdruck-
sache 14/6831), obwohl der Mord an dem 51-jährigen Sozialhilfeempfänger
aus Grimmen in diesen Zeitraum fällt. Damit scheint die angekündigte Korrek-
tur mittels der neuen Erfassungsmethode wirkungslos zu bleiben.
Wir fragen die Bundesregierung:
1. Sind der Bundesregierung die oben angegebenen Tötungsdelikte an

Obdachlosen und dem 51-Jährigen Sozialhilfeempfänger bekannt und kann
sie in diesen Fällen eine zu vermutende oder tatsächliche rechtsextreme
Motivation erkennen (bitte für jeden der angegeben Fälle einzeln beant-
worten)?

2. Wird nach Erkenntnis der Bundesregierung in den oben genannten Fällen
wegen eines zu vermutenden rechtsextremen bzw. politischen Hintergrunds
der Tat ermittelt (bitte für jeden der angegeben Fälle einzeln beantworten)?

3. Sind nach Erkenntnissen der Bundesregierung die oben angegebenen Tö-
tungsdelikte nach dem neuen Erfassungskriterium als „politisch motivierte
Kriminalität – rechts“ zu bewerten (bitte für jeden der angegeben Fälle ein-
zeln beantworten)?
a) Wenn nein, warum nicht?
b) Wenn nein, worin liegen die Differenzen zwischen den oben angegebe-

nen Tötungsdelikten und dem oben aus der „Zusatzinformation“ des BMI
zitierten Beispiel?

c) Wenn nein, wie ist dann das oben aus der „Zusatzinformation“ des BMI
zitierte Beispiel zu verstehen oder entspricht die oben zitierte „Zusatz-
information“ des BMI nicht mehr der heutigen Auffassung der Bundes-
regierung?

d) Wenn ja, wird sie diese Fälle zukünftig sowie auch rückwirkend korrigie-
rend in Statistiken, die im Geschäftsbereich des BMI erstellt werden, auf-
führen und wenn nein, warum nicht?

4. Sind der Bundesregierung für den Zeitraum vom 1. Januar 2001 bis zum
31. August 2001 außer den genannten weitere Tötungsdelikte an Obdach-
losen bekannt und wenn ja welche?
a) Wenn ja, kann die Bundesregierung in diesen Fällen eine zu vermutende

oder tatsächliche rechtsextreme Motivation erkennen bzw. sind diese
Fälle als „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ zu bewerten (bitte
für jeden Fall einzeln beantworten)?

b) Wenn nein, warum nicht?
5. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über weitere Straf- und Ge-

walttaten gegen Obdachlose und deren Unterkünfte aus zu vermutender oder
tatsächlicher rechtsextremer Motivation in diesem Jahr bzw. sind die der
Bundesregierung bekannt gewordenen Fälle als „politisch motivierte Krimi-
nalität – rechts“ zu bewerten?

6. Sind nach Auffassung der Bundesregierung mit der neuen Erfassungs-
methode die in der oben zitierten „Zusatzinformation“ des BMI angespro-
chenen „Erfassungsdefizite“ bei Angriffen auf Obdachlose korrigiert?
Wenn nein, wie beabsichtigt die Bundesregierung diese Defizite zu korrigie-
ren?

Berlin, den 30. August 2001

Ulla Jelpke
Roland Claus und Fraktion

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