BT-Drucksache 14/6389

Bewertung der VVN-BdA druch das Bundesamt für Verfassungsschutz angesichts der Aussagen zu Entstehungsbedingungen und Ursachen von Rechtsextremismus

Vom 15. Juni 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/6389
14. Wahlperiode 15. 06. 2001

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS

Bewertung der VVN-BdA durch das Bundesamt für Verfassungsschutz
angesichts von Aussagen zu Entstehungsbedingungen und Ursachen
von Rechtsextremismus

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, hat auf
dem Höhepunkt der Diskussionen über die Ursachen von Rechtsextremismus
am 9. November 2000 in Berlin die kurz zuvor von der CDU/CSU initiierte
Debatte um eine angebliche „deutsche Leitkultur“ öffentlich scharf kritisiert:

„Was soll das Gerede um die Leitkultur? Ist es etwa deutsche Leitkultur,
Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden, Obdachlose zu töten?“

Er kritisierte auch die Diskussion der Regierungsparteien, der CDU/CSU, der
Wirtschaft und anderer um angeblich „nützliche“ und angeblich „unnütze“
Ausländer:

„Was nützt es, in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages nach den At-
tentaten auf die Synagogen in Düsseldorf und Berlin in wohl klingenden Reden
den Antisemitismus zu verdammen, wenn einige Politiker am nächsten Tag
Worte wählen, die missverstanden werden? Wenn sie die Zuwanderungsfrage
heute aus taktischen Gründen zum Wahlkampfthema machen wollen, von so
genannten ,nützlichen‘ und ,unnützen‘ Ausländern faseln.“

Der Rechtsextremismus-Experte Prof. Dr. Reinhard Kühnl hat in seiner Stel-
lungnahme zu einer gemeinsamen Anhörung des Innenausschusses und des
Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundes-
tags zu Rechtsextremismus im Oktober vergangenen Jahres unter anderem aus-
geführt, eine soeben fertig gestellte Doktorarbeit an der Universität Marburg
habe vergleichend dreizehn europäische Länder untersucht und dabei festge-
stellt,

„… dass Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sich besonders in den Ländern
verschärft haben, in denen bei Regierungen und öffentlicher Meinung be-
stimmte Reaktionsformen dominierten: a) Über Jahrzehnte hin wurde an der
These festgehalten, das eigene Land sei kein Einwanderungsland, die Einge-
wanderten seien also Ausländer, Fremde, die nicht dazugehörten.“ (zit. nach
dem Protokoll der Anhörung, Seite 116f.).

Weiter stellte er fest:

„Marktwirtschaft und Konkurrenzkampf produzieren, wenn sie sich unge-
hemmt entfalten können, enorme soziale Ungleichheit und soziale Zerklüftun-
gen im eigenen Land wie auch weltweit. Für die Individuen bedeutet dies die
alltägliche Erfahrung, dass der Stärkere sich eben durchsetzt und der Schwä-
chere auf der Strecke bleibt … Dies ist die Erfahrungswelt, aus der der Sozi-
aldarwinismus, der das Recht des Stärkeren als Naturgesetz proklamiert, seine

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Glaubwürdigkeit bezieht. Auf dieser Grundlage entwickelt die extreme Rechte
von jeher ihre Ideologie …

Ideologie und alltägliche Erfahrung des von sozialstaatlichen Hemmungen be-
freiten Kapitalismus legen also die Folgerung nahe, dass das Leben ein perma-
nenter Kampf ist, in dem der Stärkere und Rücksichtslosere siegt. Die extreme
Rechte ist in dieser Hinsicht diejenige Kraft, die die brutalen Konsequenzen aus
diesen Erfahrungen zieht – ideologisch und in ihren Kampfmethoden.“
(ebenda).

Der Rechtsextremismus-Experte Prof. Dr. Hajo Funke widmete in seiner Stel-
lungnahme für die gleiche Anhörung dem Problem staatlicher Verharmlosung
und Bagatellisierung des Rechtsextremismus, der geistigen Brandstifterrolle
bestimmter Politiker und politischer Parteien für den grassierenden Rechts-
extremismus und der Ermunterung rechtsextremer Gewalttäter sogar einen gan-
zen Abschnitt. Unter der Überschrift „Die Verantwortung ,der‘ Politik“ schrieb
er darin:

„Die zweite Empfehlung richtet sich an die politische Klasse und die politische
Öffentlichkeit, alles zu unterlassen, was potentielle Opfer mittelbar oder unmit-
telbar in den Augen des rechten Mobs zusätzlich zu stigmatisieren vermag. Sei
es, Ausländer und Asylbewerber in die Nähe der Kriminalität zu rücken, Skater
und Jugendliche in die Nähe von Drogen und ,Kiffern‘ und Linke und Demo-
kraten als vermeintliche ,Linksextreme‘ abzuwerten. Es wäre ein Moratorium
insbesondere für Wahlkampfzeiten zu überlegen, mindestens solange die Reden
von einer ,Einwanderungsgesellschaft wider Willen‘, ,90 % Scheinasylanten‘,
Parolen des ,Das Boot ist voll‘ zu unterbrechen … Solche Redeweisen sind ge-
eignet, mittelbar rassistische Gewalt zu befördern.“ (Anhörungsprotokoll,
S. 145).

Weiter kritisiert Prof. Funke:

„… die gegenwärtig von Polizei und Ausländerbehörden praktizierte Politik der
Abschreckung gegenüber Asylbewerbern …, die geeignet sind, für die rechte
Szene negativen Vorbildcharakter zu haben …“ (ebenda).

Im Editorial auf der Titelseite des Sonderdrucks der „Frankfurter Rundschau“,
in dem diese Zeitung gemeinsam mit dem Berliner „TAGESSPIEGEL“ im
Herbst letzten Jahres 93 Todesopfer rechtsextremer Gewalttäter seit 1990 doku-
mentierte und damit eine breite Debatte über Rechtsextremismus in dieser Ge-
sellschaft auslöste, wird Innenministerien, Verfassungsschutz und Polizei ein
jahrelanges „schuldhaftes Desinteresse“ bei der Bekämpfung rechter Gewalt
vorgeworfen. Gleichzeitig wird der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete
Siegfried Vergin zitiert, der – wie vor und nach ihm viele andere – öffentlich
darauf hingewiesen hat,

„dass Rassismus, Anti-Semitismus und Ausländerfeindlichkeit seit Jahren in
der Mitte der Gesellschaft etabliert sind“.

In Kenntnis und vor dem Hintergrund dieser breiten gesellschaftlichen Debatte
über Ausmaß und Ursachen von Rechtsextremismus und den damit verbunde-
nen Vorwürfen gegenüber der offiziellen Politik, Sicherheitsbehörden und Ver-
fassungsschutzämtern ist es ein erstaunlicher Vorgang, wenn das Bundesamt für
Verfassungsschutz in seinem Verfassungsschutzbericht 2000 genau solche Ur-
sachenerklärungen und Kritik an staatlichen Stellen zum Anlass nimmt, um
Verbände und Parteien, die diese Kritik formulieren, als „verfassungsfeindlich“
bzw. „extremistisch“ zu bezeichnen. So zitiert das Bundesamt in seinem Jahres-
bericht eine längere Passage aus einem Leitantrag der Vereinigung der Verfolg-
ten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-
BdA) zum Rechtsextremismus. Wörtlich heißt es in der auf Seite 141 doku-
mentierten Passage des Leitantrags der VVN-BdA:

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„Zum Nährboden des Rechtsextremismus gehören – neben der Fortdauer und
Erneuerung von Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus – ein rigoroser
kapitalistischer Marktradikalismus mit seinen asozialen Folgen und Auswir-
kungen sowie neoliberale Strategien, die ihn fördern statt bekämpfen.

Zum Nährboden des Rechtsextremismus gehört eine Gesetzesverachtung, wie
sie in den Schwarzgeldpraktiken der CDU – und dem damit verbundenen Kauf
politischer Macht – ebenso zum Ausdruck wie im Hinwegsetzen über Grundge-
setz und Völkerrecht bei der Führung des Krieges gegen Jugoslawien. (…)

Zum Nährboden geworden sind Beiträge und Stichworte aus der offiziellen Po-
litik. Erklärungen von angeblich drohender ‚Überfremdung‘, ‚Überbelastung‘
durch Flüchtlinge, von Ausländer-‚Flut‘ und -‚Schwemme‘, von ‚vollem Boot‘,
‚Ausländerkriminalität‘ und ‚unnützen‘ Menschen, die ‚schnell raus zu werfen‘
seien, gaben letztlich die Stichworte und Anstöße für die rechtsradikale Ge-
walt.“

Diese Passage aus einem Leitantrag an den Bundeskongress der VVN-BdA
vom 7./8. Oktober 2000, abgedruckt in der „antifa-rundschau“ Nr. 44, Oktober
bis Dezember 2000, soll nun angeblich eine extremistische bzw. verfassungs-
feindliche Ausrichtung der VVN-BdA belegen.

Eine ähnliche Meinungsäußerung dient dem Verfassungsschutz dazu, behaup-
tete extremistische bzw. verfassungsfeindliche Bestrebungen auch in der PDS
nachzuweisen. Wörtlich heißt es auf Seite 161 des Verfassungsschutzberichtes
2000:

„Auch die ‚Partei des Demokratischen Sozialismus‘ (PDS) unterstellt, Neona-
zismus, rechte Gewalt, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus
seien ‚stets wesentliche und mehr oder weniger legale Bestandteile des politi-
schen Systems der Bundesrepublik gewesen.‘. Diese habe im Vergleich zur
DDR einen weniger konsequenten Bruch ‚mit den gesellschaftlichen Grund-
lagen und den Eliten des NS-Diktatur‘ vollzogen.“

Mit der Bezeichnung solcher Meinungsäußerungen als „verfassungsfeindlich“
bzw. „extremistisch“ greift das Bundesamt für Verfassungsschutz in die öffent-
liche Debatte um Entstehungsbedingungen und Ursachen von Rechtsextremis-
mus, Rassismus und Antisemitismus ein.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Teilt die Bundesregierung die oben genannten Beurteilungen des Bundesam-
tes für Verfassungsschutz zu dem Leitantrag der VVN-BdA und dem Be-
schluss des PDS-Parteitags?

2. Was unterscheidet nach Ansicht der Bundesregierung die im Verfassungs-
schutzbericht 2000 zitierten Aussagen von VVN-BdA und PDS qualitativ
von den Aussagen der oben genannten Rechtsextremismus-Experten bei der
Anhörung im Deutschen Bundestag oder den Kritiken in der „Frankfurter
Rundschau“ und anderen Zeitungen, von Paul Spiegel und anderen Persön-
lichkeiten an der jahrelangen Bagatellisierung rechtsextremer Gewalt, an der
Förderung und Ermunterung rechter Gewalt aus der Mitte der Gesellschaft,
z. B. durch die anhaltende Diskriminierung von Flüchtlingen und anderen
Ausländern?

3. Welches Gesetz und/oder welche Gerichtsurteile erlauben dem Verfassungs-
schutz nach Ansicht der Bundesregierung, der VVN-BdA wie auch der PDS
die oben genannten Zitate öffentlich vorzuwerfen und die VVN-BdA bzw.
die PDS mit Verweis auf solche Zitate als extremistisch und verfassungs-
feindlich zu bezeichnen (bitte für jedes Zitat einzeln darlegen)?

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4. Sind die oben genannten Zitate der VVN-BdA und der PDS nach Ansicht
der Bundesregierung durch das im Grundgesetz garantierte Recht auf freie
Meinungsäußerung geschützt?

a) Wenn nein, warum nicht (bitte für jedes Zitat einzeln darlegen)?

b) Auf welche Gesetze und Gerichtsurteile stützt sich die Bundesregierung
bei dieser Auffassung (bitte genaue Fundstelle angeben)?

5. Sind die oben zitierten Äußerungen nach Ansicht der Bundesregierung ge-
nerell „extremistisch“ oder „verfassungsfeindlich“ oder nur, weil sie von der
VVN-BdA bzw. der PDS vorgebracht werden?

Welche Gesetze oder Gerichtsurteile stützen diese Auffassung (bitte je Zitat
einzeln darlegen)?

6. Welchen der in § 4 Abs. 2 Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) ge-
nannten Verfassungsgrundsätzen widersprechen die oben genannten Zitate
der VVN-BdA und der PDS (bitte für jedes Zitat einzeln darlegen)?

Auf welche Gesetze und/oder Gerichtsurteile stützt die Bundesregierung
ihre Auffassung (bitte genaue Fundstelle angeben)?

7. Inwiefern stellen die oben genannten Zitate der VVN-BdA und der PDS eine
„gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die
Sicherheit des Bundes oder eines Landes“ (§ 3 Abs. 1, 1 BVerfSchG) gerich-
tete Bestrebung dar (bitte für jedes Zitat einzeln darlegen)?

Auf welche Gesetze und/oder Gerichtsurteile stützt die Bundesregierung
ihre Auffassung (bitte genaue Fundstelle angeben)?

8. Falls ein Beamter die oben zitierten Meinungen äußert, wird dies als Dienst-
vergehen gewertet?

Wenn ja, mit welchen Konsequenzen?

9. Wird die Bundesregierung sicherstellen, dass der Vorwurf der Verfassungs-
feindlichkeit in Zukunft nicht mehr mit den oben genannten Zitaten begrün-
det wird?

Wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 7. Juni 2001

Ulla Jelpke
Roland Claus und Fraktion

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