BT-Drucksache 14/6342

zu der Regierungserklärung zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Göteborg am 15./16. Juni 2001

Vom 20. Juni 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/6342
14. Wahlperiode 20. 06. 2001

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Uwe Hiksch, Dr. Klaus Grehn, Wolfgang Gehrcke
und der Fraktion der PDS

zu der Regierungserklärung zu den Ergebnissen des Europäischen Rates
in Göteborg am 15./16. Juni 2001

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Erweiterung der Europäischen Union ist eine große Herausforderung für
alle Staaten und Völker auf dem europäischen Kontinent. Sie wird tief
greifende Veränderungen für die Lebenssituation der Menschen sowohl in
den Mitgliedsländern der heutigen EU-15 als auch in den beitrittswilligen
sowie den angrenzenden Ländern zur Folge haben.

Die politische und wirtschaftliche Erweiterung Europas ist eine Antwort auf

 die durch Kriege und Teilung gekennzeichnete Spaltung Europas;

 die neoliberal geprägte Globalisierung und die zunehmende Marginali-
sierung ganzer Regionen in diesem Prozess;

 das Wiederaufbrechen von Nationalismen in West- und Osteuropa.

2. Das europäische Integrationsprojekt eröffnet zusätzliche Chancen für eine
international abgestimmte Wirtschafts- und Sozialpolitik. Zentrale Akteure
in diesem Prozess müssen die Menschen in den Staaten der Europäischen
Union werden. Der Frühjahrsgipfel von Stockholm brachte nicht die erwar-
teten Ergebnisse auf dem Gebiet einer verbesserten europäischen Beschäfti-
gungs- und Sozialpolitik, die zahlreichen guten Ansätze und Vorhaben der
schwedischen Ratspräsidentschaft blieben weithin unbeachtet.

3. Die Erweiterung der Europäischen Union muss für alle Beteiligten – die bei-
trittswilligen Länder sowie die bisherigen Mitgliedsländer der EU – erfolg-
reich gestaltet werden. Deshalb muss der Erweiterungsprozess der Europäi-
schen Union auch für eine Demokratisierung und Umorientierung der
bisherigen neoliberalen Politik auf europäischer Ebene genutzt werden.

4. Der Deutsche Bundestag plädiert anlässlich des EU-Gipfels in Göteborg für
einen deutlichen Kurswechsel in der Erweiterungsstrategie. Die bisherige
Erweiterungsstrategie der Regierungen der Europäischen Union ist geschei-
tert. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten der heutigen EU-Staaten ha-
ben sich auf eine Strategie der einseitigen Marktöffnung und damit zusam-
menhängend der Liberalisierung, Privatisierung und der durchgreifenden
Unterwerfung aller Lebensbereiche unter den kapitalistischen Markt festge-
legt. Unter dem Stichwort „flexible Arbeitsmärkte“ werden in den Fort-
schrittsberichten bestehende Tarif- und Sozialvereinbarungen sowie zu hohe
Lohnkosten kritisiert bzw. Lohnzurückhaltung gefordert. Die derzeitige Er-

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weiterungsstrategie unterstützt damit eine weitere Entindustrialisierung der
Staaten Mittel- und Osteuropas, beschleunigt Verarmungsprozesse und
nimmt vielen Menschen Perspektiven für die Zukunft.

5. Hier sind unverzüglich Korrekturen durch alle Beteiligten vorzunehmen.
Unverzichtbar ist es, die zentralen europäischen Projekte – Erweiterung, De-
mokratisierung und Vertiefung – mit einer ökologisch nachhaltigen, regional
ausgeglichenen und sozial gerechten Zielbestimmung auszubauen und nicht
den Beitrittskandidaten ein einseitig neoliberales Wirtschaftsmodell als
Messlatte für ihre Aufnahmefähigkeit vorzulegen. Die falsche Strategie
beim Aufbau Ost in Deutschland scheint sich bei den mittel- und osteuropäi-
schen Staaten zu wiederholen.

6. Der Deutsche Bundestag unterstützt einen ökologischen und sozialen Struk-
turwandel in den mittel- und osteuropäischen Ländern, die entschiedene Be-
kämpfung von Arbeitslosigkeit und den Ausbau bzw. die Sicherung von öf-
fentlicher Daseinsvorsorge. Statt ein marktradikales Programm in Osteuropa
fortzusetzen, muss die EU mit den laufenden Beitrittsverhandlungen endlich
die entsprechenden Bedingungen schaffen, um einen sozial- und umweltver-
träglichen Strukturwandel in den Beitrittsstaaten zu fördern. Dazu gehören
die Schaffung umweltverträglicher Ersatzarbeitsplätze in neuen Sektoren
gegenüber schrumpfenden Altindustrien bzw. der Landwirtschaft ebenso
wie die Gewährleistung adäquater sozialer Standards. Das heißt zugleich:
Um das Projekt Osterweiterung zum Erfolg zu führen, ist eine Reformulie-
rung der Heranführungsstrategie unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit
vorzunehmen. Diese muss die engen Grenzen der neoliberalen Wirtschafts-
und Sozialpolitik verlassen und die soziale Entwicklung in den Mittelpunkt
stellen: „Wer sich der sozialen Frage nicht stellt, gefährdet das Gesamtpro-
jekt Europa.“ (Klaus Zwickel).

7. Ziel muss eine nachfrageorientierte und eigendynamische Wirtschaftsent-
wicklung für die mittel- und osteuropäischen Länder sein. Dazu gehört die
Stärkung von ArbeitnehmerInnenrechten, sozialen Sicherungssystemen, die
Ausweitung der demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten für NGOs
und von BürgerInnenrechten durch direkte Demokratie und Volksabstim-
mungen.

8. Die Ablehnung des Vertrages von Nizza durch die Bürgerinnen und Bürger
Irlands hat deutlich gemacht, dass Europa nicht länger über die Köpfe seiner
Bürgerinnen und Bürger hinweg regiert werden kann. Das irische Votum
sollte ernst genommen und als Chance für die Europäische Union verstan-
den werden. Der Nizza-Vertrag hat die EU zwar formal erweiterungsfähig,
aber keineswegs zukunftsfähig gemacht. Er brachte kein Mehr an Demokra-
tie, Effizienz und Handlungsfähigkeit für die Union von 27 oder mehr Mit-
gliedstaaten. Von daher bietet die irische Entscheidung jetzt die Möglich-
keit, die Fehler von Nizza zu korrigieren und den auch vom Europäischen
Parlament massiv kritisierten EU-Vertrag neu zu verhandeln. Der Aufbau
Europas muss grundlegend demokratisiert werden. Mit der Einberufung ei-
nes Verfassungskonvents könnte damit der Anfang gemacht werden.

9. Die strukturschwachen ostdeutschen Bundesländer sind von der EU-Oster-
weiterung in besonderem Maße betroffen. Die Bundesregierung muss in die
Offensive kommen und sich den daraus erwachsenden Aufgaben im Vorfeld
der Erweiterung widmen. Es gilt, den Abwärtstrend Ostdeutschlands zu
stoppen, wenn die Menschen in dieser Region und nicht nur die Unterneh-
men von den Chancen der Osterweiterung profitieren sollen. Der Deutsche
Bundestag fordert gerade jetzt ein neues Aufbauprogramm Ost, um Ost-
deutschland für die Erweiterung vorzubereiten und die Voraussetzungen für
eine grenzüberschreitende Kooperation mit den osteuropäischen Nachbar-
regionen zu schaffen.

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II. Die Bundesregierung hat in den letzten Wochen bewiesen, dass sie unge-
achtet aller europafreundlichen Rhetorik das Projekt Osterweiterung nur
dazu nutzt, die nationale Wettbewerbsposition zu schützen und auszubauen:

 In der Auseinandersetzung um die Übergangsfristen in den Bereichen
Dienstleistungs- und Arbeitnehmerfreizügigkeit hat sich die Bundesrepub-
lik zusammen mit Österreich gegen die wirtschaftlich schwächeren Staaten
Portugal und Spanien durchgesetzt. Die Forderung nach 7-jährigen Über-
gangsfristen in den Bereichen Arbeitnehmer- und Dienstleistungsfreiheit
hat bei den osteuropäischen Nachbarn dazu geführt, dass die Bundesrepub-
lik nicht mehr als Befürworterin eines schnellen Beitritts vor allem Polens
angesehen wird.

 Gleichzeitig tritt Bundeskanzler Gerhard Schröder verstärkt für eine „Rena-
tionalisierung“ von Struktur- und Agrarpolitik ein. Die Ansätze zu einem
solidarischen, auf wirtschaftlichen Ausgleich ausgerichteten europäischen
Projekt werden damit untergraben. Eine europaweite Nachhaltigkeitsstrate-
gie für den Agrarbereich wird aufgegeben.

 Die Bundesregierung verfügt weder über ein Konzept für die Grenzregio-
nen noch für den Aufbau Ost und gibt damit den Anspruch auf, Problemfel-
der schon vor den ersten Beitritten anzugehen.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, in den europäi-
schen Gremien für einen Kurswechsel in der Erweiterungsstrategie einzutre-
ten und die Grenzregionen besonders zu unterstützen. Das heißt im Einzelnen:

 Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die zurücküber-
wiesenen Mittel aus dem EU-Haushalt 2000 für die Entwicklung der
deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Grenzregion einzusetzen.
Die derzeitige Begrenzung des Gemeinschaftshaushaltes auf 1,27 % des
EU-BIP muss ausgeschöpft werden, um die Spielräume für Regionalent-
wicklung, Beschäftigungs- und Sozialpolitik in West- und Osteuropa zu
verbessern und den erweiterungsbedingten Strukturwandel im Sinne einer
nachhaltigen Entwicklung und des Abbaus des Wohlstandsgefälles gestal-
ten zu können. Das in den Schlussfolgerungen von Nizza und Göteborg in
Aussicht gestellte Aktionsprogramm für die Grenzregionen ist umgehend
als grenzüberschreitendes Förderprogramm durch die EU-Kommission ein-
zurichten.

 Der Deutsche Bundestag setzt sich ein für eine vorausschauende Industrie-,
Struktur- und Regionalpolitik, die umweltverträgliche und existenzsi-
chernde Ersatzarbeitsplätze für die im Rahmen des Strukturwandels wegfal-
lende Beschäftigung in den mittel- und osteuropäischen Gesellschaften
schafft.

 Die soziale Dimension des Beitrittsprozesses muss in den Vordergrund ge-
rückt werden: Die Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme und
die Erfolge in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sollen als formale Kri-
terien in die Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden. Europaweit gilt
es existenzsichernde Einkommens-, Renten- und Mindestlohnstandards für
alle Bürgerinnen und Bürger durchzusetzen.

 Die Osterweiterung hat längst begonnen und ist in vielen Grenzregionen
schon alltäglich erfahrbare Realität. Erfolgreiche Ansätze grenzüberschrei-
tender Kooperation an Europa-Schulen, in den Euregios oder den Interregio-
nalen Gewerkschaftsräten gilt es zu fördern und auszubauen. Gebündelt wer-
den müssen diese einzelnen Projekte in gemeinschaftliche Regionalentwick-
lungskonzepte inklusive gemeinschaftlicher arbeitsmarktpolitischer
Steuerungsmechanismen noch vor dem Beitritt. Regionale Entwicklungs-
pläne für die Euregios können von gemeinschaftlichen Regionalkonferenzen

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aufgestellt und ihre Umsetzung überwacht werden. Dabei sollen jedoch nicht
nur die traditionellen Akteure wie Verwaltungen, politische Mandatsträger,
Wirtschaftskammern und Gewerkschaften einbezogen werden, sondern darü-
ber hinaus ein breiteres Spektrum zivilgesellschaftlicher Akteure wie Um-
weltverbände, Sozial- und Erwerbsloseninitiativen, Frauenprojekte, Wohl-
fahrtsverbände. Die Integration und gemeinschaftliche Entwicklung der
Grenzräume muss durch themenspezifische grenzübergreifende Koopera-
tionsnetzwerke gefördert, transparent und ergebnisorientiert gestaltet werden.

 Auf EU-Ebene müssen analog der Verordnung für ultraperiphere Regionen
die geforderten Eigenanteile zur Kofinanzierung für Mittel des Europäi-
schen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) ebenso verringert werden
wie diejenigen des Europäischen Sozialfonds (ESF). Der Deutsche Bundes-
tag fordert die Bundesregierung auf einzutreten für die Schaffung eines ge-
meinsamen und unbürokratischen Verfahrens zur Abstimmung und Ent-
scheidung über die Förderinstrumente INTERREG und PHARE, den
Umbau der INTERREG IIIA-Programme zu einem arbeitsmarktpolitischen
Instrument und der befristeten Aufhebung des Beihilfenverbots für die
Grenzregionen, sowie der Schaffung eines befristeten Schwerpunkts der
TEN-Förderung (Transeuropäische Netze) für grenzüberschreitende Infra-
strukturprojekte zu den Beitrittsländern. Auf der Ebene der Mitgliedstaaten
kann die Bundesregierung beispielsweise Sonderabschreibungen bei Inves-
titionen in Grenzregionen einführen oder bundesweit die Mehrwertsteuer
für Dienstleistungen absenken, um kleine und mittlere Betriebe zu fördern.

 Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, den interkulturel-
len Austausch viel stärker zu fördern. Das heißt, sich gezielt für eine EU-
Förderung von Kultur- und Bildungsprojekten in den Regionen einzusetzen.

 Der Deutsche Bundestag tritt ein für arbeitsmarktpolitische Sicherungsklau-
seln auf regionaler Ebene, die es betroffenen Regionen bei auftretenden
arbeitsmarktpolitischen Verwerfungen ermöglichen, konkret und vor Ort
mit den MOE-Partnern gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. Im Hinblick
auf die Pendlerproblematik in den Grenzregionen sollten jetzt schon
flexible Quotenregelungen für ausgewählte Problembranchen verbunden
mit einem begleitenden Monitorringsystem in den Euregios vereinbart wer-
den. Ziel muss es sein, bis zum Beitritt die Bedingungen zu schaffen, die
eine Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht nötig machen.

 Statt auf restriktive Maßnahmen zur Verhinderung von Arbeits- und Pendel-
migration zu setzen und damit zur Entsolidarisierung breiter Arbeitnehmer-
schichten beizutragen, fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung
auf, Lohndumping auf Seiten der Unternehmer mit besseren Entsenderegelun-
gen, Tarifpflicht, Mindestlöhnen und Vergabegesetzen zu bekämpfen und da-
mit auch den Status vielfach rechtloser „Wanderarbeiter“ zu verbessern.

 Der Deutsche Bundestag setzt sich ein für die Schaffung einer Sozial-, Be-
schäftigungs-, Wirtschafts- und Umweltunion und für die demokratische
Teilhabe der in der EU lebenden Menschen an der Ausgestaltung ihres ge-
sellschaftlichen Handlungsraumes.

Berlin, den 20. Juni 2001

Uwe Hiksch
Dr. Klaus Grehn
Wolfgang Gehrcke
Roland Claus und Fraktion

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