BT-Drucksache 14/6244

Drohende Abschiebungen staatenloser Libanesinnen und Libanesen in die Türkei

Vom 30. Mai 2001


Deutscher Bundestag

Drucksache

14/

6244

14. Wahlperiode

30. 05. 2001

Kleine Anfrage

der Abgeordneten Heidi Lippmann, Ulla Jelpke, Carsten Hübner
und der Fraktion der PDS

Drohende Abschiebungen staatenloser Libanesinnen und Libanesen in die Türkei

Tausende in Deutschland lebende „staatenlose“ Kurdinnen und Kurden aus
dem Libanon sehen sich seit Frühjahr 2000 einem massiven Generalverdacht
ausgesetzt. Ihnen wird vor geworfen, sich ein Bleiberecht und Sozialhilfeleis-
tungen in Deutschland „erschlichen“ zu haben, indem sie bei ihrer Einreise ihre
angebliche türkische Staatsangehörigkeit wissentlich verschwiegen hätten. So
sei ihnen Anfang der 90er Jahre ein Bleiberecht aus humanitären Gründen nur
deshalb gewährt worden, weil ihre Abschiebung aufgrund fehlender Identitäts-
nachweise in den Libanon unmöglich war (vgl. Der Tagesspiegel vom 30. März
2000, taz-Bremen vom 8. April und 3. August 2000).

Bundesweit ermittel(te)n polizeiliche Sonderkommissionen und „Ermittlungs-
gruppen Libanon“, um u. a. über die türkischen Melderegister den Nachweis zu
führen, dass die Betrof fenen türkische Staatsangehörige seien. Zu den Ermitt-
lungsmaßnahmen gehörten beispielsweise in Essen auch DNA-Analysen. Dort
wurden bei betrof fenen Flüchtlingen aus dem Libanon auch gegen deren W il-
len Körperzellen für eine solche Analyse entnommen, um eine andere Herkunft
zu beweisen beziehungsweise zur Bestimmung von V erwandschaftsgraden
(vgl. Neue Ruhrzeitung vom 10. Januar 2001, W estdeutsche Allgemeine Zei-
tung vom 23. Januar 2001). Dies ist auch in Einzelfällen in Bremen und Nie-
dersachsen geschehen (vgl. Frankfurter Rundschau vom 30. Januar 2001,
Weserkurier vom 1. April 2001).

Dagegen versicherten die Betrof fenen, vor ihrer Einreise mehr oder minder
dauerhaft mit dem arabischen Namen im Libanon gelebt zu haben, unter dem
sie sich auch in Deutschland gemeldet hätten. V orgelegte Personaldokumente
aus dem Libanon seien jedoch zumeist zu Fälschungen erklärt worden, hieß es
auf der gemeinsamen Pressekonferenz von Caritas, Pro Asyl und Diakonie am
8. Mai 2001 in Hannover.

Bei den von der Abschiebung Bedrohten handelt es sich zum weit überwiegen-
den Teil um Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die in Deutschland ge-
boren wurden oder hier den größten Teil ihrer Jugend verbracht haben, die we-
der die Türkei kennen noch türkisch sprechen können. So sollen Behörden
selbst in solchen Fällen Ermittlungen beziehungsweise aufenthaltsbeendende
Maßnahmen eingeleitet haben, in denen den Betrof fenen eine Täuschung über
ihre Identität aufgrund ihres kindlichen Alters bei der Einreise nicht vorgewor -
fen werden kann. In mehreren Fällen wurde bei Kindern die vorgenommene
Einbürgerung zurückgenommen beziehungsweise die beantragte Einbürgerung
verweigert (vgl. taz vom 4. Mai 2000).
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„Das Wohl der Kinder und Jugendlichen, das nach der UN-Kinderrechtskon-
vention bei allen V erwaltungshandeln ein vorrangig zu beachtender Gesichts-
punkt ist, zerschellt an den Klippen des deutschen Ausländerrechts“, hieß es
auf der o. g. Pressekonferenz in Hannover.

Eine Recherchereise vom 8. bis zum 18. März 2001 in den Libanon und in die
Türkei, an der neben einem hannoverschen Rechtsanwalt auch ein Mitarbeiter
der Ausländerbehörde Hildesheim auf Vorschlag des niedersächsischen Innen-
ministeriums teilnahm, führte zu dem Ergebnis, dass die Betroffenen zur Volks-
gruppe der arabischen Mahalmi zählten. Ihre familiären Wurzeln lägen zwar in
der Türkei, doch Zehntausende seien schon vor Jahrzehnten in den Libanon
ausgewandert beziehungsweise gef ohen. Im Libanon lebten sie teils „illegal“,
teils als registrierte Ausländer , wenige wurden eingebür gert und erhielten die
Bürgerrechte. „Kontakte zu den Herkunftsregionen sind gering“, heißt es in
dem im Rahmen der o. a. Pressekonferenz vorgestellten Reisebericht. Dennoch
seien viele der Betrof fenen noch immer in türkischen Personenstandsregistern
registriert. Deren Angaben kommt im Fall arabisch sprechender Kurdinnen und
Kurden, die sich im Libanon aufhielten, jedoch allenfalls ein fragwürdiger Be-
weiswert zu:





Es wurde festgestellt, dass allein die T atsache, dass eine Familie/Person im
türkischen Register aufgeführt ist, das Vorliegen der türkischen Staatsange-
hörigkeit zwar als wahrscheinlich, aufgrund der Fortschreibung der Register
für die vor 1930 Ausgereisten jedoch nicht als sicher erscheinen lässt.





Türkische Register wurden fortgeschrieben ohne Kenntnis der Betroffenen,
gleich ob diese im Libanon, in Deutschland oder anderswo auf der W elt
leben; auf diese Weise tauchen in einer Familie in diesen Registern auch mal
mehr, mal weniger Kinder auf, Geburtsdaten- und -orte sind häuf g falsch.





Vorausgesetzt, der Libanonaufenthalt der Elterngeneration der heute in
Deutschland lebenden staatenlosen Kurdinnen und Kurden ist glaubhaft, ist
davon auszugehen, dass Kinder und Enkelkinder keine Kenntnis von einer
eventuellen türkischen Staatsangehörigkeit, türkischen Namen oder Fortfüh-
rung der Familienverhältnisse in türkischen Registern hatten.

Die Personenstandsregister sind aktuell auch Thema der türkischen Presse. Am
17. März 2001 erschien in der türkischen T ageszeitung „Radikal“ der Verlags-
gruppe Hürriyet ein Artikel, in dem der für das Registerwesen zuständige
Minister T unca T oskay die Er gebnisse der V olkszählung bekannt gab. Er
geißelte die Zustände im türkischen Registerwesen, es gäbe in den Registern
eine Vielzahl fiktiver standesamtlicher Eintragungen: Ortsteile, Straßen, Ge
bäude und Haushalte, die in Wirklichkeit nicht existierten; 10-jährige Mädchen
und 64-jährige Frauen würden zu Müttern, 22-Jährige bekämen bereits Rente.

„Die Politik stehe in der V erantwortung, nicht an der V orverurteilung einer
ganzen Personengruppe mitzuwirken und müsse für eine differenzierte Be-
trachtungsweise eintreten“, heißt es in der gemeinsamen Presseerklärung von
Pro Asyl, dem Deutschen Caritasverband und dem Diakonischen Werk der Ev.-
luth. Landeskirche Hannover e.V. vom 8. Mai 2001.

Vor diesem Hintergrund fragen wir die Bundesregierung:

1. Teilt die Bundesregierung die Auffassung,

a) dass die Erkenntnisse über Wanderungen und Vertreibungen von Kurdin-
nen und Kurden zwischen Syrien, dem Libanon, dem Iran, Irak und der
Türkei bereits frühzeitig aufgrund von Berichten etwa des Hochkommis-
sariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) und von Men-
schenrechtsorganisationen vorlagen und deshalb die nun als neu präsen-
tierten Fakten größtenteils nicht neu sind;
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b) dass in Kenntnis dieser Situation auf Landes- und Bundesebene seit Ende
der 80er Jahre Altfall- und Bleiberechtsregelungen beschlossen wurden,
die Flüchtlinge mit ungeklärter Staatsangehörigkeit aus dem Libanon
ausdrücklich mit einschlossen?

2. Über welche Informationen verfügt die Bundesregierung in Bezug auf die
Geschichte und heutige Situation der Mahalmi?

3. Ist der Bundesregierung bekannt, dass die türkischen Dörfer in der Provinz
Mardin, aus denen nach bisherigen Erkenntnissen die Mehrzahl der von auf-
enthaltsbeendenden Maßnahmen bedrohten Familien stammen sollen, ent-
weder zerstört und unbewohnt sind wie das Dorf Dereici, ehemals Kilit,
oder vom türkischen Militär besetzt sind, wie das Dorf Ückavak, ehemals
Rashidi?

Welche weiteren Erkenntnisse liegen der Bundesregierung zur dortigen
Situation, insbesondere der in diesen Dörfern und dem Dorf Y enilmez, ehe-
mals Muhasni, lebenden Arabisch sprechenden Kurdinnen und Kurden vor?

4. Ist die Bundesregierung der Auf fassung, dass die Kenntnis der arabischen
Sprache in der Türkei ausreichend zur Sicherung einer Existenzgrundlage in
der Türkei ist?

5. Zu den Ermittlungen in den Bundesländern:

a) In wie vielen Fällen wird gegen staatenlose Libanesinnen und Libanesen
ermittelt (bitte nach den einzelnen Bundesländern getrennt aufführen)?

b) Inwieweit kooperieren einzelne Bundesländer hierbei miteinander (bitte
die betreffenden Bundesländer angeben)?

c) Findet auf Bundesebene ein entsprechender Informationsaustausch statt?

Wenn ja, seit wann und unter wessen Federführung?

d) Liegen den Ermittlungstätigkeiten entsprechende Beschlüsse, Weisungen
und/oder Vereinbarungen auf Bundesebene zugrunde?

Wenn ja, welche und aufgrund welcher Erkenntnisse?

e) Auf welcher gesetzlichen Grundlage erfolgen die Ermittlungen in den
Bundesländern?

f) In wie vielen Fällen ist eine türkische Herkunft beziehungsweise Staats-
angehörigkeit belegt worden?

Welche Tatsache diente jeweils als Beleg?

6. Findet diesbezüglich eine Zusammenarbeit auf Bundesebene mit türkischen
und libanesischen Stellen statt?

Wenn ja:

a) Mit welchen Stellen wird kooperiert?

b) Wer koordiniert diese Zusammenarbeit?

c) Wo werden ermittelte Daten und Informationen gesammelt beziehungs-
weise gespeichert?

7. Haben deutsche Polizei- oder andere Behörden Zugriff auf türkische Melde-
register und/oder sind sie im Besitz von Datenbanken mit den Melderegis-
tern (einiger) türkischer Orte?

8. Zur Durchführung von DNA-Analysen:

a) In welchen Bundesländern wurden bisher Betrof fenen Körperzellen zur
Durchführung von DNA-Analysen entnommen?
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b) Welche Behörde war jeweils für die Entnahme von Körperzellen verant-
wortlich?

c) Auf welcher Rechtsgrundlage wurden Körperzellen entnommen?

d) Sind auch Körperzellen gegen den W illen der Betrof fenen entnommen
worden?

e) Was ist die Vergleichsbasis für die entnommenen Körperzellen?

f) Inwieweit sieht die Bundesregierung vor dem Hintergrund der jüngeren
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Recht der Betroffe-
nen auf informationelle Selbstbestimmung verletzt?

Welche Stellungnahmen von den Datenschutzbeauftragten der Länder
mit welchen Inhalten sind der Bundesregierung hierzu bekannt?

g) Werden die Ergebnisse der DNA-Analyse in einer Datei gespeichert?

Wenn ja, in welcher und zu welchem Zweck?

h) Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass sich eine Staatsangehö-
rigkeit nicht mit Hilfe von DNA-Analysen belegen lässt?

9. Welchen Beweiswert haben nach Auffassung der Bundesregierung – insbe-
sondere für Arabisch sprechene Kurdinnen und Kurden –

a) Angaben aus türkischen Personenstandsregistern,

b) Angaben aus libanesischen Personenstandsregistern,

c) Bürgermeisterbescheinigungen, Hebammen- und andere Bescheinigun-
gen aus dem Libanon?

Welcher dieser Bescheinigungen kommt nach Auf fassung der Bundes-
regierung aus welchen Gründen ein höherer Beweiswert zu?

10. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung für den zukünftigen Um-
gang mit Auszügen aus türkischen Personenstandsregistern?

11. In wie vielen Fällen erfolgte aufgrund der Ermittlungstätigkeit bislang

a) eine Ausweisung,

b) eine Abschiebung (bitte nach den Zielstaaten getrennt aufführen),

c) eine „freiwillige Rückkehr“ (bitte nach den Zielstaaten getrennt auffüh-
ren)?

12. In wie vielen Fällen wurden in diesem Zusammenhang erfolgte Einbürge-
rungen von Kindern auf welcher Rechtsgrundlage zurückgenommen (unter
Angabe der jeweiligen Bundesländer)?

13. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die „Aufdeckung von wahren
Identitäten“ kein deutsches Problem ist, sondern vielmehr auf der europäi-
schen Ebene gelöst werden müsse?

Wenn ja:

a) Welche Massnahmen sind diesbezüglich bereits ergriffen worden?

b) Welche (weiteren) Maßnahmen sind beabsichtigt?

14. Mit welchen europäischen Ländern, aufgrund wessen Initiative und seit
wann findet eine Kooperation zur Feststellung des erwandtschaftsgrades
der Betroffenen statt?

Inwieweit erfolgen diese im Rahmen der deutschen Ermittlungen und wer
koordiniert sie?
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15. Ist es richtig, dass aufgrund deutscher Ermittlungsinitiativen beziehungs-
weise -erkenntnisse Abschiebungen aus anderen EU-Ländern, insbeson-
dere der Niederlande, in die Türkei vollzogen wurden?

16. Ist die Bundesregierung bereit, sich dafür einzusetzen, dass den betroffe-
nen Familien und Einzelpersonen, soweit sie bisher den Schutz der bis An-
fang der 90er Jahre gewährten Bleiberechtsregelung genossen haben, ihnen
dieser weiterhin gewährt und bereits erteilte Aufenthaltsgenehmigungen
nicht zurückgenommen werden?

17. Wird die Bundesregierung sich dafür einsetzen, dass ausländerrechtliche
Verfahren, die bereits zum Nachteil der Betrof fenen rechtskräftig beendet
wurden, wieder aufgenommen werden?

18. In welcher Weise wurde bislang und soll zukünftig die Öf fentlichkeit über
die entsprechenden Ermittlungen unterrichtet (werden)?

19. Welche Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung gegen die pauschale
Diskreditierung staatenloser Kurdinnen und Kurden aus dem Libanon zu
ergreifen?

Berlin, den 30. Mai 2001

Heidi Lippmann
Ulla Jelpke
Carsten Hübner
Roland Claus und Fraktion

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