BT-Drucksache 14/6169

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung -14/4357- Sechster Familienbericht Familien ausländischer Herkunft in Deutschland Leistungen - Belastungen - Herausforderungen und Stellungnahme der Bundesregierung

Vom 30. Mai 2001


Deutscher Bundestag

Drucksache

14/

6169

14. Wahlperiode

30. 05. 2001

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Christel Riemann-Hanewinckel, Dr. Hans-Peter Bartels,
Anni Brandt-Elsweier, Dieter Dzewas, Hans Forster, Arne Fuhrmann, Renate
Gradistanac, Kerstin Griese, Christel Humme, Christine Lehder, Christa Lörcher,
Marlene Rupprecht, Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Dr. Angelica Schwall-Düren,
Rolf Stöckel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Margrit Spielmann, Rüdiger Veit,
Hanna Wolf (München), Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Kerstin Müller (Köln),
Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
– Drucksache 14/4357 –

Sechster Familienbericht
Familien ausländischer Herkunft in Deutschland
Leistungen – Belastungen – Herausforderungen

und

Stellungnahme der Bundesregierung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag begrüßt,

dass mit dem 6. Familienbericht die Situation von Familien ausländischer Her-
kunft in Deutschland zum ersten Mal komplex beschrieben und analysiert wird
sowie Wege aufgezeigt werden, wie diese Familien unterstützt und gestärkt
werden können.

Der Bericht bezieht sich auf Familien, in denen die internationale Migration zu
einem „Familienprojekt“ geworden ist. Der Migrationsprozess ist ein umfas-
sender Sozialprozess, der von der schrittweisen Lösung aus der Herkunftsge-
sellschaft bis zur Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft reicht – mit allen
damit verbundenen sozialen, kulturellen, rechtlichen und politischen Entwick-
lungen, Begleitumständen und Folgen.

Der Deutsche Bundestag setzt auf die Integration der bei uns rechtmäßig und
dauerhaft lebenden Zuwanderer, denn Migration ist eine strukturelle W irklich-
keit unserer Gesellschaft.

Er spricht sich für eine breite, öf fentliche und sachliche Diskussion über Zu-
wanderung und Zusammenleben von verschiedenen Kulturen in Deutschland
Drucksache

14/

6169

– 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

aus, die für eine erfolgreiche Ausländer - und Einwanderungspolitik unerläss-
lich ist.

Weil Familien ausländischer Herkunft durch die Migrationsprozesse und deren
Folgen besonders stark belastet sind, benötigen gerade sie familienunterstüt-
zende Strukturen. Aus diesem Grund kommt der Familienpolitik im Zusam-
menhang mit Migration eine herausragende Bedeutung zu.

Um eine Integration von Migrantenkindern zu ermöglichen, ist es notwendig,
frühzeitig adäquate

Kinderbetreuungsangebote

bereitzustellen. Neben ersten
Sprachkenntnissen erhalten Kinder von in Deutschland lebenden ausländischen
Familien auf diesem W ege zusätzliche Kompetenzen, durch die der spätere
Schulbesuch und die Integration insgesamt erheblich erleichtert werden. Deut-
sche Kinder profitieren von frühen Kontakten zu Kindern aus anderen Kultu
ren, indem sie u.a. interkulturelle Kompetenzen (z. B. erste Fremdsprachein-
drücke, Horizonterweiterung durch andere Gesten und Spielweisen) erwerben.

Eine gute

Schul- und Berufsausbildung

ist für eine erfolgreiche Integration
von großer Bedeutung. Die Bildungsmaßnahmen müssen die Lern- und Leis-
tungspotentiale der Kinder und Jugendlichen fördern und ihnen Chancen-
gleichheit ermöglichen. Dazu gehört auch, dass Eltern, Kinder und Jugendliche
ausführlich und rechtzeitig über das deutsche Bildungs-, Ausbildungs- und
Beschäftigungssystem informiert und individuell beraten werden.

Kenntnisse der deutschen Sprache sind für den schulischen und beruf ichen
Erfolg von wesentlicher Bedeutung. Bilingualität (Herkunftssprache und
Deutsch) sollte als zusätzlicher Kompetenzerwerb angesehen und dementspre-
chend gefördert werden. Das von der Bundesregierung ausgearbeitete Konzept
eines Sprachförderungssystems wird ausdrücklich begrüßt. Insbesondere den
Bedürfnissen von Migrantinnen ist Rechnung zu tragen.

Weil das „Familienprojekt Migration“ in der Regel mehrere Generationen be-
trifft, brauchen Familien ausländischer Herkunft eine langfristige Perspektive.
Eigeninitiativen und langfristige Investitionen in die Zukunft sollten intensiv
unterstützt werden. Daher sind insbesondere für diese Familien kontinuierliche,
klare und umfassende rechtliche Absicherungen von herausragender Bedeu-
tung.

Insbesondere die große Solidarität in Familien ausländischer Herkunft hilft den
Familienmitgliedern, die Belastungen, die im Zusammenhang mit Migration –
oder sogar Bürgerkrieg und politischer Verfolgung – entstehen, zu bewältigen.
Daher müssen Familien ausländischer Herkunft bei ihrer ausgeprägten Bereit-
schaft, Pflegeleistungen im Falle von Krankheit und Alter ihrer Familienange
hörigen zu übernehmen, gefördert und durch soziale Dienste unterstützt wer-
den. Der Deutsche Bundestag begrüßt in diesem Zusammenhang ausdrücklich
das Informationsprogramm der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung
für ältere Ausländer, das in Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz, der Arbei-
terwohlfahrt und einigen Städten entwickelt wurde. Die bislang bestehenden
Angebote von sozialen Diensten müssen den durch Migration entstandenen
Veränderungen weiter angepasst werden. Als soziale Dienstleister im vorge-
nannten Sinne gelten auch Sozialversicherungsträger , Gebietskörperschaften
sowie Alten-, Jugend- und Familienhilfeeinrichtungen.

II. Der Deutsche Bundestag appelliert daher an Länder und Kommunen,

die Infrastruktur für die Kinderbetreuung so auszugestalten, dass Migranten-
kinder ausreichend gefördert werden können. In Kinderbetreuungseinrichtun-
gen können Migrantenkinder frühzeitig Sprachkenntnisse erhalten und inter-
kulturelle Kompetenzen erwerben. Außerdem sollen die Eltern durch gezielte
Kampagnen auf die positiven Auswirkungen dieser Frühförderung hingewie-
sen werden.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 –

Drucksache

14/

6169

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung im Rahmen der
finanzpolitischen Leitlinien auf,

1. sich in Bund und Ländern dafür einzusetzen, dass das Bildungssystem in
Hinsicht auf Migrationsfolgen optimiert wird. Es ist so fexibel zu gestalten,
dass es auch den Bedürfnissen und Erwartungen der Menschen mit unter-
schiedlichen Kulturen gerecht wird.

Insbesondere sollen





bei der Ausbildung von Lehrkräften interkulturelle Kompetenzen vermit-
telt werden und der Einsatz von ausländischen Lehrkräften und Sozial-
pädagogen bzw. Pädagogen mit Migrationserfahrungen gezielt ausgebaut
werden,





bei der Gestaltung des Unterrichts Prinzipien der interkulturellen Päda-
gogik konsequent umgesetzt werden,





die Eltern von Migrantenkindern durch umfassende Kampagnen über das
deutsche Bildungs- und Berufsbildungssystem aufgeklärt werden und sie
speziell aufgefordert werden, sich in das schulische Geschehen einzu-
bringen, da davon der Bildungserfolg der Kinder maßgeblich abhängig
ist (insbesondere sind bei schulischen Übergängen und im Übergang vom
Bildungs- ins Beschäftigungssystem Beratungen und Förderungen anzu-
bieten),





schulische Angebote an den vorhandenen Ressourcen der Migrantenkin-
der ansetzen und ihre Muttersprache nach Möglichkeit fördern, weil Bi-
lingualität und Bikulturalität als Zusatzqualif kationen besonders förde-
rungswürdig sind,





Kinder von Asylsuchenden in allen Bundesländern die Möglichkeit zum
Schulbesuch erhalten, um Schulunterbrechungen zu vermeiden,





Schule, Jugendhilfe und Sozialeinrichtungen bei der Förderung von Mi-
grantenkindern verstärkt zusammenwirken,





junge Zuwanderer im Programm der Bundesregierung „Entwicklung und
Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“ (E & C), im Son-
derprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit JUMP und in den Förderpro-
grammen gegen Benachteiligungen besonders angesprochen werden,





ausländische Firmen und insbesondere Firmen von Migrantinnen und
Migranten in Deutschland für eine Beteiligung an der dualen Berufsaus-
bildung geworben werden,





internationale Kooperationen von Bildungseinrichtungen und die Inter-
nationalität an deutschen Hochschulen gefördert werden,





an den Universitäten und Fachhochschulen verstärkt Studiengänge und
interdisziplinäre Forschungsinstitutionen, die interkulturelle Bildung, in-
ternationale Migration, ethnische Studien, geschlechtsspezif sche Frage-
stellungen der Migration und Integration sowie interkulturell verglei-
chende Familienwissenschaften zum Gegenstand haben, etabliert werden,





die Hochschulen bezüglich

– der Studienstrukturen (z. B. bei den Abschlüssen),

– der Hochschulangebote (z. B. bei den Sprachen)

und

– der sozialen Studienbedingungen (z. B. bei den Wohnungsangeboten)

besser auf die Bedürfnisse von ausländischen Studentinnen und Studen-
ten ausgerichtet werden und
Drucksache

14/

6169

– 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode





zielgruppenspezifische eiterbildungsangebote für Migrantenfamilien,
Interessenvertretungen von Migrantinnen und Migranten bereitgestellt
werden und auch im mediengestützten Lernen spezielle Angebote ent-
wickelt werden.

Darüber hinaus soll für ausländische Studierende, die in Deutschland nach
einer längeren Studienphase einen Hochschulabschluss erreichen, und Aus-
länder, die sich in Deutschland erfolgreich als wissenschaftlicher Nach-
wuchs qualifizieren, der Zugang zu beru icher Tätigkeit erleichtert werden;

2. den bereits eingeschlagenen Weg der Sprachförderung weiter zu beschreiten
und nach Möglichkeit auszubauen. Sprachkurse und Integrationskurse soll-
ten nach dem Prinzip „Fördern und Fordern“ durchgeführt werden und posi-
tive Anreize bieten, wie beispielsweise die mögliche Verbesserung des Auf-
enthaltsstatus;

3. die Rechtssituation für Migrantinnen und Migranten weiter zu verbessern.

Der Deutsche Bundestag begrüßt die Beschlüsse des Europäischen Rates in
Tampere, uneingeschränkt zu seinen Verpflichtungen aus der Genfer Flücht
lingskonvention und anderen Menschenrechts-Übereinkünften zu stehen. Er
begrüßt die dort festgelegte Absicht einer gemeinsamen Asyl- und Migrati-
onspolitik sowie besonders die Absicht, die Rechtsstellung von Drittstaats-
angehörigen der Rechtsstellung der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten
der EU anzunähern.

Der Deutsche Bundestag begrüßt grundsätzlich den V orschlag der EU-
Kommission für eine Richtlinie des Rates in der Fassung vom 10. Oktober
2000 betref fend das Recht auf Familienzusammenführung, dies gilt ins-
besondere für die V erkürzung der W artefrist, klare Anspruchsregelung für
Angehörige der Kernfamilie, Erhöhung des Nachzugalters, weiter verbes-
serter Zugang zum Arbeitsmarkt.

Darüber hinaus soll/en





in geeigneten Fällen langjährig in Deutschland lebende Migrantinnen
und Migranten einen Aufenthaltstatus erhalten, der insbesondere die Auf-
nahme von Ausbildung und Erwerbstätigkeit ermöglicht,





Diskriminierungen bei der W ohnraumvergabe für Migrantinnen und
Migranten bekämpft werden,





Selbsthilfepotentiale und ehrenamtliches Engagement von Migrantinnen
und Migranten gefördert werden und





für dauerhaft in der EU lebende Drittstaatler Freizügigkeit nach Maßgabe
des Amsterdamer Vertrages innerhalb der EU gewährt werden.

Außerdem muss die Bundesrepublik Deutschland die gegen die UN-Kinder-
rechtskonvention geäußerten V orbehalte gemäß dem Beschluss des Deut-
schen Bundestages vom 30. September 1999 noch in dieser Legislatur -
periode zurücknehmen;

4. sich auf allen Ebenen für eine interkulturelle Öffnung von sozialen Diensten
(auch Sozialversicherungsträger , Gebietskörperschaften sowie Alten-, Ju-
gend- und Familienhilfeeinrichtungen) einzusetzen.

Insbesondere soll





die Entwicklung bzw . Weiterentwicklung mehrsprachiger Informations-
materialien unterstützt,





die Vernetzung der verschiedenen sozialen Institutionen, die Beratungs-
aufgaben im Zusammenhang mit Zuwanderung und Eingliederung über-
nommen haben, erreicht,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 –

Drucksache

14/

6169





die Erstellung von sozialraumbezogenen Analysen und Hilfsplänen ge-
fördert,





die Anstellung von interkulturell kompetenten Fachkräften gefördert,





die Vergabe öffentlicher Mittel von der Vorlage von Konzepten zur inter-
kulturellen Öf fnung sozialer Institutionen und Dienste abhängig ge-
macht,





für Pendler eine verbesserte Kooperation der sozialen Sicherungssysteme
der Aufnahme- und Entsendeländer erreicht

und





Beraterinnen und Beratern für ausländische Familien, die im Übrigen
nicht gleichzeitig als Sprachmittler eingesetzt werden sollen, eine spe-
zielle Ausbildung eröffnet werden.

5. Der Deutsche Bundestag begrüßt die Reform des Ausländergesetzes, das
nun ein eigenständiges Aufenthaltsrecht der Ehegatten schon nach zwei Jah-
ren vorsieht statt wie bisher nach vier Jahren.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf zu prüfen, inwie-
weit die Neuregelungen des Kindschaftsrechts in Bezug auf Sorgerecht und
Umgangsmöglichkeit des nichtdeutschen Elternteils mit dem Kind in der
ausländerrechtlichen Praxis berücksichtigt werden.

Insbesondere soll





im Rahmen der Novellierung der V erwaltungsvorschriften zum Aus-
ländergesetz die Möglichkeit des Umgangs des ausländischen Elternteils
mit seinem Kind nach dem Kindschaftsrecht überprüft werden,





sowohl beim gemeinsamen Sor gerecht als auch beim Umgangsrecht des
ausländischen Elternteils bei ausländerrechtlichen Entscheidungen das
Kindeswohl und die fachliche Beurteilung des Jugendamtes einf ießen,





der Bezug von Sozialhilfe nach T rennung und Scheidung mit Beteili-
gung von Kindern keine aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen nach sich
ziehen,





im Ausländerrecht berücksichtigt werden, dass der Bezug von kind-
bezogenen Sozialleistungen und Leistungen nach dem Kinder - und
Jugendhilfegesetz (KJHG) für den ausländischen Elternteil keine aufent-
haltsrechtlichen Konsequenzen nach sich ziehen darf und





dem Kindesunterhaltsrecht in den V ertragsstaaten, auch außerhalb des
europäischen Raums, mehr Wirksamkeit verschafft wird.

Berlin, den 30. Mai 2001

Dr. Peter Struck und Fraktion
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.