BT-Drucksache 14/6113

Arbeitszeitgesetz (ArbZG) beschäftigungssichernd reformieren - Überstunden abbauen

Vom 17. Mai 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/6113
14. Wahlperiode 17. 05. 2001

Antrag
der Abgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner, Eva-Maria Bulling-Schröter,
Dr. Ruth Fuchs, Dr. Klaus Grehn, Uwe Hiksch, Ulla Lötzer, Pia Maier
und der Fraktion der PDS

Arbeitszeitgesetz (ArbZG) beschäftigungssichernd reformieren –
Überstunden abbauen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die gleichmäßige Verteilung von gesellschaftlicher Arbeitsnachfrage und
Angebot entscheidet maßgeblich über den Beschäftigungsstand, die Gleich-
stellung der Frauen und Generationen im Arbeitsleben sowie den Gesund-
heitsschutz der Beschäftigten. Unabhängig von der Verantwortung der Tarif-
vertragsparteien hat der Gesetzgeber deshalb die gesetzlichen Rahmenbedin-
gungen für eine beschäftigungssichernde Arbeitszeitpolitik zu schaffen und sie
der aktuellen Entwicklung anzupassen.

Mit etwa zwei Milliarden Überstunden hat die bezahlte Mehrarbeit im ver-
gangenen Jahr einen Umfang erreicht, der das Entstehen neuer Arbeitsplätze
behindert. Da im Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerb keine Eini-
gung über den Überstundenabbau erreicht werden konnte, ist es Aufgabe des
Gesetzgebers, einen beschäftigungswirksamen Überstundenabbau zu unterstüt-
zen.

Die erhebliche Abweichung der gesetzlichen Höchstarbeitszeit von den tarif-
lich vereinbarten Arbeitszeiten begünstigt die Ausweitung der Überstunden
und sozial unverträgliche Formen der Flexibilisierung.

In deutschen Unternehmen wächst die Tendenz zu einem Arbeitszeitregime,
das den Gesundheitsschutz untergräbt und zum Ausschluss von älteren Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern sowie Beschäftigten mit gesundheitlichen
Einschränkungen führt. Lange Wochenarbeitszeiten mit sozial unverträglichen
Ausgleichszeiträumen verschlechtern obendrein die Beschäftigungschancen
von Menschen mit Kindern oder gefährden deren Erziehungsaufgaben.

Die Mitgliedstaaten der EU tragen eine erhebliche Verantwortung zur Errei-
chung eines hohen Beschäftigungsstandes in der Union. Deshalb muss die Bun-
desregierung darauf hinwirken, dass die gesetzliche Höchstarbeitszeit in der
Bundesrepublik Deutschland an die Standards der Länder mit vergleichbarer
Produktivität angeglichen wird.

Das Arbeitszeitgesetz der Bundesrepublik Deutschland entspricht nicht der
Arbeitszeitrichtlinie der EU und muss deshalb umgehend novelliert werden.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

ein Arbeitszeit-Reformgesetz mit folgenden Änderungen vorzulegen:

1. In § 3 ArbZG wird eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von 40 Stunden
festgelegt. Sie soll auf bis zu 50 Stunden in der Woche verlängert werden
können, wenn innerhalb eines Ausgleichszeitraumes von vier Monaten im
Durchschnitt 40 Wochenstunden nicht überschritten werden. Die tägliche
Arbeitszeit soll zehn Stunden nicht überschreiten dürfen.

2. In § 6 ArbZG ist die wöchentliche Arbeitszeit von Nachtarbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern auf 35 Stunden und die werktägliche auf 7 Stunden zu
begrenzen.

3. Die unter § 7 ArbZG genannten abweichenden Regelungen müssen durch
einen Tarifvertrag gedeckt sein.

4. § 10 Abs. 4 ArbZG ist ersatzlos zu streichen.

5. Die in § 13 ArbZG geschaffenen Möglichkeiten zur Einschränkung der
Sonn- und Feiertagsruhe sind zu begrenzen; dazu sind insbesondere fol-
gende Änderungen notwendig:

a) Absatz 1, Nr. 2 Buchstabe c: Der Satzteil „insbesondere auch zur Siche-
rung der Beschäftigung“ ist ersatzlos zu streichen.

b) Absatz 2 ist dahingehend zu verändern, dass tarifvertragliche Regelungen
Vorrang vor Rechtsverordnungen haben.

c) Absatz 3, Nr. 2 Buchstabe a: Die Ausnahme ist auf bis zu fünf Sonn-
und Feiertage im Jahr zu begrenzen.

d) Absatz 5 ist zu streichen.

6. § 15 Abs. 2 ist ersatzlos zu streichen.

7. Das Gesetz muss den rechtlichen Rahmen für Arbeitszeitkonten festlegen.
Dabei kommt es insbesondere darauf an:

a) Mindeststandards für das Führen und die Sicherung des Anspruchs aus
Arbeitszeitkonten festzulegen;

b) Arbeitszeiten, die über die tarifvertraglich vereinbarte Wochenarbeitszeit
hinausgehen, sind auch dann zuschlagspflichtig, wenn sie in Zeitgutha-
ben verwandelt werden. Näheres kann durch Tarifverträge geregelt wer-
den;

c) bei Ausscheiden aus dem Betrieb einen rechtlichen Anspruch auf Um-
wandlung des Zeitguthabens in Entgelt zu verankern;

d) die Zeitguthaben vor einer Anrechnung auf Lohnersatzleistungen zu
schützen.

Berlin, den 17. Mai 2000

Dr. Heidi Knake-Werner
Eva-Maria Bulling-Schröter
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Klaus Grehn
Uwe Hiksch
Ulla Lötzer
Pia Maier
Roland Claus und Fraktion

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/6113

Begründung

Zu I.

Die im ArbZG von 1994 festgelegte wöchentliche Höchstarbeitszeit von
48 Stunden entspricht schon seit Jahrzehnten nicht mehr der tariflichen Realität
und schreibt eine Grenze fest, die der Gesetzgeber bereits vor der Gründung der
Weimarer Republik festlegte. Die gesetzliche Höchstarbeitszeit liegt heute um
mehr als zehn Wochenstunden über der durchchschnittlichen tariflichen Ar-
beitszeit, so dass die Regelungswirkung des ArbZG für die Begrenzung der
wöchentlichen Arbeitszeit faktisch bedeutunglos ist. Dagegen eröffnet die
großzügig bemessene Hochstarbeitszeitgrenze die Möglichkeit, in tariffreien
Bereichen die Arbeitszeiten bis über das sozial- und gesundheitspolitisch ver-
tretbare Maß hinaus auszudehnen. Dies aber widerspricht dem in § 1 ArbZG
formulierten eigentlichen Zweck des Gesetzes. Gleichzeitig wird damit die
Tarifautonomie geschwächt. Wenn der Gesetzgeber Mindeststandards zulässt,
die so stark vom tariflich erreichten Niveau abweichen, wie dies im ArbZG der
Fall ist, befördert er Tarifflucht und gefährdet das System der industriellen Ar-
beitsbeziehungen.

Die großzügige Bemessung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit befördert
gleichzeitig das Wachstum von Überstunden und damit eine unausgewogene
Verteilung der Arbeit. Das Nebeneinander von zunehmenden Überstunden und
Unterbeschäftigung ist mit dafür verantwortlich, dass die Arbeitslosigkeit
selbst in Phasen konjunktureller Belebung nicht entsprechend abgebaut werden
kann.

In den meisten vergleichbaren Mitgliedsländern der EU ist die gesetzliche Wo-
chenarbeitszeit auf 40, in Frankreich in Betrieben mit mehr als 20 Beschäftig-
ten auf 35 Stunden begrenzt. Im Interesse einer sozialen Integration, ohne die
der europäische Prozess auf die Stufe einer bloßen Freihandelspolitik herabsin-
ken würde, müssen auch die sozialen Standards angeglichen werden. Als eines
der stärkeren Mitgliedsländer trägt die Bundesrepublik Deutschland eine be-
sonders hohe Verantwortung bei der Realisierung der Sozialunion, so dass eine
Angleichung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit an die Mehrheit der EU-Mit-
gliedsländer auch aus der Perspektive der deutschen Europapolitik notwendig
ist.

Gleichzeitig verstößt das deutsche ArbZG gegen die europäische Arbeitszeit-
richtlinie, weil sie einen sechsmonatigen Ausgleichszeitraum zur Erreichung
der durch die Richtlinie vorgeschriebenen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden
zulässt. Die europäische Richtlinie schreibt vor, dass der Ausgleich innerhalb
von vier Monaten erreicht sein muss.

Zu II.

1. Obwohl sämtliche Tarifverträge wöchentliche Arbeitszeiten von 40 und we-
niger Stunden festlegen und der Durchschnitt bei 37,8 Wochenstunden liegt,
haben 1997 11,4 Prozent aller Beschäftigten für gewöhnlich länger als
40 Stunden pro Woche gearbeitet. Eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von
40 Stunden ist deshalb das wirksamste Mittel zum Abbau der zwei Milliar-
den Überstunden. Mit einer begrenzten Ausweitung der wöchentlichen
Höchstarbeitszeit auf 50 Stunden sind den Betrieben ausreichende Flexibili-
sierungsmöglichkeiten gegeben. Ausgeschlossen wird lediglich die in man-
chen Branchen übliche Entwicklung struktureller Mehrarbeit.

2. Die gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse stufen Nacht- und
auch Schichtarbeit als Ursache schwerer gesundheitlicher Schädigungen
und früher Arbeitsunfähigkeit ein. Eine Begrenzung der wöchentlichen
Höchstarbeitszeit für Nachtarbeiterinnen und Nachtarbeiter ist deshalb vor-

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dringlich, nicht nur im Interesse der betroffenen Beschäftigten, sondern auch
der Allgemeinheit.

3. Ausnahmen von der durchschnittlichen gesetzlichen Höchstarbeitszeit sind
vom Arbeitgeber gegenüber den Beschäftigten außerordentlich leicht durch-
setzbar, nicht nur durch das persönliche Abhängigkeitsverhältnis und den
damit gegebenen Druckmöglichkeiten, sondern auch durch die zunehmend
auf die Beschäftigten übertragene Verantwortung für die Erfüllung von Kun-
denwünschen. Diese individuelle Abhängigkeit der Nachtarbeiterinnen und
Nachtarbeiter wird in unserer Rechtsordnung ausdrücklich durch die Tarif-
autonomie und die betriebliche Interessenvertretung gemindert. Das Wesen
der Tarifautonomie wird jedoch untergraben, wenn nicht tarifgebundene Ar-
beitgeber gesetzlich bevorzugt werden. Der von der Verfassung gewollte
Schutz der abhängig Beschäftigten durch Tarifautonomie und Betriebsver-
fassung verlangt einen Vorrang des Traifvertrages und der kollektiven be-
trieblichen Regelung.

4. Mit der durch das Euro-Einführungsgesetz geschaffenen Möglichkeit, Bank-
geschäfte an Feiertagen zu tätigen, wurde erstmals ein Grundsatz des § 9
ArbZG durchbrochen, der auch verfassungsrechtlich bedenklich ist. Wobei
die Einschränkung, dass europaweite Feiertage weiterhin frei bleiben müs-
sen, fast bedeutungslos ist, da dies nur für den ersten Weihnachtsfeiertag
gilt.

5. Die im § 13 ArbZG gegebenen Ausnahmen von der Sonn- und Feiertags-
ruhe werden immer weniger im Interesse der Aufrechterhaltung gesell-
schaftlicher Daseinsvorsorge oder des Gemeinwohls eingesetzt, sondern für
die Kommerzialisierung des gesellschaftlichen Lebens ausgeschöpft. Die
Fülle der Ausnahmeregelungen begünstigt den Abbau der kulturell gewach-
senen Zeiträume gesellschaftlicher Muße und ist damit sowohl familien-
feindlich als auch sozial unverträglich.

a) Die Sicherung der Beschäftigung durch Ausnahmen von der Sonn- und
Feiertagsruhe ist weder theoretisch noch empirisch nachweisbar.

b) In der Praxis konkurrieren die Bundesländer untereinander mit großzügi-
gen Ausnahmeregelungen, womit der Regelungscharakter des ArbZG
unterlaufen wird. Besonders problematisch dabei ist, dass die Gewerk-
schaften zur Verhinderung dieser Praxis zwar tarifvertragliche Regelun-
gen mit länderübergreifender Geltung vereinbart haben, dass diese aber
durch Rechtsverordnungen in Frage gestellt werden. Angesichts der ver-
fassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie ist die Möglichkeit, durch
Rechtsverordnungen Tarifverträge zu umgehen, nicht haltbar.

c) Mit fünf verkaufsoffenen Sonn- und Feiertagen lassen sich die Einkaufs-
bedürfnisse der Verbraucher vor hohen Fest- und Feiertagen problemlos
befriedigen.

d) Absatz 5 entspricht einer Generalbevollmächtigung der Aufsichtsbehörde
zur Genehmigung von Sonn- und Feiertagsarbeit für Betriebe, die mit
auswärtigen Anbietern konkurrieren. Es genügt der Nachweis, dass nur
einer der unzähligen weltweiten Konkurrenten auf längere Betriebszeiten
kommt, ohne dass dabei die unterschiedliche Stundenproduktivität eine
Rolle spielt. Wenn Bestimmungen des Arbeitsschutzes zum Zweck der
Wettbewerbsverbesserung ausgesetzt werden können, verlieren sie ihren
Sinn, weil jede dieser Bestimmungen eine betriebswirtschaftliche Ein-
schränkung darstellt. Der Gesetzgeber hat aber nicht die betriebswirt-
schaftlichen Vorteile, sondern das volkswirtschaftliche Interesse zu be-
achten. Der Arbeitsschutz der Beschäftigten dient nicht nur dem Recht
auf körperliche Unversehrtheit der Beschäftigten, sondern auch dem
volkswirtschaftlichen Interesse an der Reproduktion der Arbeitskraft.

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6. Absatz 2 enthält eine Generalbevollmächtigung für die Aufsichtsbehörden,
vom Gesetz abweichende längere Tagesarbeitszeiten zu genehmigen und da-
mit die Regelkompetenz des ArbZG insgesamt zu unterlaufen. Damit wird
die Gestaltung der Arbeitszeit in einem nicht mehr zu rechtfertigenden
Maße dem Verordnungsweg überlassen.

7. Arbeitszeitkonten werden durch das ArbZG bisher keinen Regelungen un-
terworfen, obwohl sie eine immer größere Verbreitung finden. Diese Ent-
wicklung ist grundsätzlich zu begrüßen, wenn dadurch Überstunden vermie-
den werden können und die Flexibilisierung der Produktion nicht zu Lasten
der Beschäftigten geht. Der Schutzgedanke des ArbZG und das Ziel der Be-
schäftigungssicherung muss sich deshalb auch bei den zu beschreibenden
Anforderungen an Arbeitszeitkonten niederschlagen.

a) Die Einführung von Arbeitszeitkonten wie ihre Ausgestaltung unterlie-
gen der Mitbestimmung der Betriebsräte. Der Gesetzgeber sollte jedoch
verbindliche Mindeststandards einführen, um den Betriebsvertretungen
ihre Arbeit zu erleichtern und die Zahl der Einigungsstellenverfahren zu
begrenzen.

b) Bisher ist kein ausreichender Insolvenzschutz für Zeitkonten gegeben.

c) Es handelt sich hier um Mehrarbeit, für die nur bei entsprechenden tarifli-
chen Vereinbarungen ein Anspruch auf Zeitzuschlag besteht. Um Mehr-
arbeit nicht zur Regel werden zu lassen, müssen die Beschäftigten auch
in tariffreien Betrieben einen Anspruch auf Zeitzuschläge haben.

d) Vielfach verfallen die Ansprüche aus Zeitkonten bei Kündigung oder
Arbeitsplatzwechsel, weil die Rechtslage nicht eindeutig geregelt ist.

e) Im Falle einer Kündigung mit anschließender Arbeitslosigkeit wird die
Umwandlung von Zeitguthaben in Entgelt von den Arbeitsämtern wie
eine Abfindung behandelt. Es kommt zu einer Minderung der Lohn-
ersatzleistungen, die nicht eintreten würde, wenn die Mehrarbeit zum
Zeitpunkt der Leistung entlohnt worden wäre. Im Interesse einer beschäf-
tigungssichernden Abgeltung der Mehrarbeit durch Freizeitausgleich,
dürfen bei Arbeitslosigkeit in Entgelt umgewandelte Zeitguthaben nicht
mit Lohnersatzleistungen verrechnet werden.

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