BT-Drucksache 14/5961

Die strategische Bedeutung der Kaukasus-Republiken, Armenien, Aserbaidschan und Georgien politisch Umsetzen

Vom 8. Mai 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/5961
14. Wahlperiode 08. 05. 2001

Antrag
der Abgeordneten Volker Rühe, Karl Lamers, Klaus-Jürgen Hedrich, Christian
Schmidt (Fürth), Hermann Gröhe, Ruprecht Polenz, Hans-Peter Repnik,
Dr. Andreas Schockenhoff, Reinhard Freiherr von Schorlemer, Peter Weiß
(Emmendingen) und der Fraktion der CDU/CSU

Die strategische Bedeutung der Kaukasus-Republiken Armenien, Aserbaidschan
und Georgien politisch umsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die drei südkaukasischen Republiken Armenien, Aserbaidschan und Georgien
liegen an einer strategischen Schnittstelle zwischen Europa und Asien. Spätes-
tens seit der Aufnahme in den Europarat – Georgien im April 1999, Armenien
und Aserbaidschan im Januar 2001 – haben diese Länder ihren festen Platz in
der europäischen Staatenfamilie.

Zehn Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit sind die drei Republiken aller-
dings von ungelösten Sezessionskonflikten, labilen Waffenstillständen, Flücht-
lingselend, Verarmung, Abwanderung, im Falle Georgiens zusätzlich von der
Erosion staatlicher Macht geprägt. Die Ursachen liegen zum Teil bei den be-
troffenen Ländern selbst. Eine Kultur der innerstaatlichen Teilung von Macht,
des Minderheitenschutzes, der gewaltfreien Regelung von Konflikten und der
sozialen Verantwortung muss erst noch heranreifen.

Doch die strukturellen Defizite der Region werden seit Jahrhunderten von den
angrenzenden Regionalmächten für eigene Interessen genutzt und instrumenta-
lisiert. Seit dem Ende der Sowjetherrschaft Anfang der neunziger Jahre haben
die teils nachgewiesenen, teils vermuteten Erdöl- und Erdgasvorkommen im
Kaspischen Schelf erneut die Aufmerksamkeit der Regional- und Großmächte
sowie internationaler Investoren auf sich gezogen. Neben der Aufteilung von
Förderrechten erweist sich die Frage der Transportrouten vom schwer zugängli-
chen Kaspischen Binnenmeer zu den großen internationalen Umschlagplätzen
als Gegenstand kontroverser Interessenwahrnehmung.

Allein in den letzten drei Jahren ist die Erdölförderung in Aserbaidschan um
knapp 70% gestiegen, in den kommenden Jahren wird sie sich vervielfachen.
Auch Deutschland importiert seit vergangenem Jahr – bislang in kleinen Men-
gen – Erdöl aus Aserbaidschan. Umgekehrt ist mit einer steigenden Nachfrage
nach deutschen Investitionsgütern, insbesondere bei der Erdölförderung und
-verarbeitung, zu rechnen.

Die Bedeutung des kaspischen Erdöls für den europäischen Markt wird in den
kommenden Jahrzehnten zunehmen, zumal sich die Quellen der Nordsee zuse-
hends erschöpfen. Ebenso werden die noch am Anfang ihrer Erschließung ste-
henden kaspischen Erdgasvorkommen in ihrem Stellenwert für die europäische

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Versorgungssicherheit wachsen. Gleichzeitig gewinnen Aserbaidschan und
Georgien als Transitländer für den kaspischen und zentralasiatischen Ressour-
cenreichtum an Bedeutung.

Die Kollision unterschiedlicher politischer und wirtschaftlicher Interessen hat
zur Bildung strategischer Achsen quer durch den Kaukasus geführt: Die verti-
kale Achse verläuft von Russland über Armenien in den Iran, die horizontale
Achse von Zentralasien über Aserbaidschan, die Türkei bzw. die Ukraine nach
Westeuropa. Der Verlauf der Achsen ist teilweise historisch, teilweise pragma-
tisch, vor allem jedoch machtpolitisch bedingt.

Solange diese Blockbildung anhält, bleiben auch die Lösung der ethnischen
Konflikte in der Region und die Überwindung des damit verbundenen mensch-
lichen Elends unwahrscheinlich. Der Konflikt um das von Georgien abtrünnige
Abchasien verhindert die Rückkehr von 300 000 Georgiern in ihre abchasische
Heimat. Im armenisch-aserbaidschanischen Krieg um Nagorny-Karabach, in
dem knapp 20% des aserbaidschanischen Staatsgebiets unter armenische Kon-
trolle geraten sind, sind über eine Million Menschen, zum Großteil Aserbaid-
schaner, zu Flüchtlingen geworden. Das menschliche Leid und die Perspektiv-
losigkeit der seit Jahren in unzumutbaren Behelfsunterkünften untergebrachten
Flüchtlinge ist eine humanitäre Katastrophe mit unabsehbarem sozialen Risiko-
potential. Der von dort ausgehende Migrationsdruck macht sich seit Jahren bei
unseren Ausländerämtern bemerkbar.

Sowohl bei Abchasien als auch bei Nagorny-Karabach spielt die Zeit gegen
eine friedliche Beilegung der Konflikte. Die Spannungen zwischen Georgien
und Russland, das sich immer wieder dem Verdacht mal verdeckter, mal offe-
ner Unterstützung der abchasischen Separatisten aussetzt, nehmen zu. Moskau
hat im letzten Winter über Monate die Gaslieferungen nach Georgien unterbro-
chen und gegenüber dem Land – als einzigem in der GUS – die Visumspflicht
eingeführt. Ausgenommen sind allein die Bewohner des abtrünnigen Ab-
chasien sowie des auf Wiedervereinigung mit dem russischen Nord-Ossetien
drängenden Süd-Ossetien, womit der Sezession dieser Gebiete Vorschub ge-
leistet wird. Ferner fordert Russland von Georgien, das eigene Land für den
Kampf der russischen Einheiten gegen tschetschenische Separatisten zu öffnen.

In Aserbaidschan setzen potentielle Nachfolger des knapp achtzigjährigen
Staatspräsidenten Alijew bereits auf die Erdöleinnahmen der kommenden Jahre
zur Finanzierung der militärischen Rückeroberung der an Armenien verlorenen
Gebiete. Skepsis und Enttäuschung über die mit den Konflikten seit bald einem
Jahrzehnt befassten internationalen Organisationen – der OSZE und den
Vereinten Nationen – haben sich unter den Betroffenen im Kaukasus breit
gemacht.

Deutschland gehörte zu den ersten Ländern, die die Unabhängigkeit der drei
Republiken anerkannte und Botschaften in den drei Hauptstädten errichtete. In
den kulturellen Beziehungen zu Georgien und Aserbaidschan konnte Deutsch-
land an eine jahrhundertealte deutsche Siedlungstradition anknüpfen. Die An-
sätze deutscher und europäischer Unterstützungsleistungen, zunächst als huma-
nitäre Nothilfe in den Flüchtlingslagern, dann zunehmend als Hilfe zur
Selbsthilfe bei der Verbesserung von Rechtssicherheit und -staatlichkeit, bei
den Wirtschaftsreformen, im Bereich Infrastruktur und Versorgungssicherheit
sowie zur Stärkung der Zivilgesellschaft sind zu begrüßen und haben teilweise
schon zu ersten Erfolgen geführt: Die Pressezensur wurde sukzessive gelockert,
die politische Opposition organisiert sich in Parteien und Fraktionen, in Ansät-
zen entsteht geordnete gesellschaftliche Interessenwahrnehmung.

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Insgesamt jedoch bewegt sich das entwicklungspolitische Engagement der
Bundesregierung, insbesondere im Vergleich zu den klassischen Zielländern
deutscher Entwicklungshilfe, in einem bescheidenem Rahmen. Die in der
Region besonders benötigte Beratungshilfe bleibt weit hinter dem Bedarf
zurück.

Noch deutlicher ist die außenpolitische Zurückhaltung, die die Bundesregie-
rung sich in dieser Region auferlegt hat. Am ehesten bildet hier noch die konti-
nuierliche Begleitung der Vermittlungen im Abchasienkonflikt unter dem Dach
der Vereinten Nationen eine Ausnahme. Im Konflikt um Nagorny-Karabach
vermitteln seit vier Jahren maßgeblich Russland, Frankreich und die USA.

Vor diesem Hintergrund fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung
auf:

1. die strategische Bedeutung der Region, sowohl für die Stabilität in Europa
als auch mit Blick auf die langfristige Versorgung Deutschlands mit fossilen
Energieträgern, anzuerkennen und ihr dortiges außenpolitisches und ent-
wicklungspolitsches Engagment deutlich zu erhöhen;

2. ihre Kaukasus-Politik eng mit den europäischen Partnern abzustimmen und
die Vermittlungsbemühungen und Friedensmissionen unter dem Dach von
OSZE und Vereinten Nationen, die in den letzten Jahren wesentlich zur Ver-
hinderung erneuter gewaltsamer Eskalationen beigetragen haben, voll zu un-
terstützen. Dabei sollte die Bundesregierung der europäischen und interna-
tionalen Stabilisierungspolitik durch eigene Vorstellungen und Konzepte
Impulse geben und sie kontinuierlich mitgestalten;

3. ihre Politik darauf auszurichten, den Ost-West-Korridor durch Georgien und
Aserbaidschan auch mit Blick auf die langfristige europäische Versorgungs-
sicherheit mit Erdöl und Erdgas offen zu halten. Bei allem Respekt vor den
legitimen Interessen anderer regional engagierter Mächte sollte sich die
Bundesregierung, gemeinsam mit den Verbündeten, Tendenzen exklusiver
Interessenwahrnehmung oder externer Bevormundung in der Region ent-
gegenstellen;

4. politisch dazu beizutragen, schrittweise die regionale Blockbildung zu über-
winden, den Kaukasus nachhaltig zu stabilisieren und in seiner Gesamtheit
in die europäische Staatenfamilie einzubinden;

5. sich zur dauerhaften Überwindung der regionalen Konflikte für die Schaf-
fung eines gemeinsamen kaukasischen Wirtschaftsraums und einer engen
politischen Koordinierung zwischen den drei Hauptstädten einsetzen. Dabei
wird jeder integrative Schritt auch die Resistenz der drei Republiken gegen-
über externen Begehrlichkeiten erhöhen;

6. in Abstimmung mit den EU-Partnern aktiv den Dialog mit den wichtigsten
in der Region engagierten Staaten zu suchen: Neben den USA als engstem
außereuropäischen Partner sollte die Bundesregierung vor allem das Ge-
spräch mit Moskau, Ankara und Teheran führen;

7. insbesondere im Dialog mit Moskau die volle Souveränität der drei Kauka-
sus-Republiken herauszustellen, die gegenüber Georgien verhängte Visums-
pflicht kritisch aufzugreifen sowie die Forderung Georgiens nach vollständi-
gem Abzug der russischen Streitkräfte auf der Grundlage des 1999
adaptierten KSE-Vertrags, der die Stationierung von der Zustimmung des
aufnehmenden Staates abhängig macht, zu unterstützen. In unseren Bezie-
hungen zu Russland sollte es gelingen, jene Kräfte zu stärken, die die Chan-
cen eines stabilen und prosperierenden Kaukasus erkannt haben und für
einen fairen Wettbewerb bei der Erschließung der kaspischen Ressourcen
eintreten;

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8. im Dialog mit Ankara auf die Beendigung der Blockade Armeniens hinzu-
wirken und dabei deutlich zu machen, dass diese Blockade vor allem die
Abhängigkeit Armeniens von Russland erhöht, dem Iran eine strategische
Schlüsselstellung verschafft und die Blockbildung im Kaukasus begünstigt
hat;

9. sich in der Frage des Pipelineverlaufs für kaspisches Erdöl für eine Diversi-
fizierung der Exportoptionen einzusetzen, um einseitige Abhängigkeiten
von einzelnen Transitländern zu vermeiden. Umgekehrt sollte die Bundes-
regierung die beiden südkaukasischen Importländer fossiler Energieträger,
Armenien und Georgien, darin unterstützen, sich auf mehrere Bezugsquel-
len zu stützen;

10. zur Steigerung der deutschen Handlungsfähigkeit in der Region einen Be-
auftragten für den Kaukasus bzw. die Kaspische Region einzusetzen. Der
Beauftragte sollte im ständigen Dialog mit den Verantwortlichen in den
drei Republiken, bei den genannten externen Mächten, den EU-Gremien
sowie bei den internationalen Organisationen – insbesondere der OSZE
und den Vereinten Nationen – die ressortübergreifende regionale Sachkom-
petenz innerhalb der Bundesregierung verbessern und zur Stärkung unseres
Engagements bei der friedlichen Beilegung der ethnischen Konflikte sowie
der nachhaltigen Stabilisierung der Region beitragen;

11. die regionale Fachkompetenz deutscher wissenschaftlicher und politikbe-
ratender Institutionen auszubauen. Dabei sollten auch Verbindungen und
Partnerschaften mit den örtlichen politikberatenden Einrichtungen institu-
tionalisiert werden;

12. in der entwicklungspolitischen Konzentrationsplanung die Einstufung
Aserbaidschans und Armeniens an die Georgiens anzupassen, so dass alle
drei Länder der Region künftig als „Schwerpunktpartnerländer“ gelten.
Nur so lässt sich auch ein glaubwürdiger einheitlicher regionaler Ansatz in
der Entwicklungspolitik verwirklichen;

13. für die entwicklungspolitische Zusammenarbeit die Finanzmittel substanzi-
ell anzuheben, u. a. durch Öffnung des bereits weltweit eingesetzten Haus-
haltstitels für „Bilaterale Technische Zusammenarbeit mit Entwicklungs-
ländern“ für diese Länder;

14. der von dieser Staatengruppe dringend benötigten Technischen Zusammen-
arbeit im weiteren Sinne mehr Raum einzuräumen und vor allem den poli-
tischen Stiftungen und deren Demokratie und Marktwirtschaft förderndem
Wirken in diesen Ländern größere Betätigungsfelder als bisher, insbeson-
dere durch eine merkliche Erhöhung der hierfür verfügbaren Finanzmittel,
zu erschließen;

15. in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit, insbesondere bei der
Rechts- und Wirtschaftsreform sowie bei der dringend gebotenen Moderni-
sierung und Verschlankung des Staatsapparats, mehr als bisher hochqualifi-
zierte Berater an zentrale Schaltstellen des Staates zu entsenden. Dabei ist
sicherzustellen, dass die Berater sowohl über einen starken Rückhalt bei
der entsendenden Behörde in Deutschland als auch über einen unmittel-
baren Zugang zu den Entscheidungsträgern im Gastland verfügen;

16. gemeinsam mit den europäischen Partnern den Einfluss und die Möglich-
keiten, die die Europäer als wichtige Entwicklungsgeber in der Region
haben, gezielt für die Überwindung dortiger ordnungspolitisch bemäntelter
Willkür, Korruption und Verletzung der Menschenrechte geltend zu ma-
chen und damit auch die Arbeit von Europarat und OSZE zu unterstützen;

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/5961

17. dem Wunsch der drei Republiken nach einer engen Anbindung an die
Europäische Union schrittweise entgegenzukommen, etwa in Form von
Assoziierungen oder durch die Schaffung eines eng mit dem EU-Binnen-
markt verbundenen gesamteuropäischen Wirtschaftsraumes. Dabei sollten
Kooperationsfortschritte unter den drei Ländern – auch im Rahmen des von
der EU initiierten Transportkorridors TRACECA – stets zur Bedingung für
eine substanzielle Heranführung an die EU gemacht werden.

Berlin, den 8. Mai 2001

Volker Rühe
Karl Lamers
Klaus-Jürgen Hedrich
Christian Schmidt (Fürth)
Hermann Gröhe
Ruprecht Polenz
Hans-Peter Repnik
Dr. Andreas Schockenhoff
Reinhard Freiherr von Schorlemer
Peter Weiß (Emmendingen)
Friedrich Merz, Michael Glos und Fraktion

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