BT-Drucksache 14/5611

"Inländische Fluchtalternativen" für Kurdinnen und Kurden im Irak

Vom 15. März 2001


Deutscher Bundestag

Drucksache

14/

5611

14. Wahlperiode

15. 03. 2001

Kleine Anfrage

der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS

„Inländische Fluchtalternative“ für Kurdinnen und Kurden im Irak

In der Rechtsprechung zum Asylrecht ist das Institut der „inländischen
Fluchtalternative“ entwickelt worden, wonach der Anspruch auf Schutzgewäh-
rung nach Artikel 16a Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ausgeschlossen sein
kann, wenn der Asylbewerberin oder dem Asylbewerber innerhalb des Her-
kunftsstaates eine Fluchtalternative zur Verfügung steht. Der oder dem Asylsu-
chenden kann in einem solchen Fall unter bestimmten Umständen zugemutet
werden, in die verfolgungsfreien T eile des Herkunftsstaates zurückzukehren.
Dies gilt allerdings nur dann, wenn die Rückkehr die oder den Asylsuchenden
nicht erneut der Gefahr asylrelevanter V erfolgung aussetzt, intakte V erkehrs-
verbindungen bestehen, das verfolgungsfreie Gebiet auch tatsächlich erreicht
werden kann und ein Überleben dort möglich ist. Nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichtes (BVerwG) sind die Grundsätze der „inländischen
Fluchtalternative“ auch dann anwendbar , wenn der Verfolgerstaat in einer Re-
gion seine Gebietsgewalt vorüber gehend faktisch verloren hat (Urteil vom
8. Dezember 1998, AuAS 1999, 166).

Dies hat das BVerwG für die autonomen kurdischen Provinzen im Norden des
Irak bejaht. Der Irak habe in diesen Gebieten faktisch seine Gebietsgewalt – zu-
mindest vorübergehend – verloren und könne dort keine politische V erfolgung
ausüben. Unter Berufung auf diese Rechtsprechung werden immer wieder
Asylanträge von Kurdinnen und Kurden aus dem Irak abgelehnt und die Be-
troffenen unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise aufgefordert.

Das BV erwG hat allerdings zumindest angedeutet, dass die tatsächlichen
Grundlagen für die Einstufung des Nordirak als inländische Fluchtalternative
für Kurdinnen und Kurden sich sehr schnell ändern können. Dementsprechend
heißt es in einem Urteil vom 18. November 1999 (InfAuslR 2000, 122), der
Nordirak komme als inländische Fluchtalternative nur dann in Betracht, „wenn
der Kläger dort nach der tatrichterlichen Prognose auf absehbare Zeit vor ei-
nem Verfolgungszugriff durch den irakischen Staat – und auch vor Anschlägen
seiner Agenten (...) – hinreichend sicher ist.“

Da der Irak im Jahre 2000 nach Angaben des Bundesministeriums des Innern
an der Spitze der Hauptherkunftsländer von Asylsuchenden stand (mit 1 1 601
Antragstellern, d. h. einer Zunahme gegenüber 1999 um 33,9 Prozent), kommt
vor diesem Hinter grund den Informationen über die tatsächlichen aktuellen
Verhältnisse in Südkurdistan/Nordirak eine besonders große Bedeutung zu.

Die Abgeordnete Ulla Jelpke war Ende Januar 2001 mit einer Menschenrechts-
delegation in Südkurdistan (Nordirak) und konnte die Lage dort selbst in Au-
genschein nehmen.
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– 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Vor diesem Hintergrund fragen wir die Bundesregierung:

1. Wie viele Asylsuchende aus dem Irak sind in den Jahren 1998, 1999 und
2000

a) als Asylberechtigte nach Artikel 16a Abs. 1 GG anerkannt worden,

b) als politisch Verfolgte im Sinne des § 51 Abs. 1 des Ausländer gesetzes
(AuslG) anerkannt worden,

c) deshalb nicht als Asylberechtigte nach Artikel 16a Abs. 1 GG anerkannt
worden, weil ihrer Anerkennung die Einreise über einen „sicheren Dritt-
staat“ entgegenstand (bitte jeweils getrennt nach Jahren aufführen)?

2. Wie viele Asylsuchende aus dem Irak sind in den Jahren 1998, 1999 und
2000 deshalb weder als Asylberechtigte nach Artikel 16a Abs. 1 GG noch
als politisch Verfolgte nach § 51 Abs. 1 AuslG anerkannt worden, weil ihrer
Anerkennung die Annahme entgegenstand, sie verfügten in Südkurdistan/
Nordirak über eine „inländische Fluchtalternative“ (bitte jeweils getrennt
nach Jahren aufführen)?

3. a) In wie vielen Fällen hat das Bundesamt für die Anerkennung ausländi-
scher Flüchtlinge in den Jahren 1998, 1999 und 2000 Widerrufsverfahren
nach § 73 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) eingeleitet?

b) In wie vielen Fällen sind diese V erfahren mit welchem Er gebnis ab-
geschlossen (bitte jeweils getrennt nach Jahren aufführen)?

4. Da die deutsche Botschaft in Bagdad seit 1991 nicht besetzt ist:

a) Welche Informationsquellen zieht das Auswärtige Amt bei der Abfas-
sung seiner Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in
der Republik Irak (im Folgenden: Lagebericht Irak) heran?

b) Wie oft unternimmt der hauptamtliche Irak-Beobachter bei der deutschen
Botschaft in Amman Dienstreisen in den Irak?

Welche Gebiete besucht er dabei?

Welche Fragestellungen werden bei diesen Dienstreisen untersucht?

Zu welchen Stellen, Or ganisationen und Personen nimmt er dabei Kon-
takt auf?

c) Auf welche Weise verfolgt die deutsche Botschaft in Ankara die Lage in
Südkurdistan?

Welche konkreten Erkenntnisse hat die Botschaft über die Lage in diesem
Gebiet?

d) Welche Kontakte werden zu V ertretern der Kurdenor ganisationen der
Kurdisch Demokratischen Partei (KDP) und der Patriotischen Union
Kurdistans (PUK) unterhalten?

Welche deutsche Stelle unterhält diese Kontakte?

Zu welchen Vertretern (Namen, Funktion) unterhalten sie Kontakte?

In welcher Form und wie oft werden die Kontakte gepf egt?

Welche Informationen werden bei diesen Kontakten ausgetauscht?

e) Inwieweit werden die von Pro Asyl herausgegebenen Stellungnahmen
des Vereins WADI e.V. zu früheren Lageberichten Irak des Auswärtigen
Amts bei der Abfassung neuer Lageberichte berücksichtigt?

Inwieweit werden Pro Asyl oder WADI e.V. dabei beteiligt?

Welche Konsequenzen hat das Auswärtige Amt aus der von Pro Asyl und
WADI e.V. geübten massiven Kritik an früheren Lageberichten Irak ge-
zogen?
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5. a) Wie beurteilt die Bundesregierung die vom UN-Sonderberichterstatter
für den Irak sowie von Human Rights W atch erhobene und of fenbar
vom Außenministerium der V ereinigten Staaten von Nordamerika ge-
teilte Auffassung (s. dessen Menschenrechtsbericht 2000, Kapitel Irak,
Abschnitt 1a), die 1988 in der „Anfal-Kampagne“ von irakischen
Sicherheitskräften an den Kurden verübten massiven Menschenrechts-
verletzungen erfüllten den T atbestand des Völkermords im Sinne der
Konvention von 1948?

b) Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung hieraus?

c) Ist die Bundesregierung bereit, die Initiative von Human Rights W atch
und anderen Or ganisationen zu unterstützen, die irakische Staatsfüh-
rung wegen Völkermords vor dem Internationalen Gerichtshof zu ver-
klagen?

Wenn ja: In welcher Form unterstützt die Bundesregierung diese Be-
strebungen?

Wenn nein: Warum nicht?

6. a) Was ist der Bundesregierung über das Schicksal der während der
„Anfal-Kampagne“ „verschwundenen“ Menschen bekannt?

b) Hat die Bundesregierung hierzu Nachforschungen angestellt?

Wenn nein: Warum nicht?

7. Wie beurteilt die Bundesregierung die Sicherheit für Menschen in Süd-
kurdistan/Nordirak vor dem Hinter grund, dass es dort auch im Jahre 2000
zu politisch motivierten Morden und terroristischen Aktionen gekommen
sein soll (das US-Außenministerium nennt im bereits genannten Bericht
unter anderem die Ermordung des Führers der Demokratischen Nationalis-
tischen Union Kurdistans den Mord am Parlamentsabgeordneten O. H. so-
wie die Tötungen durch die PUK an Mitgliedern der Kommunistischen
Partei und durch die KDP an Mitgliedern der T urkomanischen Front
[ITF])?

8. Wie beurteilt die Bundesregierung die Ansicht, PUK und KDP seien in ih-
ren jeweiligen Herrschaftsbereichen als „staatsähnliche Or ganisationen“
anzusehen?

Wenn die Auffassung abgelehnt wird: Warum?

9. a) Wie beurteilt die Bundesregierung V orwürfe gegen PUK und KDP , sie
hielten politische Gefangene inhaftiert?

b) Welche Informationen hat die Bundesregierung über solche Fälle?

c) Wie viele politische Gefangene sind nach Kenntnis der Bundesregie-
rung gegenwärtig im Gewahrsam

aa) der PUK,

bb) der KDP,

cc) anderer Organisationen?

10. Welche Informationen hat die Bundesregierung über gewaltsame Ausein-
andersetzungen im Jahre 2000

a) zwischen KDP und ITF,

b) zwischen PUK und der Irakischen Kommunistischen Arbeiterpartei
(ICWP),

c) zwischen PUK und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK),

d) zwischen KDP und PKK?
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– 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

11. a) Welche Informationen hat die Bundesregierung über das Ausmaß von
Einmärschen türkischen Militärs in Südkurdistan/Nordirak?

b) Wie viele Opfer unter der Zivilbevölkerung haben diese Aktionen ge-
kostet?

c) Wie beurteilt die Bundesregierung die völkerrechtliche Grundlage
dieser Einmärsche?

12. Welche Informationen hat die Bundesregierung über die „V erminung“
Südkurdistans/Nordiraks?

Wie viele Landminen befinden sich nach Kenntnis der Bundesregierung i
diesem Gebiet?

Wie viele Opfer haben diese Landminen bisher unter der Zivilbevölkerung
gefordert?

13. Wie beurteilt die Bundesregierung vor dem Hinter grund der in den
Fragen 9 bis 12 genannten Umstände die Sicherheitslage in Südkurdistan/
Nordirak

a) für die Zivilbevölkerung,

b) für dorthin vertriebene Flüchtlinge,

c) für dorthin aus Europa oder anderen Regionen abgeschobene Personen,

d) für ausländisches Personal von Hilfsorganisationen?

14. Welche Bestandteile der zwischen PUK und KDP im September 1998 und
Oktober 1999 geschlossenen Vereinbarungen sind nach Kenntnis der Bun-
desregierung inzwischen umgesetzt?

a) In welchem Ausmaß hat es einen Gefangenenaustausch gegeben?

b) In welchem Ausmaß ist die Rückkehr der im Inland Vertriebenen

(inter-
nally displaced persons)

in ihre Heimatorte und Häuser ermöglicht wor-
den?

c) In welchem Umfang ist inzwischen die Bewegungsfreiheit zwischen
den von den beiden Or ganisationen jeweils beherrschten T eilgebieten
hergestellt?

15. Ist der Bundesregierung bekannt, dass es auch heute noch Fälle gibt, in
denen Menschen aus den übrigen Landesteilen des Irak durch die irakische
Armee oder andere Sicherheitskräfte in die UN-Schutzzone in Südkurdis-
tan/Nordirak deportiert werden, nachdem sie in einem Bescheid die Auf-
forderung erhalten haben, binnen eines sehr kurzen Zeitraumes ihre Hab-
seligkeiten zusammenzupacken, ihnen ihr letztes Geld und auch die
Lebensmittelkarten abgenommen werden und sie deshalb häuf g eine Zeit-
lang ohne Lebensmittelbezugscheine überleben müssen, bis ihre Identität
festgestellt worden ist?

16. a) Wie viele Flüchtlinge aus den übrigen T eilen des Irak halten sich nach
Kenntnis der Bundesregierung in Südkurdistan/Nordirak auf?

b) Wer ist für ihre Unterbringung und Versorgung verantwortlich?

c) Wo werden die Flüchtlinge und V ertriebenen unter gebracht und ver -
sorgt?

d) Wie ist es nach Kenntnis der Bundesregierung um die

aa) Unterbringung,

bb) medizinische Versorgung,

cc) Versorgung mit Lebensmitteln,

dd) Versorgung mit Kleidung, Hausrat und Heizmaterial,
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ee) Bildungsmöglichkeiten,

ff) Arbeitsmöglichkeiten,

dieser Flüchtlinge bestellt?

17. Wie beurteilt die Bundesregierung die Lage von Frauen in Südkurdistan/
Nordirak?

18. Welche Hilfsorganisationen sind nach Kenntnis der Bundesregierung mit
welchen Aktivitäten in Südkurdistan/Nordirak tätig?

19. In welcher Weise und mit welchen finanziellen Hilfen wird der Aufbau de
Region Südkurdistan/Nordirak durch Entwicklungshilfeleistungen der
Bundesrepublik Deutschland unterstützt?

Welche Projekte werden dabei genau gefördert (bitte jeweils die Förder -
summen in DM/Euro angeben)?

20. Wie beurteilt die Bundesregierung vor dem Hinter grund der obigen Ant-
worten die „inländische Fluchtalternative“ für Kurdinnen und Kurden in
Südkurdistan/Nordirak?

Berlin, den 15. März 2001

Ulla Jelpke
Roland Claus und Fraktion

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