BT-Drucksache 14/5448

zu der Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU -14/3872, 14/5232- Erweiterung der Europäischen Union

Vom 6. März 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/5448
14. Wahlperiode 06. 03. 2001

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Martina Krogmann, Klaus Hofbauer, Michael
Stübgen, Peter Altmaier, Renate Blank, Friedrich Bohl, Dr. Ralf Brauksiepe,
Thomas Dörflinger, Anke Eymer (Lübeck), Dr. Reinhard Göhner, Hermann Gröhe,
Horst Günther (Duisburg), Ursula Heinen, Hans Jochen Henke, Bartholomäus
Kalb, Hartmut Koschyk, Dr. Hermann Kues, Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg),
Dr. Norbert Lammert, Dr. Paul Laufs, Erich Maaß (Wilhelmshaven), Dr. Gerd Müller,
Dr. Friedbert Pflüger, Christa Reichard (Dresden), Hans-Peter Repnik, Hannelore
Rönsch (Wiesbaden), Volker Rühe, Anita Schäfer, Christian Schmidt (Fürth),
Dr. Andreas Schockenhoff, Wolfgang Schulhoff, Johannes Singhammer, Dorothea
Störr-Ritter, Thomas Strobl (Heilbronn), Arnold Vaatz, Annette Widmann-Mauz
und der Fraktion der CDU/CSU

zu der Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU
– Drucksachen 14/3872, 14/5232 –

Erweiterung der Europäischen Union

Der Bundestag wolle beschließen:

Die Verhandlungen über den Beitritt zur Europäischen Union sind mit den
meisten Kandidatenländern in eine entscheidende Phase eingetreten. Die zen-
tralen Probleme liegen auf dem Verhandlungstisch. Das Strategiepapier der
Kommission zur Erweiterung vom November 2000 hat mit der Wegskizze Ziel
und Tempo der weiteren Verhandlungen klar und realistisch vorgegeben. Es ist
jetzt an der Zeit, die öffentliche Debatte über die anstehenden Entscheidungen
wesentlich zu verbreitern und zu vertiefen.

Der Deutsche Bundestag ist von der politischen, wirtschaftlichen und histori-
schen Notwendigkeit und den Chancen der Erweiterung der Europäischen
Union für Deutschland und Europa fest überzeugt. Der Beitritt der mittel- und
osteuropäischen Reformländer zur Union überwindet die erzwungene Teilung
Europas. Er trägt entscheidend zur Lösung der mit der Grenzöffnung nach 1989
verbundenen Probleme bei. Die Erweiterung ist eine der stärksten Antworten
der Union auf die Globalisierung.

Die Erweiterung wird sowohl den Mitgliedsländern als auch den Beitrittslän-
dern mehr Wohlstand und Stabilität bringen. Die Beitrittsperspektive trägt er-
heblich zur Modernisierung der Wirtschaft der Beitrittsländer bei und eröffnet
den Volkswirtschaften der bisherigen Mitgliedsländer zusätzliche Wachstums-
chancen. Deutschland liegt so nahe an den dynamischen Wachstumsmärkten

Drucksache 14/5448 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Mittel- und Osteuropas und an den neuen Produktions- und Investitionstandor-
ten wie keine andere Industrienation. Deshalb wird besonders Deutschland von
der Erweiterung profitieren. Die Erweiterung sichert und schafft Arbeitsplätze
bei uns und erhöht unsere globale Wettbewerbsfähigkeit. Schon jetzt übersteigt
unser Handelsvolumen mit den mittel- und osteuropäischen Staaten das mit den
USA.

Gleichwohl bringt die Erweiterung große Herausforderungen für die beteiligten
Staaten und für die einzelnen Bürger mit sich. Diese Herausforderungen erge-
ben sich aus den noch beträchtlichen Unterschieden in Wirtschaftskraft, Lohn-
niveau sowie Sozial- und Umweltstandards zwischen heutiger EU und den Bei-
trittsländern. Die Beitrittsverhandlungen müssen daher mit größter Sorgfalt
geführt werden. Sowohl die EU als auch ihre jetzigen sowie die künftigen Mit-
gliedsländer sind gemeinsam dafür verantwortlich, dass die Erweiterung am
Ende nicht an Einzelfragen scheitert, seien sie auch noch so wichtig. Kompro-
missbereitschaft ist auf allen Seiten notwendig.

Die Erweiterung muss zügig vorangebracht, zugleich aber auch politisch und
ökonomisch mit großer Sorgfalt und Umsicht vorbereitet werden. Nur so kann
man die Bevölkerung überzeugen und noch vorhandenen Sorgen vor mögli-
chen Risiken und negativen Folgen einer überhasteten Erweiterung begegnen.
Vor diesem Hintergrund sind auch die Ergebnisse des Berliner EU-Gipfels zur
Agenda 2000 nachzubessern, da sie weder den Herausforderungen des gemein-
samen Agrarmarktes noch den Notwendigkeiten der Osterweiterung gerecht
werden. Die Bundesregierung hat bisher kein schlüssiges Konzept zur Lösung
dieses von ihr selbst auf dem Berliner Gipfel mitgeschaffenen Problems vorge-
legt.

Um das Ziel zu erreichen, Ende 2002 die Verhandlungen mit den Ländern ab-
zuschließen, die zu diesem Zeitpunkt die politischen, wirtschaftlichen und
rechtlichen Kriterien für eine Mitgliedschaft erfüllen, und damit diese Länder
sich bereits an den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2004 beteili-
gen können, fordert der Bundestag die Bundesregierung auf, sich aktiv für eine
Intensivierung der Beitrittsverhandlungen einzusetzen. Der Bundestag fordert
die Bundesregierung auf, dabei folgende Positionen zu berücksichtigen:

1. Die EU darf substanzielle Verhandlungen über die schwierigsten Fragen
nicht bis an das Ende dieser Verhandlungen aufschieben. Sie muss ihre Posi-
tionen in den Fragen der Landwirtschaft und der Regionalpolitik noch in
diesem Halbjahr präzisieren. Der Rat sollte sich erheblich umfangreicher als
bislang auf Ministerebene mit zentralen Problemen der einzelnen Kapitel
befassen und so stärker politische Verantwortung übernehmen. Die Fach-
ministerräte sind besser einzubeziehen. Auf Stellvertreterebene sind in die-
sem Halbjahr deutlich mehr als die lediglich geplanten zwei Verhandlungs-
runden anzusetzen.

2. Die sehr unterschiedlichen Verhältnisse in den bisherigen und in den künfti-
gen Unionsländern machen mit jedem Beitrittsland einzeln vereinbarte, dif-
ferenzierte und flexible Übergangsregelungen in bestimmten Bereichen not-
wendig. Sie müssen aber die Ausnahme bleiben, zeitlich und inhaltlich
begrenzt sein und dürfen den Wettbewerb nicht wesentlich beeinträchtigen.
Eine Verkürzung von Übergangsfristen muss möglich bleiben, wenn die An-
näherung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung an die gegenwärti-
gen Unionsländer dieses erlaubt.

3. Mit der Zuwanderung von Arbeitskräften sind bei uns vielfach die größten
Sorgen im Hinblick auf die Erweiterung verbunden. Der Beitritt ihrer Län-
der zur Union gibt den Menschen eine gute Perspektive für das eigene Leben
zu Hause und verringert nachhaltig den Migrationsdruck und insbesondere
die illegale Zuwanderung. Je glaubwürdiger ein zügiger Beitritt wird, desto

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/5448

besser werden auch Investitionsklima und Wachstumschancen und desto
kleiner wird der Anreiz zur Migration. Andererseits darf es aufgrund der
unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse nicht zu einer
weiteren Verschärfung der ohnehin angespannten Arbeitsmarktsituation,
insbesondere in den strukturschwachen und in den grenznahen Regionen
durch Zuwanderung kommen. Zugleich verändert die demografische Ent-
wicklung bei uns schon in wenigen Jahren nach dem Beitritt unsere eigene
wirtschaftliche Interessenlage. Schon heute bietet eine begrenzte Zuwande-
rung vielfältige Chancen für zahlreiche Wirtschaftsbranchen. Das Interesse
des deutschen Handwerks an mittel- und osteuropäischen Auszubildenden
ist hierfür ein Zeichen.

Trotz insgesamt überschaubarer Probleme sind Übergangsfristen bei der
Freizügigkeit unvermeidlich. Die Dauer der Übergangsfristen soll davon ab-
hängen, welche Auswirkungen sie auf den Arbeitsmarkt und auf die ver-
schiedenen Wirtschaftssektoren haben. Sie sollten aber länderspezifisch dif-
ferenziert sein und einem jährlichen Überprüfungsmechanismus unterliegen.
Es ist überfällig, dass die Bundesregierung zunächst objektive Kriterien für
die Bemessung von Übergangsfristen und für ihre Flexibilisierung sowie
verlässliche Zahlen zur Entwicklung des deutschen Arbeitsmarktes vorlegt.
Erheblich wirksamer wären zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unserer
Betriebe in einer erweiterten Union allerdings Entlastungen insbesondere
der kleinen und mittelständischen Unternehmen und des Handwerks durch
Senkung der Abgabenlast, Deregulierung und eine Flexibilisierung der Ar-
beitsmärkte.

Der gemeinsame Verkehrsmarkt darf nur schrittweise Zug um Zug mit der
Angleichung an EU-Standards geöffnet werden, um die Gefahr eines Ver-
drängungswettbewerbs aufgrund des starken Lohn- und Sozialkostengefäl-
les auszuschließen. Insbesondere hinsichtlich des Einsatzes ausländischen
Fahrpersonals, der Lenkzeitbestimmungen und der Straßenverkehrsgebüh-
ren sind Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Gleiches gilt für die Bau-
wirtschaft, die um ihr Überleben kämpft.

4. Die hohen Umwelt-, Sozial- und Verbraucherschutzstandards in der Europäi-
schen Union verlangen den Beitrittsländern seit Jahren größte Anstrengun-
gen ab. Vielfach fehlt in diesen Ländern noch das notwendige öffentliche
und private Kapital. Mit dem Beitritt müssen das Recht und die Regeln der
EU in den alten und neuen Unionsländern gleichermaßen strikt eingehalten
werden. Dabei ist allerdings zu beachten, dass eine im Vergleich zu nationa-
len Regelungen in der EU liberalere Regelung in den Beitrittsländern nicht
mit Öko- oder Sozialdumping gleichzusetzen ist. Die Marktöffnung für
landwirtschaftliche Produkte erfordert die Einhaltung der EU-Standards im
Lebensmittelrecht und Gesundheitsschutz.

Angesichts der riesigen Erblast des Kommunismus ist nicht auszuschließen,
dass einzelne, zeitlich und inhaltlich klar begrenzte Übergangsregelungen
für die Beitrittsländer in der Umwelt- und Sozialpolitik unumgänglich sind.
Übergangsfristen im Umweltbereich sind sorgfältig zu differenzieren, bei-
spielsweise zwischen bereits bestehenden und ab jetzt neu zu errichtenden
Anlagen sowie zwischen öffentlicher Versorgung und privaten Investitionen.
Sie müssen von einem detaillierten Umsetzungsplan einschließlich Sank-
tionsinstrumenten begleitet werden und dürfen zusätzliche grenzüberschrei-
tende Umweltbelastungen nicht zulassen. Ein Öko-Dumping muss verhin-
dert werden. Grundsätzlich dürfen Übergangsfristen den Wettbewerb im
Binnenmarkt nicht wesentlich verfälschen und müssen deswegen inhaltlich
und zeitlich sehr eng gefasst werden.

Drucksache 14/5448 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Es ist zu vermeiden, dass die Schwierigkeiten der Beitrittsländer bei der
Umsetzung des umweltrechtlichen Besitzstandes der Union insgesamt die
Bereitschaft zur Weiterentwicklung der europäischen Umweltpolitik schwä-
chen. Anzustreben ist, dass die künftigen Mitgliedsländer bereits vor ihrem
Beitritt zunehmend die sozial- und umweltpolitischen Regelungen der EU
anwenden.

5. Bei vielfältigen Unterschieden im einzelnen stehen alle Grenzregionen an-
gesichts der offenen Grenzen vor besonderen Herausforderungen. Für man-
che heute schon spürbare Probleme ist diese Grenzöffnung und nicht der
bevorstehende EU-Beitritt Polens und Tschechiens ursächlich. Die Erweite-
rung kann hierfür im Gegenteil Teil der Lösung dieser Probleme sein, insbe-
sondere durch eine Angleichung der Wettbewerbsbedingungen und die Be-
freiung aus der hemmenden Randlage. Neue Probleme werden für die
Grenzregionen aber hinzutreten, so beispielsweise das zu erwartende För-
dergefälle zwischen Regionen der Beitrittsländer und Ostbayern, aber auch
Thüringen, Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Deswe-
gen brauchen die Grenzregionen der EU gezielte Hilfen und verbesserte
Rahmenbedingungen. Notwendig ist ein Aktionsplan für die Grenzregionen,
der zwischen Europäischer Kommission, Bundesregierung und den betroffe-
nen Bundesländern eng abgestimmt ist. Besonderer Handlungsbedarf be-
steht bei der Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur, der grenzüberschrei-
tenden Zusammenarbeit von Kommunen, der Förderung der kleinen und
mittleren Unternehmen sowie des Handwerks, bei der Aus- und Fortbildung
sowie der Sprachförderung. Bestehende Grenzgängerregelungen haben sich
bewährt und sind weiterzuentwickeln. In den Grenzregionen sind nach heu-
tigen Erkenntnissen auch bestimmte Übergangsfristen in Hinblick auf die
faktisch unterschiedlichen Sozial- und Umweltstandards für die Dienstleis-
tungsfreiheit erforderlich.

6. Um die Umsetzung sowie die effiziente Anwendung des gemeinschaftlichen
Besitzstandes sicherzustellen, kommt dem Ausbau rechtsstaatlicher und per-
sonell leistungsfähiger Verwaltungen in den Beitrittsländern eine besondere
Bedeutung zu. Dies schließt insbesondere eine effektive Bekämpfung der
Kriminalität und das Vorhandensein funktionierender und effizienter Struk-
turen der grenzüberschreitenden polizeilichen und justiziellen Zusammenar-
beit ein.

7. Die Finanzierung der Erweiterung ist im Unionshaushalt noch nicht ge-
sichert. Die Erweiterung ist in der finanziellen Vorausschau unterfinanziert.
Die Beitragslasten der Unionsländer weisen weiterhin strukturelle Unge-
rechtigkeiten auf. Die für die gemeinsame Agrarpolitik in einer erweiterten
Union zielführende Kofinanzierung der Agrarausgaben ist noch immer nicht
verwirklicht. Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, gegenüber der
Europäischen Kommission auf eine baldige Aktualisierung der Berechnun-
gen für die finanzielle Dimension insbesondere der Agrar- sowie der Regio-
nal- und Strukturpolitik in einer erweiterten Union zu drängen.

8. Der Deutsche Bundestag erwartet, dass die Bundesregierung den Bundestag
gemäß Artikel 23 Grundgesetz in gleicher Weise wie den Bundesrat um-
fassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt über die Entwicklung der EU-
Verhandlungspositionen und den Ablauf der Verhandlungen, insbesondere
über Probleme und bevorstehende Lösungen, unterrichtet und ihm vor der
Festlegung einer Verhandlungsposition zu einem Verhandlungskapitel Gele-
genheit zur Stellungnahme gibt. Die Bestimmungen des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Ange-
legenheiten der Europäischen Union und der Geschäftsordnung des Deut-
schen Bundestags sind auf die Erweiterungsverhandlungen uneingeschränkt
anzuwenden.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/5448

9. In der Öffentlichkeit sind die Chancen der Erweiterung der Union viel zu
wenig bekannt. Notwendig ist eine breit angelegte Kommunikationsstrate-
gie, die die konkreten politischen und wirtschaftlichen Vorteile der Erweite-
rung benennt, die Ängste der Menschen aufgreift und sie von der großen
Chance der Erweiterung überzeugt.

Berlin, den 6. März 2001

Peter Hintze
Dr. Martina Krogmann
Klaus Hofbauer
Michael Stübgen
Peter Altmaier
Renate Blank
Friedrich Bohl
Dr. Ralf Brauksiepe
Thomas Dörflinger
Anke Eymer (Lübeck)
Dr. Reinhard Göhner
Hermann Gröhe
Horst Günther (Duisburg)
Ursula Heinen
Hans Jochen Henke
Bartholomäus Kalb
Hartmut Koschyk
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)
Dr. Norbert Lammert
Dr. Paul Laufs
Erich Maaß (Wilhelmshaven)
Dr. Gerd Müller
Dr. Friedbert Pflüger
Christa Reichard (Dresden)
Hans-Peter Repnik
Hannelore Rönsch (Wiesbaden)
Volker Rühe
Anita Schäfer
Christian Schmidt (Fürth)
Dr. Andreas Schockenhoff
Wolfgang Schulhoff
Johannes Singhammer
Dorothea Störr-Ritter
Thomas Strobl (Heilbronn)
Arnold Vaatz
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