BT-Drucksache 14/5312

Zukunftsorientierte Weiterbildung durch Eigenverantwortung und Selbstorganisation -Ein Paradigmenwechsel-

Vom 13. Februar 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/5312
14. Wahlperiode 13. 02. 2001

Antrag
der Abgeordneten Werner Lensing, Ilse Aigner, Dr. Maria Böhmer, Axel E. Fischer
(Karlruhe-Land), Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen), Norbert Hauser (Bonn), Dr.-Ing.
Rainer Jork, Steffen Kampeter, Erich Maaß (Wilhelmshaven), Dr. Martin Mayer
(Siegertsbrunn), Thomas Rachel, Hans-Peter Repnik, Heinz Schemken, Dr.-Ing.
Joachim Schmidt (Halsbrücke), Dr. Erika Schuchardt, Bärbel Sothmann, Angelika
Volquartz, Heinz Wiese (Ehingen) und der Fraktion der CDU/CSU

Zukunftsorientierte Weiterbildung durch Eigenverantwortung
und Selbstorganisation – Ein Paradigmenwechsel

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Weiterbildung als ganzheitlicher Bildungsprozess

Fortschreitende Globalisierung und europäischer Wettbewerb erfordern grenz-
überschreitende Mobilität sowie neue Arbeitsformen und Berufsbilder; offene
Beschäftigungsverhältnisse und häufiger Berufswechsel sind die Folge. Die
Konsequenzen für Gesellschaft, Wirtschaft und Technik können derzeit noch
nicht in ihrer vollen Tragweite erfasst werden.

Daher bedarf es der Entwicklung von Kompetenzen für ein kontinuierliches,
lebenslanges Lernen. Die Fähigkeiten, Informationen zu verarbeiten und zu
bewerten, sich notwendiges Wissen stets neu anzueignen und veraltete Kennt-
nisse zu selektieren, werden unverzichtbar.

Das in der Schule wieder stärker zu vermittelnde Basiswissen muss die Grund-
lage für ständige Weiterbildung sein. Gleiches gilt für die berufliche Erstausbil-
dung. Beide müssen auf die Notwendigkeit von lebenslangem Lernen vorberei-
ten. Zudem kann durch abgestimmte inhaltliche und formale Verzahnung aller
Bildungsbereiche eine Verkürzung der Erstausbildung einschließlich des Studi-
ums erreicht werden.

Allerdings darf Weiterbildung nicht nur auf die Rolle des Menschen im Ar-
beitsprozess reduziert werden. Sie muss vielmehr die Fertigkeiten und die kog-
nitiven und emotionalen Fähigkeiten auf ganzheitliche Weise ansprechen und
fördern. Dem politischen Konzept des lebenslangen Lernens liegt daher ein
ganzheitliches und personales Bildungsverständnis zugrunde.

Eine verantwortungsbewusste Weiterbildungspolitik darf sich daher nicht nur
auf die Steuerung der beruflichen Fortbildung beschränken. Politische, kultu-
relle und religiöse Bildung, außerschulische Jugendbildung und berufliche Bil-
dung sind notwendige und tragende Elemente des pluralen gesellschaftlichen
Bildungsprozesses. Denn Fragen nach Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität
und nach dem, was die Gesellschaft zusammenhält, sind individuell lebensbe-

Drucksache 14/5312 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

gleitende und zugleich gesellschaftspolitisch zentrale Fragen, die nicht von den
klassischen Bildungseinrichtungen allein beantwortet werden können.

2. Lebenslanges Lernen – Ein Paradigmenwechsel

Vor diesem Hintergrund ist Bildung heute mehr denn je ein Prozess lebenslan-
gen Lernens. Sie muss den Menschen dazu befähigen, sich in einer veränderten
Gesellschaft zurechtzufinden und den Wandel zugleich als Chance zu begrei-
fen. Sie muss die Menschen zudem in die Lage versetzen, sich neuen Einsich-
ten zu öffnen und gesellschaftliche, kulturelle, technische und soziale Verände-
rungen kritisch-produktiv zu verarbeiten.

Wir müssen die Vorstellung überwinden, dass sich weiterbildendes Lernen pri-
mär in der traditionellen institutionalisierten Form auf der Basis anerkannter
Abschlüsse und Qualifikationen unter staatlicher Aufsicht vollzieht. Die Ent-
wicklungen in einer hochkomplexen und global vernetzten Industrie- und
Kommunikationsgesellschaft lassen sich nur begrenzt durch staatliche Vorga-
ben beeinflussen.

Da die Aufgabenteilung zwischen Bildung und Lernen auf der einen und dem
Arbeitsprozess auf der anderen Seite für die Zukunft so nicht mehr haltbar ist,
muss Lernen zukünftig als Teil des Arbeitsprozesses und die Arbeit als Teil des
Lernprozesses verstanden werden.

Während die Vorstellung der Menschen vom „Lernen“ bislang in erster Linie
vom so genannten Formalen Lernen mit der institutionellen Ausgestaltung der
Bildungs- und Ausbildungsangebote geprägt war, gilt es jetzt, sich einer zwei-
ten, zunehmend wichtigen Kategorie von Lerntätigkeit zuzuwenden: dem In-
formellen Lernen. Dieses bietet ein enormes Reservoir an Lerngelegenheiten
und könnte somit eine wichtige Quelle für Innovationen im Bereich der Lehr-
und Lernmethoden sein. Das Informelle Lernen erhält also in Zusammenhang
mit dem lebenslangen Lernen eine zunehmende Bedeutung.

Aus den genannten Gründen wird ein Paradigmenwechsel innerhalb der Lehr-
und Lernkulturen und eine Neuorientierung der Weiterbildung zur Kompetenz-
entwicklung als Reaktion auf die zunehmende Dynamik, Komplexität und
Unvorhersehbarkeit heutiger gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer
Prozesse unumgänglich.

Lernen muss im Sinne des Memorandums der Europäischen Union über Le-
benslanges Lernen vom Oktober 2000 modellhaft über vier „Säulen“ erfolgen:

 Lernen im Prozess der Arbeit,

 Lernen im sozialen Umfeld,

 Lernen im digitalen Netz und

 Lernen über die traditionelle Weiterbildung.

Für die angestrebten tiefgreifenden Veränderungen ist ein langfristiges Umden-
ken erforderlich, des vom Prinzip der Selbstorganisation souveräner Bürgerin-
nen und Bürger ausgeht und auf eine Vielfalt unterschiedlicher Lernformen
ausgerichtet ist.

3. Leitprinzipien zur Neuorientierung der Weiterbildungspolitik

Die Neuorientierung der Weiterbildungspolitik wird wesentlich durch den wirt-
schaftlichen Strukturwandel, durch gesellschaftliche Innovationen und durch
die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien gesteuert. Die-
ser Prozess muss einhergehen mit der Optimierung des selbstorganisierten,
lebensbegleitenden Lernens als wesentliche Voraussetzung zum Ausbau des
Kultur- und Wirtschaftsstandortes Deutschland.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/5312

Die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger, der Unternehmen und
der beteiligten gesellschaftlichen Gruppen gewinnt an Bedeutung. Es kann
nicht Aufgabe des Staates sein, für alle die vielfältigen Lernerfordernisse in
Wirtschaft und Gesellschaft die entsprechenden Angebote zur Verfügung zu
stellen. Wir lehnen daher ein eigenständiges Weiterbildungsgesetz ab, weil da-
durch die erforderliche schnelle Reaktion und die dringend benötigte Ziel-
genauigkeit von Weiterbildungsmaßnahmen nicht gewährleistet werden kann.

Entscheidend ist vielmehr die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für
selbstverantwortetes lebenslanges Lernen in flexiblen und modularisierten Wei-
terbildungsstrukturen. Das Subsidiaritätsprinzip schließt nicht aus, dass der
Staat für bestimmte Zielgruppen und Angebote weiter Verantwortung trägt oder
übernimmt. Es besteht ansonsten die Gefahr, dass sozial Schwache und so ge-
nannte Lernschwache von der Weiterbildung ausgeschlossen bleiben. Als ord-
nungspolitische Grundvorstellung ist jedoch davon auszugehen, dass Eigenver-
antwortung und Selbststeuerung notwendige Säulen für die persönliche
Zukunftsgestaltung sind.

Die Verzahnung von Weiterbildung und Kompetenzentwicklung mit den Verän-
derungsprozessen in Wirtschaft und Gesellschaft bedeutet das Ende einer unab-
hängigen Weiterbildungspolitik. Vielmehr ist ein integrierender Politikansatz
erforderlich, der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Sozial-, Forschungs- und Weiter-
bildungspolitik in einem engen Zusammenhang sieht. Weiterbildung muss zur
Querschnittsaufgabe werden.

Eine so verstandene innovative Weiterbildungspolitik, die den hochgradig ver-
netzten und sich immer weiter differenzierenden Lernbedürfnissen in Wirt-
schaft und Gesellschaft entspricht, sollte sich daher von den Prinzipien

 Eigenverantwortung,
 Selbstorganisation,
 Pluralität und
 Subsidiarität
leiten lassen.

Sie muss durch die Gestaltung von Rahmenbedingungen und durch die Förde-
rung von Forschung und durch die Umsetzung der Forschungsergebnisse zu
einem effektiven Ausbau der Weiterbildungsmöglichkeiten führen.

Hierzu gehören

 die Stärkung des gesellschaftlichen Verständnisses zum kontinuierlichen
Lernen,

 die Entwicklung neuer Kennzahlen und Bewertungssysteme zur Beurteilung
von Lernerfolgen sowie

 die Weiterentwicklung der institutionalisierten Weiterbildung unter fairen
Wettbewerbsbedingungen.

Im Einzelnen bedeutet dies mehr Transparenz im System der Fortbildung und
deren flexiblere Gestaltung. Erworbene Zusatzbefähigungen und im Arbeits-
prozess gewonnene Kompetenzen sind künftig beispielsweise beim Zugang zu
Fortbildungsprüfungen stärker zu berücksichtigen. Hingegen sollte den rein
formalen Zugangsvoraussetzungen zu Gunsten nachgewiesener Kompetenzen
eine geringere Bedeutung zugemessen werden.

4. Die lernende Gesellschaft entwickeln – die Weiterbildung ausbauen

Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf und appelliert
an die Länder, die Kommunen, die Kirchen, die Unternehmen und die Gewerk-
schaften in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich

Drucksache 14/5312 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

a) zur Stärkung des selbstorganisierten Lernens

 Rahmenbedingungen für flexible Angebote von Bildungseinrichtungen
zu schaffen, die auf dem freien Markt nach den Grundsätzen der Sozialen
Marktwirtschaft agieren,

 weiter die modellhafte Entwicklung regionaler Netzwerke zu fördern, die
von öffentlichen Bildungseinrichtungen, freien Trägern, privaten Part-
nern und Unternehmen gemeinsam mit Städten und Gemeinden geknüpft
werden können,

 öffentliche Medio- und Bibliotheken gezielt zu offenen Beratungs- und
Informationszentren sowie zu Stützpunkten und Ateliers für das lebens-
lange Lernen auszubauen,

 darauf hinzuwirken, dass zukünftig allen Absolventinnen und Absolven-
ten mit jedem Abschlusszeugnis einer anerkannten Bildungseinrichtung
ein auf die Region abgestimmtes Weiterbildungshandbuch und ein Bera-
tungsgutschein ausgehändigt wird,

 eine „Stiftung Bildungstest“ für Transparenz, Offenheit, Qualitätssiche-
rung und Verbraucherschutz in der Weiterbildung zu gründen,

 Lernagenturen als Zentren für die Weiterbildungsberatung und die Ver-
mittlung von Kursen, Materialien, Hilfen und Partnern für das lebens-
lange Lernen aufzubauen,

 neben beschäftigungsorientierter Weiterbildung auch neben- und außer-
berufliche Möglichkeiten kultureller Bildung und ehrenamtlichen Enga-
gements anzubieten,

 die Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Weiterbil-
dungseinrichtungen zu fördern,

 beobachtende Forschung bezüglich der Reorganisation der Weiterbil-
dungseinrichtungen in inhaltlicher und didaktischer Hinsicht zu unter-
stützen,

 die Grundlagenforschung zur Kompetenzmessung, Kompetenzanalyse
und Selbstorganisation des Lernens zu stärken, so dass neue Kennzahlen
und Bewertungssysteme zur Beurteilung von Lernerfolgen und zur Iden-
tifizierung von Verwertungszusammenhängen für Betriebe und Indivi-
duen entwickelt werden können,

 darauf hinzuwirken, dass sich Schulen und Hochschulen für die Weiter-
bildung öffnen und selbst Angebote zum lebenslangen Lernen machen
und

 mehr Praxiserfahrung und Personalaustausch beim Einsatz von Lehrkräf-
ten in Schule und Erwachsenenbildung zu ermöglichen;

b) zur Ausdehnung des praxisbezogenen Lernens, zur Professionalisierung des
Erfahrungserwerbs und zur Erreichung von Beschäftigungsfähigkeit

 Rahmenbedingungen für neue arbeitsintegrierte interaktive Lehr- und
Lernformen der Weiterbildung im betrieblichen Ablauf zu schaffen – wie
z. B. Lernen im Team, Projektarbeiten, Nachwuchsförderprogramme
oder der Einsatz von multimedialen Lernsystemen,

 Anerkennungs- und Bewertungsverfahren für in neuen Lernformen er-
worbene berufsrelevante Kompetenzen zu entwickeln, wie zum Beispiel
Problemlösungsfähigkeit, Kommunikations- und Teamfähigkeit,

 die Voraussetzungen zu schaffen, berufliche Kompetenz in der Praxis
ohne formalisierte Ausbildungswege zu entwickeln, z. B. durch einen or-
ganisierten Erfahrungsaustausch zwischen Weiterbildungseinrichtungen
und Unternehmen,

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/5312

 die duale Ausbildung des Führungsnachwuchses zu fördern, so dass die
Ausbildung zukünftiger Führungskräfte – in Anlehnung an die gewerb-
liche Berufsausbildung – sowohl wissenschaftlich als auch verstärkt
praxisorientiert – z. B. in Berufsakademien – erfolgt,

 interdisziplinäre Forschungs- und Entwicklungsprogramme zu fördern,
die den Fragen des beruflichen Lernens, der Kompetenzentwicklung und
der Verwertungszusammenhänge für Betriebe und Individuen gezielt
nachgehen und

 ein System zu schaffen, in dem sich maßgeschneiderte und sich ergän-
zende Weiterbildungsmodule zu Kernkompetenzen zusammensetzen las-
sen und das die Ausbildung international konkurrenzfähiger Qualifikati-
onsprofile ermöglicht;

c) zur Ausweitung des IuK-gestützten Lernens

 die Entwicklung benutzerfreundlicher Angebote der Informations- und
Kommunikationstechnologien für das lebenslange Lernen einschließlich
leicht zu begreifender Lernsoftware zu fördern,

 eine Prüfstelle zur Qualitätssicherung von Software-Programmen einzu-
richten und

 Anreize zu schaffen, um eine konkrete und individuelle Beratung und
Unterstützung bei der Anwendung von IuK-Technologien zu ermög-
lichen – insbesondere auch für ältere Menschen, um diese medienfähig
zu machen;

d) zur Überwindung der drohenden gesellschaftlichen Bildungskluft

 verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, dass Weiterbildung kein Pri-
vileg für Führungskräfte oder junge und hochqualifizierte Beschäftigte
ist,

 die Altersteilzeit (ATZ) auch für teilzeitbeschäftigte Bundesbeamte durch
Änderung des § 72b Abs. 1 BBG einzuführen,

 Modelle für einen gleitenden Übergang für Seniorinnen und Senioren zu
entwickeln, die Arbeit und Ruhestand miteinander verbinden,

 Anreize für Weiterbildungseinrichtungen zu geben, damit diese Angebote
für häusliche Bildung und Information vor allem für ältere Menschen mit
eingeschränkter Mobilität entwickeln,

 familien- und frauenfreundliche Weiterbildungsangebote aufzubauen, die
auch auf den möglichen Wiedereinstieg in den Beruf nach einer Famili-
enzeit vorbereiten helfen,

 Anreize und Möglichkeiten für Arbeitslose zu schaffen, sich am „Lernort
Betrieb“ weiterzubilden und

 ein „Job-Rotation“-Programm für ältere Arbeitnehmer rasch und konse-
quent einzuführen und dessen Effizienz durch wissenschaftliche Evalua-
tion zu überprüfen.

Berlin, den 13. Februar 2001

Friedrich Merz, Michael Glos und Fraktion

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