BT-Drucksache 14/5190

Angriffe auf die politischen Gefangenen in türkischen Gefängissen

Vom 24. Januar 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/5190
14. Wahlperiode 24. 01. 2001

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Carsten Hübner und der Fraktion der PDS

Angriffe auf die politischen Gefangenen in den türkischen Gefängnissen

Nahezu zeitgleich wurden am 19. Dezember 2000 die Gefängnisse Ankara
Zentralgefängnis, Aydin, Bartin, Bayrampasa (Istanbul), Buca (Izmir), Bursa,
Canakkale, Cankiri, Ceyhan (Adana), Elbistan, Ermenek, Gebze, Kirsehir, Ma-
latya, Mugla, Nazilli, Nevsehir, Nigde, Ulucanlar (Ankara), Ümraniye (Istan-
bul) und Usak von türkischen Sicherheitskräften gestürmt. Auch in in anderen
Haftanstalten, in denen Gefangene sich im Hungerstreik und Todesfasten be-
fanden, gingen türkische Sicherheitskräfte an diesem und den folgenden Tagen
gegen die Häftlinge äußerst brutal vor.

Mindestens 32 Häftlinge wurden nach den bisher vorliegenden Angaben bei
diesen Auseinandersetzungen getötet, zahlreiche verletzt. Viele davon schwe-
ben weiterhin in Lebensgefahr. Menschenrechtsorganisationen befürchten noch
viele weitere Tote, da über den Verbleib von zahlreichen Gefangenen derzeit
immer noch nichts bekannt ist.

Dieser Angriff auf die politischen Gefangenen, den türkische Regierungsver-
treter in der Öffentlichkeit als „Operation Rückkehr zum Leben“ bezeichnet ha-
ben, ist damit zum größten Gefängnismassaker in der Geschichte der modernen
Türkei geworden.

Diese Operation zielte darauf ab, das seit Jahren von der türkischen Regie-
rung geplante Vorhaben, die Einführung von Isolationszellen des so genann-
ten ,F-Typs‘, zu realisieren. Die politischen Gefangenen waren aus Protest ge-
gen dieses Vorhaben der Regierung am 20. Oktober 2000 in einen
unbefristeten Hungerstreik getreten. Am 19. November 2000 wurde von ei-
nem Teil der Gefangenen die Ausweitung des Hungerstreiks in ein „Todesfas-
ten“, d. h. inklusive Verweigerung der Aufnahme von Flüssigkeit, erklärt.

Die Gefangenen und ihre Angehörigen berichten, dass die türkischen Sicher-
heitskräfte bei dieser „Operation“ gezielt auch Gasbomben in die Zellen ge-
worfen und Häftlinge verbrannt hätten. Einige starben an den Verbrennungen,
andere erlitten Verbrennungen zweiten und dritten Grades und schweben teil-
weise in Lebensgefahr.

Derzeit gibt es kaum Informationen über den Zustand der in die F-Typ-Gefäng-
nisse zwangsverlegten politischen Gefangenen. Den Angehörigen und Anwäl-
ten wird in der Regel der Besuch von politischen Gefangenen verweigert. An-
gehörige, denen es doch möglich war, eine Besuchserlaubnis zu erhalten,
berichteten über katastrophale Zustände in den F-Typ-Gefängnissen und von
schweren Folterungen der Gefangenen. Die Angehörigen selbst seien schika-
niert und geschlagen worden.

Drucksache 14/5190 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Anwälte der „Organisation der Zeitgenössischen Juristen“ legten offiziell Be-
schwerde gegen die Verantwortlichen der Operation wegen „Mord, versuchten
Mord, Folter und Misshandlung, Gewaltanwendung und Missbrauch der
Pflicht“ ein. In ihrer Beschwerde beschrieben sie den Zustand der Häftlinge:
„Die Häftlinge, die nach der Operation in die F-Typ-Gefängnisse gebracht
wurden, waren mehrheitlich nackt, nass und ohne Schuhe. Schwerverletzte
Häftlinge wurden geschlagen, ihre Hoden wurden gequetscht, ihnen wurden
sehr enge Handfesseln angelegt. Auf einige Häftlinge wurde uriniert, sie wur-
den nackt gelassen und gezwungen, die Stiefel der Soldaten zu küssen. Weib-
liche Häftlinge waren sexuellen Angriffen ausgesetzt.“ (IMK-Wochendienst,
Nr. 92-93).

Mehmet Bekaroglu, Mitglied der Menschenrechtskommission des türkischen
Parlaments, veröffentlichte einen Bericht über das Sincan-F-Typ-Gefängnis
und das Numune-Krankenhaus. Dieser Bericht enthält detaillierte Informatio-
nen über die Vorfälle während der Zwangsverlegung sowie über die Situation
der Häftlinge. Der türkische Justizminister Hikmet Sami Türk hat sich gewei-
gert, die Mitglieder der Kommission zu treffen.

Mehmet Bekaroglu berichtet: „Nahezu alle Häftlinge, mit denen wir exempla-
risch sprachen, zeigten Spuren von Schlägen, Platzwunden und Verbrennungen
an ihren Köpfen. Viele hatten gebrochene Arme, Rippen, erblindete Augen und
Wunden an verschiedenen Körperteilen. Wir sahen Menschen, die nicht mehr
gehen konnten. Die Häftlinge sagten, dass ihre Wunden von der Operation, der
Zwangsverlegung und dem Eintritt in das neue Gefängnis stammten. Sie sag-
ten, dass sie durch ihre Anwälte Klage erheben werden. In diesem Kontext
scheint es problematisch zu sein, dass keine medizinischen Berichte vorhanden
sind. Die Häftlinge klagten, geschlagen worden zu sein, als die Wächter sie mit
Gewalt in eine andere Etage brachten. Sie seien außerdem beschimpft worden,
nackt ausgezogen und ein Wächter hätte mit Handschuhen sogar in ihren After
geschaut.“ (IMK-Wochendienst, Nr. 92-93).

Die Gefangenen setzen in den F-Typ-Gefängnissen und in den Krankenhäusern
ihren Hungerstreik fort. Mehr als 1 000 Gefangene befinden sich im Hunger-
streik und weitere 300 Gefangene im Todesfasten.

Zahlreiche Personen, die gegen das Massaker in den Gefängnissen protestiert
haben, sind festgenommen und gefoltert worden.

Zur Zielscheibe von staatlichen Angriffen wurde auch der türkische Menschen-
rechtsverein (IHD). So wurde die IHD-Zweigstelle in Antep am 7. Dezember
2000, die in Van am 19. Dezember 2000, die in Konya am 22. Dezember 2000
und die in Izmir nach einer Kontrolle am 20. Dezember 2000 geschlossen.

Auch die Zweigstelle des IHD in Bursa wurde nach einer Razzia von Sicher-
heitskräften am 8. Januar 2001 geschlossen.

Die Repression beschränkte sich nicht nur auf die Schließungen, die Zweigstel-
len Istanbul und Ankara wurden auch wiederholt durchsucht. Zahlreiche Mit-
glieder wurden festgenommen und Ermittlungen gegen sie aufgenommen (Yeni
Gündem, 7. Januar 2001 und 9. Januar 2001).

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/5190

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Kenntnisse liegen der Bundesregierung vor über:

a) das Ziel des Angriffes,

b) die Vorgehensweise türkischer Sicherheitskräfte während des Angriffes,

c) die Zahl der Toten und der Verletzten,

d) die Zahl der in F-Typ-Gefängnisse verlegten politischen Gefangenen,

e) den Verbleib der „verschwundenen“ Gefangenen,

f) den Zustand der Verletzten,

g) den Zustand der Todesfastenden,

h) die Repression gegen den türkischen Menschenrechtsverein (IHD) und
andere Menschenrechtsinitiativen?

2. Welche Untersuchungen gedenkt die Bundesregierung selbst anzustellen
oder zu unterstützen, damit die Öffentlichkeit genaue und zuverlässige
Kenntnis über die o. g. Vorfälle bekommt?

3. Hat die Bundesregierung gegen den Angriff der türkischen Sicherheitskräfte
gegen die politischen Gefangenen protestiert?

Wenn ja, wann und in welcher Form?

Wenn nein, warum nicht?

4. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Zustände in den F-Typ-
Gefängnissen in der Türkei?

a) Wie bewertet die Bundesregierung die F-Typ-Gefängnisse hinsichtlich
ihrer psychischen und physischen Auswirkung auf die Gefangenen?

b) Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die politischen Gefange-
nen in den F-Typ-Gefängnissen der Gefahr willkürlicher Angriffe durch
die Sicherheitskräfte stärker ausgesetzt sind?

5. Ist die Bundesregierung gewillt, Konsequenzen aus dem o. g. Angriff gegen-
über der türkischen Regierung zu ziehen?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, welche?

6. Ist das o. g. Massaker in den türkischen Gefängnissen auf EU-Ebene disku-
tiert worden?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, wann, in welcher Form und mit welchem Ergebnis?

7. Ist die Bundesregierung gewillt, sich bei den anderen EU-Staaten dafür ein-
zusetzen, aufgrund des Massakers in den türkischen Gefängnissen und der
Repression gegen Menschenrechtsorganisationen die EU-Beitrittskandida-
tur der Türkei und jegliche Zahlungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten an
die Regierung in Ankara einzufrieren?

Wenn nein, welche anderen Konsequenzen werden die EU-Staaten hinsicht-
lich der Beitrittskandidatur der Türkei gegenüber der türkischen Regierung
ziehen?

8. Wird die Bundesregierung auch gegenüber internationalen Institutionen
(NATO, Weltbank, IWF) auf Konsequenzen gegenüber der türkischen Re-
gierung, z. B. der Sperrung von Krediten und anderen Zahlungen, eintreten?

Wenn nein, warum nicht?

Drucksache 14/5190 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
9. Beabsichtigt die Bundesregierung, sich für die Verbesserung der Haftbedin-
gungen in den türkischen Gefängnissen einzusetzen?

Wenn ja, in welcher Form?

Wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 18. Januar 2001

Ulla Jelpke,
Carsten Hübner,
Roland Claus und Fraktion

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