BT-Drucksache 14/5165

Aktuelle Menschenrechtssituation in der Türkei

Vom 25. Januar 2001


Deutscher Bundestag

Drucksache

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5165

14. Wahlperiode

25. 01. 2001

Antrag

der Abgeordneten Heidi Lippmann, Eva-Maria Bulling-Schröter, Wolfgang
Gehrcke, Uwe Hiksch, Carsten Hübner, Ulla Jelpke, Ursula Lötzer, Dr. Ilja Seiffert,
Dr. Winfried Wolf und der Fraktion der PDS

Aktuelle Menschenrechtssituation in der Türkei

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag verurteilt die Übergriffe türkischer Sicherheitskräfte
auf die Gefängnisse vom 19. bis 22. Dezember 2000 und die täglich zunehmen-
den Menschenrechtsverletzungen auf das Schärfste und fordert die Bundesre-
gierung auf:





die Übergriffe ebenfalls zu verurteilen,





umgehend eine Regierungsdelegation in die Türkei zu entsenden, um sich in
Gesprächen mit Nichtregierungsorganisationen und demokratisch orientier-
ten Parteien und bei Besuchen in den Gefängnissen und Krankenhäusern
über das Ausmaß der Übergriffe auf die politischen Gefangenen und das
Fortsetzten des Hungerstreiks zu informieren,





sich gegenüber der türkischen Regierung für eine lückenlose Aufklärung der
Übergriffe einzusetzen,





sich gegenüber der türkischen Regierung für freie Zugangsmöglichkeiten
von Menschenrechtsorganisationen, Anwälten, Angehörigen und Ärzten in
den Gefängnissen und Krankenhäusern einzusetzen,





einen sofortigen Abschiebestopp in die Türkei zu erlassen,





ein sofortiges Rüstungsexportverbot auszusprechen.

Berlin, den 10. Januar 2001

Heidi Lippmann
Eva-Maria Bulling-Schröter
Wolfgang Gehrcke
Uwe Hiksch
Carsten Hübner
Ulla Jelpke
Ursula Lötzer
Dr. Ilja Seifert
Dr. Winfried Wolf
Roland Claus und Fraktion
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Begründung

Vom 19. bis 22. Dezember 2000 fanden in der Türkei unter dem Namen „Ope-
ration Zurück zum Leben“ Angriffe von Spezialkommandos auf die politischen
Gefangenen in 20 Gefängnissen statt. Dabei wurden mit Bulldozern und militä-
rischer Ausrüstung Gefängnismauern und -dächer eingerissen. Unter dem Ein-
satz von Gasbomben und schwerer Bewaffnung haben sich Spezialeinheiten
Zugang zu den Gemeinschaftszellen von sich im Todesfasten befindlichen poli-
tischen Gefangenen verschafft. Dabei ist es zu schwersten Menschenrechtsver-
letzungen gekommen, zu Verbrennungen von Gefangenen und Folterungen.
Unter anderem wurden zwei Gefangene, die sich nach dreitägiger Belagerung
des Ümraniye-Gefängnisses ergeben wollten, erschossen. Sechs Frauen im
Istanbuler Bayrampasa-Gefängnis wurden vermutlich durch den Einsatz von
Chemikalien verbrannt.

Anlass war nicht, wie von türkischer Regierungsseite dargestellt, das gewalt-
same Beenden des seit dem 20. Oktober 2000 Todesfasten aus Protest gegen
den Bau der F-Typ-Zellen, sondern vielmehr die zwangsweise Verlegung in
diese neuen „nach europäischen Standards gebauten“ Isolationszellen und die
Zerschlagung der Strukturen der politischen Gefangenen.

Nach Informationen des Türkischen Menschenrechtsvereins IHD wurden bis
zum 10. Januar 2001 dreißig Gefangene und zwei Polizisten getötet. Von einem
Gefangenen konnte die Identität nicht festgestellt werden. Mehrere Opfer wur-
den ohne Autopsie in Schnellverfahren beigesetzt. Andere Autopsieberichte
werden, zum Teil per Gerichtsbeschluss, geheim gehalten. 237 bei der Opera-
tion verletzte Gefangene wurden zum Teil nur für wenige Tage in Krankenhäu-
ser verlegt, bevor sie zum Teil mit schweren Verletzungen in die Gefängnisse
zurückgebracht wurden.

Von den mehr als 1 000 zwangsweise verlegten politischen Gefangenen haben
viele schwerste Verletzungen erlitten, die nicht medizinisch behandelt werden.

Vor den Angriffen befanden sich über 900 politische Gefangene im Hungerstreik
und 259 im Todesfasten. Nach der Operation befinden sich mit Stand vom
10. Januar 2001 über 1 600 Gefangene im Hungerstreik und fast 400 im Todes-
fasten. Der Zustand der sich zum Teil bereits seit dem 20. Oktober 2000 im
Todesfasten befindlichen Gefangenen verschlechtert sich stündlich. So berichtet
der Vorsitzende der Menschenrechtskommission des Ärztebundes der Türkei
TTB von schwerwiegenden Kreislauferkrankungen, Schädigungen des Verdau-
ungs- und Nervensystems, Erblindungen, Nierenversagen, Gedächtnisverlust
und natürlich extremem Gewichtsverlust. Zum Teil werden die Todesfastenden
zwangsweise unter Einsatz von Folter in Krankenhäuser verlegt. Mindestens ein
Gefangener ist bereits nachweislich an den Folgen gestorben. Im Todesfasten
befinden sich ebenfalls zum Teil seit mehr als 60 Tagen Angehörige und ins-
besondere Mütter von politischen Gefangenen an mehreren Standorten in der
Türkei und in westeuropäischen Städten.

Nach den Zwangsverlegungen in die zum Teil bis heute weder mit Strom noch
mit Wasser ausgestatteten Gefängnisneubauten ist es zu grauenvollen Folterun-
gen an den politischen Gefangenen gekommen. Soweit bekannt, sollen alle
neugebauten Gefängnisse ausschließlich von militärischen Einheiten bewacht
und verwaltet werden. Obwohl es zurzeit eine Nachrichtensperre und ein Zu-
gangsverbot für zivilgesellschaftliche Organisationen gibt, liegen dem IHD
Nachweise über die Folterung und Vergewaltigung mit Schlagstöcken an acht
Gefangenen vor. Die Dunkelziffer ist sehr viel höher.

Seit den Angriffen auf die Gefängnisse ist es laut IHD zu 2 500 Inhaftierungen
von Angehörigen der Gefangenen, Vertretern von Menschenrechtsorganisatio-
nen und Rechtsanwälten gekommen. Die Büros des Menschenrechtsvereins in
Izmir, Blikkesir, Konya und Bursa wurden geschlossen. Täglich kommt es zu
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Razzien bei Privatpersonen, in Cafés, Versammlungsräumen und bei verschie-
denen Organisationen. Am 11. Januar 2001 wurden in der Osttürkei bei Viran-
sehir 28 Kinder und Jugendliche im Alter von 9 bis 16 Jahren inhaftiert und we-
gen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ angeklagt.

Vertreter von Menschenrechtsorganisationen, Anwältevereinigungen, Parteien
und Gewerkschaften erklären übereinstimmend, dass sich die Menschenrechts-
verletzungen seit Verleihung des EU-Kandidatenstatus an die Türkei im De-
zember 1999 weiterhin verschlechtert haben und zurzeit nie dagewesene Aus-
maße annehmen. Unverständnis herrscht in der Türkei auch darüber, dass
zeitgleich zu der Zunahme der Repressionen gegen die politischen Gefangenen
eine Amnestie für fast 40 000 Strafgefangene erlassen wurde, was dazu führt,
dass wegen Mordes und Vergewaltigung verurteilte Straftäter freikommen.

Unverständlich ist angesichts des Kandidatenstatus der Türkei das Schweigen
europäischer Regierungen. Die Türkei ist heute hinsichtlich der Erfüllung der
Kopenhagener Kriterien weiter davon entfernt als bei der Gipfelentscheidung in
Helsinki. Sollte die Bundesregierung weiterhin ernsthaftes Interesse an einer
Integration der Türkischen Republik in die Europäische Union haben, darf sie
sich nicht länger darauf beschränken, einerseits die wirtschaftliche und militäri-
sche Zusammenarbeit auszubauen und durch neue Hermesbürgschaften die
Aufrüstung der Türkei zu unterstützen und andererseits zu schwerwiegenden
Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen zu schweigen.

Voraussetzung für den Beitritt sind nicht nur eine funktionsfähige Marktwirt-
schaft und die Fähigkeit, die aus einer EU-Mitgliedschaft erwachsenden Ver-
pflichtungen und Ziele sich zu Eigen zu machen, sondern insbesondere auch
die institutionelle Stabilität, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, die
Wahrung der Menschenrechte und Achtung und Schutz von Minderheiten.

Das Schweigen der europäischen Regierungen zu den Menschenrechts- und
Völkerrechtsverletzungen wird als Zustimmung aufgefasst und ist auf dem Weg
der Integration der Türkei in die Wertegemeinschaft Europa nicht hilfreich.

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