BT-Drucksache 14/4732

Der Europäische Rat von Nizza muss zum Erfolg für Europa werden

Vom 27. November 2000


Deutscher Bundestag Drucksache 14/4732
14. Wahlperiode 27. 11. 2000

Antrag
der Abgeordneten Peter Hintze, Peter Altmaier, Renate Blank, Friedrich Bohl,
Dr. Ralf Brauksiepe, Thomas Dörflinger, Anke Eymer (Lübeck), Dr. Reinhard
Göhner, Hermann Gröhe, Horst Günther (Duisburg), Ursula Heinen, Hans Jochen
Henke, Klaus Hofbauer, Bartholomäus Kalb, Hartmut Koschyk, Dr. Martina
Krogmann, Dr. Hermann Kues, Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg), Dr. Norbert
Lammert, Dr. Paul Laufs, Erich Maaß (Wilhelmshaven), Dr. Gerd Müller,
Dr. Friedbert Pflüger, Christa Reichard (Dresden), Hans-Peter Repnik, Hannelore
Rönsch (Wiesbaden), Volker Rühe, Dr. Andreas Schockenhoff, Wolfgang
Schulhoff, Dorothea Störr-Ritter, Thomas Strobl (Heilbronn), Michael Stübgen,
Arnold Vaatz, Annette Widmann-Mauz und der Fraktion der CDU/CSU

Der Europäische Rat von Nizza muss zum Erfolg für Europa werden

Der Bundestag wolle beschließen:

50 Jahre nach ihren Anfängen geht die Europäische Union ihrer Vollendung
entgegen. Mit der Perspektive für einen baldigen Beitritt der Staaten Mittelost-
europas rückt die Idee von der Einigung unseres Kontinents in Freiheit und
Frieden in greifbare Nähe.

Der Erweiterungsprozess verlangt den zukünftigen Mitgliedstaaten viel ab. Ein
Jahrzehnt nach der Überwindung des Kommunismus stehen für die Menschen,
die Politik und die Unternehmen in den jungen Demokratien Mittelosteuropas
neuerlich tiefgreifende Veränderungen bevor. Die Beitrittsländer passen Wirt-
schafts-, Sozial- und Rechtsordnung an die Bedingungen in der EU an. Die
Fortschritte der meisten Kandidatenländer sind beachtlich, wie die neuen Fort-
schrittsberichte eindeutig belegen. Sie vollziehen einen als notwendig erkann-
ten, jedoch anstrengenden Reformprozess, der den Menschen viel abverlangt,
und verdienen hierfür unsere nachhaltige Unterstützung.

Die Erweiterung der Europäischen Union ist eine politische und moralische
Verpflichtung für die bisherigen Mitglieder. Sie ist auch ein Gebot der ökono-
mischen Vernunft. Die europäische Wirtschaftskraft, die Fähigkeit zur Selbst-
behauptung Europas im Globalisierungsprozess und der Wille zur aktiven Ge-
staltung der Zukunft werden sich vollends nur entfalten können, wenn Europa
geeint ist. Hiervon wird Deutschland mit seiner stark exportorientierten Wirt-
schaft und seiner bisherigen Lage am Rande des europäischen Binnenmarktes
in besonderem Maße profitieren. Weder Wohlstand noch innere und äußere
Sicherheit sind ohne die Europäische Union und ohne ihre Erweiterung nach
Osten auf Dauer zu gewährleisten. Die Osterweiterung der EU ist mit einem
beträchtlichen Stabilitätsgewinn verbunden.

Drucksache 14/4732 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Die Reformbereitschaft der Menschen in den Beitrittsländern wird in dem
Maße aufrechterhalten bleiben, je klarer sich die Beitrittsperspektive abzeich-
net und je konkreter die Erweiterungsvorbereitungen vorangetrieben werden.
Das deutlichste Signal der Aufnahmebereitschaft an die Beitrittskandidaten ist
eine konsequente Verwirklichung der Reformen, die sich die EU in der Regie-
rungskonferenz vorgenommen hat. Die EU-Reformen sind aus zwei Gründen
erforderlich: Zum einen braucht Europa größere Handlungsfähigkeit im Pro-
zess der Globalisierung. Zum anderen muss Europa auch bei einer wachsenden
Zahl von Mitgliedern handlungsfähig bleiben.

Damit die EU-Reformen wie zugesagt Ende 2002 in Kraft treten können, müs-
sen sich die Staats- und Regierungschefs in allen Punkten bis zum Europäi-
schen Rat von Nizza einigen. Left-Overs von Nizza darf es nicht geben. Ein Er-
folg des Gipfels wäre auch das dringend erforderliche politische Signal der
Handlungsfähigkeit der EU an die Finanzmärkte und würde so der Stabilisie-
rung des Außenwertes des Euro dienen.

Kurz vor der entscheidenden Konferenz besteht die Sorge, dass nur ein unzu-
reichendes Ergebnis erreicht wird. Die Bundesregierung ist aufgefordert, ihre
Bemühungen um tragfähige Lösungen zu verstärken. Der Bundeskanzler und
der Bundesminister des Auswärtigen müssen sich jetzt mit konkreten Initiati-
ven stärker persönlich in die Verhandlungen einbringen.

Sorge bereiten Berichte über ein schlechtes Verhandlungsklima auf allen Ebe-
nen. Das europäische Einigungswerk lebt vom fairen Zusammenwirken größe-
rer und kleinerer Mitgliedstaaten. Diesen Grundsatz hat Deutschland immer ge-
fördert. Die Bundesregierung sollte den Schulterschluss nicht nur mit großen
Mitgliedstaaten, sondern auch mit kleineren Partnern suchen. Ein Gegeneinan-
der kleinerer und großer Mitglieder darf es in der EU niemals geben, sonst ist
das Gesamtgefüge gefährdet.

Vom Europäischen Rat in Nizza müssen Entscheidungen in sieben Bereichen
getroffen werden:

1. Mehrheitsentscheidung im Ministerrat

Der Übergang vom Zwang zur Einstimmigkeit im Ministerrat hin zu Mehr-
heitsentscheidungen ist das wichtigste Reformprojekt im Hinblick auf die Effi-
zienz der Arbeit der EU. Die Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit im Rat
muss zur Regel werden. Lediglich Entscheidungen mit Verfassungscharakter
wie Vertragsänderungen, Beitritte und Eigenmittelbeschlüsse sowie alle Rege-
lungen, die wesentliche finanzielle Transferleistungen neu begründen, sollen in
der Einstimmigkeit verbleiben.

2. Neuordnung der Stimmengewichtung im Rat

Die stark unterschiedlichen Bevölkerungszahlen der Mitgliedstaaten der EU
und der bevorstehende Beitritt zahlreicher kleinerer Länder zur EU rechtferti-
gen eine deutlichere Differenzierung bei Abstimmungen im Ministerrat. Die
beste Lösung hierfür ist, wenn die Mehrheit der Stimmen im Rat zugleich auch
eine Mehrheit der Bürger in der EU repräsentiert (Doppelte Mehrheit).

3. Größe und Zusammensetzung der Kommission

Die Arbeitsfähigkeit der Kommission auf dem Weg hin zur europäischen Exe-
kutive ist gefährdet, wenn die Kommission selbst durch die EU-Erweiterung
immer weiter wächst. Der Verzicht der größeren Länder auf die Benennung ei-
nes zweiten Kommissars und die Beibehaltung des Prinzips, dass jedes Land
einen Kommissar stellt, erfordert eine stärkere Hierarchisierung der Kommis-
sion und eine Stärkung der Stellung des Kommissionspräsidenten.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/4732

4. Europäisches Parlament

Das Europäische Parlament muss in seiner Zusammensetzung den Grundsatz
der Proportionalität zwischen der Bevölkerungszahl und der Zahl der Mandate
widerspiegeln, wobei jedes Land vier Grundmandate erhalten sollte. Es soll das
Recht erhalten, den Kommissionspräsidenten zu wählen, eigene Angelegenhei-
ten selbst zu regeln und bei allen Rechtsetzungen mitzuentscheiden, in denen
der Rat mit qualifizierter Mehrheit zu befinden hat.

5. Verstärkte Zusammenarbeit

Die Regelungen über die verstärkte Zusammenarbeit müssen auf alle zur
Zuständigkeit der EU gehörenden Politikbereiche ausgeweitet werden. Das
Vetorecht einzelner Mitgliedstaaten gegen verstärkte Zusammenarbeit anderer
muss entfallen. Die verstärkte Zusammenarbeit muss grundsätzlich offen sein
für alle Mitgliedstaaten, die zur Übernahme der zugehörigen Verpflichtungen
bereit und in der Lage sind. Die verstärkte Zusammenarbeit darf nicht desinte-
grierend wirken. Für die Einleitung einer verstärkten Zusammenarbeit sollte
jeweils die Zustimmung des Europäischen Parlaments erforderlich sein.

6. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

Angesichts des immer drängender werdenden Erfordernisses einer kraftvollen
europäischen Außen- und Sicherheitspolitik werden vom Europäischen Rat in
Nizza auch weitergehende Entscheidungen hin zu operativen Möglichkeiten
der EU in Krisenregionen erwartet. Das erste Amtsjahr des Hohen Vertreters
für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik hat positive Akzente gesetzt.
Die Europäer müssen umgehend die bereits mehrfach vereinbarten erforder-
lichen Fähigkeiten für einen leistungsfähigen, eigenständigen und die NATO
ergänzenden Verteidigungsbeitrag der EU erwerben und die dafür notwendigen
Finanzmittel bereitstellen.

7. Schaffung eines Verfassungsvertrags der Europäischen Union

Der Europäische Rat von Nizza muss die Weichen für eine weitergehende
Reform der EU stellen. Erstrebenswert ist ein Verfassungsvertrag der Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union. Er sollte die zugrunde liegenden Wertent-
scheidungen und Grundrechte, den institutionellen Rahmen mit klarer Gewal-
tenteilung, das Subsidiaritätsprinzip und eine präzise Kompetenzabgrenzung
zwischen europäischer und nationaler Ebene enthalten. Dringend erforderlich
ist eine Reform des Rates hin zu einem reinen Organ der europäischen Gesetz-
gebung, die gemeinsam mit dem Europäischen Parlament ausgeübt wird, sowie
eine Stärkung der Kommission in den Bereichen, in denen die EU exekutive
Zuständigkeiten hat.

Die Arbeiten am Verfassungsvertrag müssen direkt nach Abschluss der Regie-
rungskonferenz beginnen. Dabei sollte unter Wahrung des Letztentscheidungs-
rechts der Mitgliedstaaten von Anfang an eine angemessene Beteiligung des
Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente vorgesehen werden.
Auch die Beitrittsländer sollten beratend mitwirken können. In Nizza müssen
verbindlich Zielrichtung und Zeitplan hierfür festgelegt werden.

Berlin, den 27. November 2000

Friedrich Merz, Michael Glos und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.