BT-Drucksache 14/4645

Die Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf die sozialen Sicherungssysteme öffentlich machen

Vom 14. November 2000


Deutscher Bundestag Drucksache 14/4645
14. Wahlperiode 14. 11. 2000

Antrag
der Abgeordneten Johannes Singhammer, Karl-Josef Laumann, Maria Eichhorn,
Brigitte Baumeister, Wolfgang Dehnel, Renate Diemers, Thomas Dörflinger, Rainer
Eppelmann, Anke Eymer (Lübeck), Ilse Falk, Ingrid Fischbach, Dr. Hans-Peter
Friedrich (Hof), Klaus Holetschek, Walter Link (Diepholz), Julius Louven,
Wolfgang Meckelburg, Claudia Nolte, Hans-Peter Repnik, Franz-Xaver Romer,
Heinz Schemken, Dorothea Störr-Ritter, Andreas Storm, Matthäus Strebl, Peter
Weiß (Emmendingen), Gerald Weiß (Groß-Gerau) und der Fraktion der CDU/CSU

Die Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf die sozialen
Sicherungssysteme öffentlich machen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die neue Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes
belegt:

Die Deutschen werden immer älter und es werden immer weniger. Die
Lebenserwartung bei der Geburt beträgt derzeit für Männer fast 75 und für
Frauen fast 80 Jahre. 60-Jährige können damit rechnen, 79 Jahre (Männer)
bzw. 84 Jahre (Frauen) alt zu werden. Noch 1965 wurden in Deutschland
1 325 386 Kinder geboren, 1999 gerade mal 770 000. Früher hat – statistisch
betrachtet – eine Frau 2,5 Kinder geboren, jetzt nur noch 1,4. Zum Erhalt der
Bevölkerung sind aber 2,1 Geburten nötig.

Aus der demographischen Pyramide und einem Tannenbaum wird künftig
ein demographischer Pilz: Gegenwärtig kommen auf 10 Personen im Alter
von 20 bis 60 Jahren 4,3 Personen, die 60 Jahre oder älter sind, im Jahr 2030
sind es ca. 7,5 Personen über 60 Jahre (9. koordinierte Bevölkerungsprog-
nose, Variante 1). Der Anteil der jungen Menschen bis zu 20 Jahren geht um
ein Viertel von heute 21,1 Prozent auf ca. 16 Prozent zurück. Die Bevölke-
rungszahl sinkt von heute 81,95 Millionen auf 74,75 Millionen ab, das
Durchschnittsalter nimmt um ca. 2 Jahre zu. Der heutige Generationenver-
trag wird damit in der Zukunft faktisch durch zu wenig Kinder und Familien
aufgekündigt.

Dies hat vielfältige direkte und indirekte Auswirkungen auf soziale Siche-
rungssysteme. Neben den unmittelbaren Effekten auf die Beitragszahler-
und Versichertenstruktur sind mittelbare Auswirkungen über die gesamt-
wirtschaftliche Entwicklung und den Wohlstand, Arbeit und Beschäftigung,
Bildung und Ausbildung, Infrastruktur und öffentliche Finanzen zu berück-
sichtigen.

Drucksache 14/4645 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

2. Der demographische Wandel stellt schon heute das gewohnte System sozia-
ler Sicherheit zunehmend in Frage:

– So stieg die durchschnittliche Rentenbezugsdauer von 10,5 Jahre (1965)
auf 16,3 Jahre (1999). Das Verhältnis von Rentnern zu Beitragszahlern
hat sich entschieden verändert: Die Zahl der Rentner hat sich von 1965
bis 1999 verdoppelt, die Zahl der Beitragszahler stieg nur um ein Viertel.

– Behandlungskosten für Kranke steigen naturgemäß mit einem höheren
Anteil älterer Menschen an. Eine DIW-Studie prognostiziert allein auf-
grund der Alterung bei konstanter Medizintechnik im Jahr 2040 einen
Beitragssatz von etwa 15,5 Prozent; allerdings sollen es bei zunehmen-
dem medizinischen Fortschritt 23 Prozent werden. Die Beitragssätze klet-
terten bereits in der Vergangenheit von 8,2 Prozent (1970) auf ca. 13,5
Prozent (2000).

– Von der Pflegeversicherung erhalten ca. 1,7 Millionen Pflegebedürftige
Leistungen, davon ca. 1,24 Millionen zu Hause. Durch die demogra-
phische Entwicklung rechnet man bis zum Jahr 2010 mit weiteren
350 000 Pflegebedürftigen. Ab 1999 stellten sich Defizite ein, die an-
dauern (2001: 910 Mio. DM, 2002: 750 Mio. DM, 2003: 450 Mio. DM,
2004: 460 Mio. DM) und die Finanzreserve von 1998 mit ca. 10 Mrd.
DM stetig abschmelzen.

– Das Erwerbspersonenpotential wird sich bis zum Jahr 2030 demogra-
phisch in einer Größenordnung von ca. 20 Prozent vermindern. Dies kann
z. B. das volkswirtschaftliche Wachstum als Finanzierungsbasis insge-
samt behindern und führt zu einem erheblichen Ausfall an potentiellen
Beitragszahlern in gesetzlichen und privaten Sicherungssystemen. Auf
dem Arbeitsmarkt klagen schon heute – trotz der noch hohen Arbeits-
losigkeit – Betriebe über Fachkräftemangel.

3. Allein Zuwanderung würde unser demographisches Problem nicht lösen.
Denn auch unter Berücksichtigung eines Zuwanderungssaldos von 100 000
Ausländern im Jahr (9. koordinierte Bevölkerungsprognose, Variante 1) sinkt
die Bevölkerung in Deutschland von 81,95 Millionen im Jahr 2000 auf
ca. 64,4 Millionen im Jahr 2050. Nach Modellrechnungen der Vereinten
Nationen wäre eine jährliche Zuwanderung von 3,4 Millionen Personen nach
Deutschland nötig, damit die zahlenmäßige Relation der 15- bis 64-Jährigen
zu den über 64-Jährigen konstant, also das ein Bevölkerungsgleichgewicht
erhalten bleibt. Eine Zuwanderung in einer solchen Größenordnung – zumal
wenn sie ungesteuert erfolgt – würde die deutsche Bevölkerung überfordern.
Die heimliche Bevölkerungspolitik in Form der derzeit stattfindenden
Zuwanderung muss überdacht und geordnet werden.

4. Wir brauchen eine nachhaltigere Politik für Familien, um die Hemmnisse
abzubauen, die Eltern von der Realisierung ihrer Kinderwünsche abhalten.
Wenn junge Paare sich auf eine langfristige, staatliche Unterstützung und
auf eine realistische Vereinbarkeit von Familie und Beruf verlassen können,
haben sie die Freiräume, sich für Kinder zu entscheiden und damit zum Ge-
nerationengleichgewicht beizutragen. Es geht darum, Menschen Freiräume
zu eröffnen, ihr Leben nach den eigenen Präferenzen zu gestalten, denn Kin-
der und Familie haben nach wie vor für die ganz überwiegende Mehrheit der
jungen Menschen einen herausragenden Stellenwert. Mit einer zuverlässi-
gen und zielgerichteten Familienpolitik kann der dramatischen Bevölke-
rungsentwicklung entgegengewirkt werden.

Das immer größer werdende Ungleichgewicht zwischen Kinderlosen und
Familien führt zu einer faktischen Aufkündigung des Generationenvertra-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/4645

ges. Deshalb bleiben die aktuell geplanten oder angedachten Reformen in
den sozialen Sicherungssystemen wie Renten-, Kranken- oder Pflegever-
sicherung ohne eine zukunftsgerichtete Familienpolitik nur Stückwerk.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:

1. Die Bundesregierung soll in einem Bericht an den Deutschen Bundestag die
Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf die sozialen Siche-
rungssysteme offen legen. Der Bericht ist im Jahr 2001 vorzulegen.

2. Der Bericht muss konkrete Schlussfolgerungen und Vorschläge zu einer
nachhaltigen, familienorientierten Politik für eine bessere Realisierung des
Kinderwunsches der Eltern und zur zielgerichteten Reformierung der sozia-
len Sicherungssysteme enthalten.

Berlin, den 6. November 2000

Johannes Singhammer
Karl-Josef Laumann
Maria Eichhorn
Brigitte Baumeister
Wolfgang Dehnel
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Rainer Eppelmann
Anke Eymer (Lübeck)
Ilse Falk
Ingrid Fischbach
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)
Klaus Holetschek
Walter Link (Diepholz)
Julius Louven
Wolfgang Meckelburg
Claudia Nolte
Hans-Peter Repnik
Franz-Xaver Romer
Heinz Schemken
Dorothea Störr-Ritter
Andreas Storm
Matthäus Strebl
Peter Weiß (Emmendingen)
Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Friedrich Merz, Michael Glos und Fraktion

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