BT-Drucksache 14/4263

Ziele zur Qualitätssteigerung in der Diabetes-Versorgung

Vom 11. Oktober 2000


Deutscher Bundestag

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14. Wahlperiode

11. 10. 2000

Antrag

der Abgeordneten Horst Schmidbauer (Nürnberg), Gudrun Schaich-Walch,
Marga Elser, Klaus Hagemann, Eike Hovermann, Barbara Imhof, Klaus Kirschner,
Helga Kühn-Mengel, Eckhart Lewering, Götz-Peter Lohmann (Neubrandenburg),
Dr. Martin Pfaff, Dr. Hansjörg Schäfer, Wilhelm Schmidt (Salzgitter),
Regina Schmidt-Zadel, Dr. R. Werner Schuster, Dr. Margrit Spielmann,
Dr. Wolfgang Wodarg, Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Katrin Dagmar Göring-Eckardt, Kerstin Müller (Köln),
Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Ziele für die Qualitätssteigerung in der Diabetes-Versorgung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Bereits vor knapp zehn Jahren hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in
der St.-Vincent-Deklaration festgestellt, dass sich in Mitteleuropa und insbe-
sondere in Deutschland der Diabetes mellitus zu einer Volkskrankheit entwi-
ckelt hat. Auch wenn genaue epidemiologische Daten fehlen, kann angenom-
men werden, dass nahezu sechs Millionen Deutsche an Diabetes leiden.
Experten weisen zudem auf eine sehr hohe Dunkelziffer hin. Nahezu jede
fünfte Frau im Alter von 70 bis 79 Jahren hat nach den Daten des Bundes-Ge-
sundheitssurveys einen Diabetes mellitus. Europaweit führen die Alterung der
Bevölkerung sowie Fehlernährung und Bewegungsmangel zu einer Zunahme
dieser Erkrankung. Es ist davon auszugehen, dass der Anteil von Kosten für die
Diabetes-Versorgung an den gesamten Gesundheitskosten in den nächsten
Jahren erheblich steigen wird.

Mit der Unterstützung der Erklärung von St. Vincent hat sich die alte Bundes-
regierung verpflichtet, wirksam dazu beizutragen, die diabetesbedingten Am-
putationen, die diabetesbedingten Erblindungen und die Fälle von Nierenver-
sagen aufgrund von Diabetes deutlich zu reduzieren. Weiteres Ziel war die
Verringerung der Sterblichkeitsrate und der Krankheitshäufigkeit durch Herz-
krankheiten und Schlaganfälle. Zudem sollten Diabetikerinnen kein höheres
Schwangerschaftsrisiko haben als Nichtdiabetikerinnen.

Die alte Bundesregierung hat diese Selbstbindung schlichtweg ignoriert. Auch
die Ärzteschaft hat den Auftrag nicht angenommen. Die Versorgung der heute
rund sechs Millionen an Diabetes erkrankten Menschen in der Bundesrepublik
Deutschland hat sich nicht verbessert, sondern im Gegenteil verschlechtert.
Nach wie vor betreffen seit 1990 zwei Drittel aller in Deutschland durchgeführ-
ten Amputationen Diabetiker, jeder zweite neuandialysierte Patient und jeder
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dritte Neuerblindete ist ein Diabetiker. Die Diskrepanz zwischen den neuen
medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnissen und deren Umsetzung in der
Praxis ist weiter gewachsen. Die jährlichen Kosten für einen Dialysepatienten
belaufen sich auf mehr als 100 000 DM. In den Niederlanden sind aufgrund
einer besseren Diabetesbehandlung nur 13 Prozent der Dialysepatienten be-
dingt durch den Diabetes. Auch die bisher größte Studie zum Diabetes, die
Ende 1998 veröffentlichte United Kingdom Prospective Diabetes Study
(UKPDS) bietet den Beleg, dass Diabetesfolgeerkrankungen verhindert werden
können, je intensiver Diabetiker behandelt werden. Sie gibt die absolute Ge-
wissheit, dass eine strenge Blutzucker- und Blutdruckkontrolle das Risiko dia-
betischer Folgeerkrankungen vermindert. Britische Wissenschaftlicher haben
rund 20 Jahre lang mehrere tausend Diabetiker mit verschiedenen Therapiefor-
men behandelt und den unterschiedlichen Erfolg dokumentiert. Dieses weist
darauf hin, dass die Diabetestherapie in der Bundesrepublik Deutschland dem
aktuellen medizinischen Wissen hinterherhinkt und eine ausreichende sachge-
rechte Versorgung nicht gewährleistet ist. Das ist nicht nur verantwortungslos
gegenüber den Kranken, sondern auch unvertretbar im Hinblick auf die unnötig
hohen Ausgaben für die Krankenkassen. Versorgungsdefizite führen zu einer
Kostenflut, die – wie eine bereits im Jahr 1979 in Schweden vorgelegte Studie
zeigt – bei früherkannten und gut eingestellten Diabetikern nur einen Bruchteil
betragen würde. Die alte Bundesregierung ist durch ihre Tatenlosigkeit mitver-
antwortlich für Einschränkungen bei der Lebensqualität und Lebenserwartung
von schlecht behandelten Diabetikern und unnötige Leistungsausgaben, die der
Solidargemeinschaft hierdurch entstanden sind.

Hinzu kommt, dass die Ausbildung der Medizinstudenten die Problematik der
betroffenen Patienten verschärft. Die Diabetestherapie wird im Fachbereich In-
nere Medizin lediglich als Teil des Faches Endokrinologie gelehrt. Dieses wird
von Diabetesexperten immer wieder kritisiert. Selbst während der klinischen
Ausbildung erwirbt nicht jeder Medizinstudent praktische Erfahrungen im
Bereich Diabetes. Zusätzliche, von der Fachgesellschaft diabetologisch tätiger
Ärzte (DDG) angebotene Qualifizierungskurse werden von den Ärztekammern
nicht anerkannt. Aber nicht nur bei den Ärzten, sondern auch beim medizini-
schen Fachpersonal besteht Fortbildungsbedarf im Bereich Diabetes. Pflicht-
fortbildungen müssen zur Regel werden. Die diabetesbezogene Ausbildung von
medizinischem Fachpersonal, wie z. B. dem Diabetesberater, wird ausschließ-
lich von der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) angeboten. Dadurch ist es
zu einem Ausbildungsplatzstau gekommen, der verhindert, dass Fachpersonal,
das sich speziell mit der Erkrankung des Diabetes auseinandersetzt, rasch ver-
fügbar und einsetzbar ist.

Mit der Unterzeichnung der St.-Vincent-Deklaration durch die alte Bundes-
regierung erhofften sich die Patienten und Leistungserbringer, dass klare Struk-
turen zur Verbesserung in der medizinischen Versorgung von Diabetikern
folgen würden. Einige wenige Lösungen und Ansätze in verschiedenen Bun-
desländern, die zwischen Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen
zustande kamen, zeigen, dass es Wege einer besseren Versorgung gibt, die
flächendeckende Diabetes-Versorgung aber immer noch unzureichend ist.

Aus Sicht der neuen Bundesregierung bedürfen chronisch Kranke der besonde-
ren Unterstützung und müssen vor Überforderung geschützt werden.

Mit dem GKV-Solidaritätsstärkungs-Gesetz, das am 1. Januar 1999 in Kraft ge-
treten ist, sind die chronisch kranken Menschen in einem ersten Schritt entlastet
worden, da die Zuzahlungen zu den für sie lebensnotwendigen Medikamenten,
den Heil- und Hilfsmittelzuzahlungen zurückgefahren wurden. Für Versicherte,
die wegen derselben Krankheit in Dauerbehandlung sind und ein Kalenderjahr
lang Zuzahlungen in Höhe von mindestens 1 v. H. der jährlichen Bruttoeinnah-
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men zum Lebensunterhalt aufbringen mussten, entfallen die Zuzahlungen zu
notwendigen Fahrkosten sowie zu Arznei-, Verband- und Heilmitteln sogar
vollständig. Außerdem wurden die Kürzungen der Lohnfortzahlung im Krank-
heitsfall und des Krankengeldes zurückgenommen.

Für Diabetiker ist eine qualitätsgesicherte Behandlung und schnittstellenüber-
greifende Versorgung von besonderer Bedeutung. Langfristig ist eine erfolg-
reiche Behandlung mit Vermeidung von Langzeitschäden und Folgeerkran-
kungen nur möglich, wenn neben einer verbesserten Patienteninformation und
dem Angebot zur Krankheitsfrüherkennung (Gesundheitsuntersuchung/check-
up), Patienten ein modernes medizinisches Kompetenznetzwerk offen steht und
sie zur langfristigen Behandlung motiviert sind und werden. Interdisziplinäre
Versorgungsnetze, standardisierte Behandlungsvorgaben und strukturierte qua-
litätsgesicherte Schulungen sind Bestandteil der modernen Diabetesbehand-
lung. Dazu gehört auch die diabetesgerechte Fußpflege durch fachkompetente
Diabetesfußambulanzen.

Die Rahmenbedingungen hierfür haben wir durch das Gesundheitsstruktur-
gesetz 2000 geschaffen.

Hierzu zählen die Stärkung der Prävention und Selbsthilfe, die Aufnahme der
Patientenschulungsmaßnahmen zu den ergänzenden Leistungen zur Rehabilita-
tion, die Aufnahme von Regelungen für eine ebenenübergreifende integrierte
Versorgung und die Einführung umfassender Qualitätssicherungsmaßnahmen.
Damit sind grundlegende Weichen für die Verbesserung der Versorgung von
chronisch Kranken, also auch Diabetikern, gestellt worden.

Die gemeinsame Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen ist jetzt aufge-
rufen, die gesetzlichen Vorgaben umzusetzen und die strukturellen Bedingun-
gen so zu nutzen, dass jeder Diabetiker optimal versorgt wird. Dazu gehört vor
allem, dass jeder Diabetiker eine wohnortnahe, interdisziplinäre und fachlich
kompetente Versorgung für seine chronische Erkrankung erhält. Notwendig ist
ein Netz aus kooperierenden Hausärzten, qualifizierten Fachärzten und Kran-
kenhäusern und die Zusammenarbeit von Ärzten, Diabetesberatern, Ernäh-
rungsberatern, Diabetes-Fußspezialisten, Sozialarbeitern, Psychologen und am-
bulanten Pflegediensten. Darüber hinaus ist eine intensivere Ausbildung von
Medizinstudenten und gezieltere, flächendeckende Weiterbildung von Assis-
tenzärzten, Hausärzten und Spezialisten über Diabetes notwendig.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. im Prozess der Entwicklung von Gesundheitszielen für die Bundesrepublik
Deutschland dafür Sorge zu tragen, die Verbesserung der Diabetes-Versor-
gung zu einem vorrangigen gesundheitspolitischen Ziel zu erklären. Ent-
sprechend der St.-Vincent-Deklaration von 1989 sollen konkrete Versor-
gungsziele definiert werden, die bis zum Jahr 2005 umgesetzt werden sollen.
Dabei sollen sich die Versorgungsziele an den Inhalten der genannten Dekla-
ration wie der wesentlichen Reduzierung der diabetischen Erblindungen, des
diabetesbedingten Nierenversagens und der diabetesbedingten Amputatio-
nen orientieren. Diabetiker sollen wie Nicht-Diabetiker mit einem hohen
Maß an Selbstwertgefühl und Lebensqualität leben können.

2. zur Erarbeitung und zur weiteren Begleitung der Umsetzung der Ziele für
eine verbesserte Diabetesversorgung bis Ende 2000 eine Kommission einzu-
setzen, der unter anderem medizinisches, diabetologisch orientiertes Fach-
personal, Vertreter der Kostenträger, der Selbsthilfegruppen und Patienten-
verbände angehören.
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3. für die oben genannte Aufgabe eine aktive Moderatorenrolle zu überneh-
men, um in Zusammenarbeit mit den Fachgesellschaften, Vertretern der
Krankenkassen, Selbsthilfegruppen und anderen Akteuren bis Ende 2002
einen umfassenden Maßnahmenkatalog zur Durchsetzung der Zielvor-
gaben zu erarbeiten und dem Deutschen Bundestag als Basis für einen
„Nationalen Aktionsplan Diabetes“ vorzulegen.

4. der Kommission aufzugeben, dem Deutschen Bundestag spätestens bis
Mitte 2001 einen Bericht vorzulegen mit Empfehlungen und Vorgaben für
den Versorgungssollzustand, die Strukturqualität, die Organisation der Dia-
betikerbetreuung und Vorschlägen zum Änderungsbedarf von Gesetzen.

5. darauf hinzuwirken, dass die Krankenkassen, die mit dem Gesundheits-
strukturgesetz 2000 in § 43 Abs. 3 SGB V eingeführte erweiterte gesetz-
liche Möglichkeit, Leistungen für wirksame und effiziente Patienten-
schulungsmaßnahmen für chronisch Kranke unter Einbeziehung von
Angehörigen und ständigem Betreuungspersonal erbringen zu können, be-
darfsgerecht anbieten. Damit jeder Diabetiker die Selbstverantwortung
übernehmen kann, ist eine qualitätsgesicherte strukturierte Patientenschu-
lung erforderlich. Das ist insbesondere auch bei Kindern und Jugendlichen
unter Einbeziehung des Lebensumfeldes dringend geboten, damit sie be-
greifen können, dass auch ein Leben mit Diabetes lebenswert ist und mit
geringen Einbußen geführt werden kann.

6. auf die gemeinsame Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen einzu-
wirken, dass über die Aufnahme der medizinischen Fußpflege für Diabeti-
ker in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkasse im Bundesaus-
schuss der Ärzte und Krankenkassen entschieden wird.

7. darauf hinzuwirken, dass der Versorgungsauftrag im Rahmen der hausärzt-
lichen Versorgung erfüllt wird und auf einer Kooperation von Haus- und
Fachärzten sowie Kliniken aufbaut, unter Hinzuziehung weiterer medizini-
scher Fachkräfte, wie z. B. medizinischer Fußpfleger und Ernährungsbera-
ter. Die durch die Gesundheitsreform 2000 eingeführten Integrationsver-
träge geben eine gute Basis für die sektorübergreifende Zusammenarbeit.
An der Versorgung können nur Fach- und Hausärzte teilnehmen, die sich
diabetesbezogen qualifiziert haben und kontinuierlich an anerkannten Fort-
bildungen und Qualitätszirkeln teilnehmen.

8. darauf hinzuwirken, dass bis Anfang 2001 der Koordinierungsausschuss,
der den gesetzlichen Auftrag hat, Kriterien für die zweckmäßige und wirt-
schaftliche Leistungserbringung zu bestimmen, Rahmenbedingungen einer
verbesserten Strukturqualität für die Verbesserung der Diabetikerversor-
gung schafft und dabei auch für eine einheitliche Dokumentation Sorge
trägt, um die externe Qualitätssicherung und die Transparenz zu verbes-
sern. Hierzu gehören auch Sanktionen bei Verstößen und Unterschreitun-
gen der Qualitätsvorgaben, die von der Absenkung der Vergütung bis zum
Entzug der speziellen Zulassung reichen können.

9. sich dafür einzusetzen, dass den beim Medizinischen Dienst der Spitzen-
verbände der Krankenkassen (MDS) bestehenden Kompetenz-/Evalua-
tionszentren bis zum Ende 2001 ein weiteres, bundesweit agierendes hin-
zugefügt wird und dieses den Auftrag erhält, Rahmenbedingungen für die
Versorgungsqualität weiterzuentwickeln, Strukturforschung zu veranlas-
sen, diese zu koordinieren und mit entsprechenden Kommissionen auf
Landesebene abzustimmen.

10. im Rahmen vorhandener Haushaltsmittel eine Kampagne durch die Bun-
deszentrale für Gesundheitliche Aufklärung über Diabetes und zur Propa-
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gierung eines gesunden Lebensstils durchzuführen, da Bewegungsmangel
und Fehlernährung die Hauptrisikofaktoren unter anderem auch für Diabe-
tes sind.

11. das Gesetzgebungsverfahren für die bundeseinheitliche Ausbildungsrege-
lung auf dem Gebiet der medizinischen Fußpflege (Podologengesetz) zügig
voranzutreiben und die Diabetesproblematik bei den anstehenden Novellie-
rungen von Berufsgesetzen für Medizinalfachberufe und den dazugehöri-
gen Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen (z. B. Krankenpflegegesetz)
mit berücksichtigt wird.

Berlin, den 11. Oktober 2000

Dr. Peter Struck und Fraktion
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und Fraktion

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