BT-Drucksache 14/4183

Einschätzung der gegenwärtigen Menschenrechts- und Minderheitensituation in der Türkei durch das Auswärtige Amt

Vom 26. September 2000


Deutscher Bundestag Drucksache 14/4183
14. Wahlperiode 26. 09. 2000

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS

Einschätzung der gegenwärtigen Menschenrechts- und Minderheitensituation
in der Türkei durch das Auswärtige Amt

Auch der jüngste Bericht des Auswärtigen Amtes (AA) über die asyl- und ab-
schiebungsrelevante Lage in der Türkei beschreibt – auch im Hinblick auf die
Gruppenverfolgung von Kurdinnen und Kurden – nicht hinreichend die derzei-
tige Realität der türkischen Politik im Bereich der Menschen- und Minderhei-
tenrechte. Das geltende Recht oder der Stand der Gesetzgebung im Bereich der
Menschenrechte in der Türkei wird durch das AA nicht grundsätzlich in Frage
gestellt.

Nicht erwähnt wird, dass das geltende türkische Recht strukturell erst die
Bedingungen für Folter, (z. B. die sog. Incommunicadohaft) schafft, oder die
mangelnden Möglichkeiten einer strafrechtlichen Verfolgung von Folterern be-
inhaltet. „Rund 152 Gesetze beschränken allein das Recht auf freie Meinungs-
äußerung, und die Verfassung zementiert ein ,Gesinnungsstrafrecht‘“ (vgl.
Presseerklärung von Pro Asyl, 27. Juli 2000).

Ebenso fordert der türkische Menschenrechtsverein (IHD) eine umfassende
Reformierung der türkischen Verfassung, die nach dem Militärputsch im Jahre
1980 in Kraft getreten ist. Zumindest müssen 75 Artikel aus der Verfassung, die
die persönlichen Freiheiten einschränken, geändert werden (dpa, 20. September
2000).

Die vom türkischen Parlament in letzter Zeit verabschiedeten Gesetze, wie
z. B. das Amnestiegesetz für Journalisten, sind lediglich eine Fassade scheinbar
demokratischer Rechtsentwicklung. Danach sollen Journalisten und Schriftstel-
ler, die wegen ihrer staatskritischen Meinungsäußerung inhaftiert worden sind,
entlassen werden, allerdings auf Bewährung. Äußert sich der auf Bewährung
Freigelassene erneut nicht staatskonform, kann er wieder verurteilt werden; die
Bewährung wird damit hinfällig, wie es z. B. im Falle der stellvertretenden
Vorsitzenden des IHD, E. K., geschah.

Sie wurde wegen ihrer Äußerungen im Rahmen der Menschenrechtsarbeit
strafrechtlich verfolgt und verurteilt. Im Jahre 1995 musste sie eine einjährige
Haftstrafe verbüßen. Weitere 45 Ermittlungsverfahren – die meisten von ihnen
basieren auf Verstößen gegen Artikel 58 des Vereinsgesetzes (unerlaubte
Presseerklärungen) – sind noch anhängig.

Eine nach dem Amnestiegesetz für Journalisten auf Bewährung ausgesetzte
Verurteilung auf der Grundlage des Artikels 8 des Anti-Terror-Gesetzes könnte
widerrufen werden, wenn E. K. nach dem nun eröffneten Strafverfahren – die

Drucksache 14/4183 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Hauptverhandlung beginnt am 5. Oktober 2000 – wegen „Beleidigung und
Verunglimpfung des Militärs“ verurteilt wird. E. K. drohen nach Artikel 159
des türkischen Strafgesetzbuches 1 bis 6 Jahre Haft.

E. K. hatte in einem Interview im November 1999 gesagt, dass das Militär die
bestimmende Kraft in der Türkei sei und eine Demokratisierung der Türkei zu
verhindern versuche. Die Strafanzeige wurde vom türkischen Generalstab er-
stattet.

Die Verfolgung von Kurdinnen und Kurden findet nach Angaben von türki-
schen Menschenrechtsorganisationen in Kurdistan wie auch in der Westtürkei
willkürlich statt.

In diesem Zusammenhang bleibt die türkische Rechtsprechung, nach der die
Existenz der Kurdinnen und Kurden geleugnet und ihnen jegliche politische,
soziale und kulturelle Artikulation verwehrt und unter Strafe gestellt wird (vgl.
Bundestagsdrucksache 14/2513), im Lagebericht des AA, wie auch in den ver-
gangenen Lageberichten, unerwähnt.

Ebenso unerwähnt bleibt, dass die türkische Regierung jeden Ansatz kurdischer
Selbstbestimmung und Vertretung verfolgt und verurteilt. Drei kurdische Bür-
germeister wurden nach einem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland
am 19. Februar 2000 verhaftet.

Menschenrechtsorganisationen, wie Amnesty International, weisen auf die
andauernden besorgniserregenden Menschenrechtsverletzungen in der Türkei
hin. Die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch prangert in
ihrem neuen Bericht die verbreitete Folter, die Einschränkung des Rechts auf
freie Meinungsäußerung sowie die Lage der Kurden an. Die Türkei habe in der
Vergangenheit Kritiker mit halbherzigen Maßnahmen und leeren Gesten be-
schwichtigt, so Human Rights Watch; daher müssten die EU-Staaten eindeutige
und messbare Vorgaben machen (AFP, 6. September 2000).

Dass eine Änderung in der Menschenrechts- und Kurdenpolitik der türkischen
Regierung nicht festzustellen ist, zeigen folgende aktuelle Ereignisse, die stell-
vertretend für die gängige Praxis in der Türkei genannt werden können:

 Das Büro des Menschenrechtsvereines in Diyarbakir wurde von türkischen
Sicherheitskräften am 12. August 2000 30 Minuten nach der Wiedereröff-
nung erneut geschlossen.

 Am 15. August bombardierten türkische Kampfflugzeuge in Südkurdistan
Siedlungen von Zivilisten. Dabei starben mehr als 40 Zivilisten.

 Die türkischen Behörden haben zwei kurdischen Kindern, die in Deutsch-
land geboren sind, nach einem Verwandtschaftsbesuch in der Türkei die
Ausreise verweigert, weil die Kinder unzulässige kurdische Vornamen tru-
gen (AFP, 31. August 2000).

 Zahlreiche HADEP-Mitglieder und Sympathisanten wurden im Vorfeld des
Weltfriedenstages am 1. September 2000 brutal geschlagen und verhaftet. In
mehreren Städten (wie z. B. in Diyarbakir, Izmir, Ankara) wurden von der
HADEP geplante Festveranstaltungen von türkischen Behörden verboten
(Özgür Politika, 2. September 2000).

 Der Nationale Sicherheitsrat der Türkei hatte in einer Erklärung erneut seine
Position in der Kurdenfrage dargelegt. Er hält Diskussionen über mehr kul-
turelle Rechte, wie z. B. kurdisches Fernsehen und kurdischen Unterricht,
für Zeitverschwendung (dpa, 5. September 2000).
Demokratisierungsforderungen der EU seien nach Ansicht der türkischen
Militärs subjektiv und überzogen, diese könnten zur Zerstörung der „natio-
nalen Einheit“ der Türkei führen (FR, 19. September 2000).

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/4183

 Die Organisation Reporter ohne Grenzen berichtete von der Verhaftung von
sechs prokurdischen Journalisten (KNA, 12. September 2000).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wurden Stellungnahmen von türkischen und internationalen Menschen-
rechtsorganisationen in dem Lagebericht des AA berücksichtigt?

Wenn ja, welche, in welcher Form und in welchen Bereichen?

2. Ist der Bundesregierung der o.g. Bericht von Human Rights Watch be-
kannt?

Wenn ja, welche Folgerungen zieht die Bundesregierung aus diesem Be-
richt?

3. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass das geltende türkische Recht im
Bereich der Menschenrechte internationalen Standards entspricht?

Wenn ja,

– welche Folgerungen zieht die Bundesregierung aus der oben genannten
Aussage von Pro Asyl, dass es 152 Gesetze in der türkischen Recht-
sprechung gibt, die die freie Meinungsäußerung einschränken und aus
der Aussage des türkischen Menschenrechtsvereines, der eine um-
fassende Änderung der Verfassung fordert,

– welche einzelnen Menschenrechtskriterien erfüllt nach Ansicht der
Bundesregierung die derzeitige türkische Rechtsprechung?

4. Welche Folgerungen zieht die Bundesregierung aus dem türkischen
Rechtssystem im Zusammenhang mit den kulturellen, politischen und so-
zialen Rechten von Kurdinnen und Kurden?

5. Welche eindeutigen und messbaren Vorgaben in Bezug auf Menschen- und
Minderheitenrechte haben die EU-Staaten nach Kenntnis der Bundesregie-
rung im Zusammenhang mit den Beitrittsverhandlungen an die Türkei ge-
stellt?

6. Welcher Zeitraum ist der türkischen Regierung zur Erfüllung der Kopen-
hagener Kriterien gesetzt worden?

7. Welche konkreten Verbesserungen sind nach Kenntnis der Bundesregie-
rung von der türkischen Regierung im Zusammenhang mit der Einhaltung
von Menschen- und Minderheitenrechten seit der Verleihung des EU-Kan-
didatenstatus eingeleitet bzw. erreicht worden?

8. Welche abschiebungsrelevanten Konsequenzen bezüglich der Abschiebun-
gen von kurdischen Flüchtlingen beabsichtigt die Bundesregierung aus
dem Lagebericht des AA zu ziehen?

9. Hat die Bundesregierung gegen das o.g. Verfahren, das gegen die stellver-
tretende Vorsitzende des Menschenrechtsvereines, E. K., am 5. Oktober
2000 eröffnet wird, bei den türkischen Behörden protestiert?

Wenn ja, wie lautet die Stellungnahme der türkischen Regierung?

Wenn nein, warum nicht?

10. Ist die Bundesregierung im Zusammenhang mit der Bombardierung von
kurdischen Zivilisten in Südkurdistan am 15. August 2000, bei der zahl-
reiche Menschen getötet wurden, bei der türkischen Regierung vorstellig
geworden?

Wenn nicht, warum nicht?

Drucksache 14/4183 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
Wenn ja, wie lautet die Stellungnahme der türkischen Regierung?

a) Hat die Bundesregierung im Rahmen der NATO das Vorgehen der türki-
schen Regierung kritisiert?

Wenn nein, warum nicht?

b) Ist die Bundesregierung informiert, welche Waffen bei der Bombardie-
rung eingesetzt wurden?

c) Kann ausgeschlossen werden, dass auch Waffen und Munition aus deut-
scher Produktion und mit deutschen Lizenzen verwendet wurden?

Wenn nein, was gedenkt die Bundesregierung dagegen zu tun?

d) Gedenkt die Bundesregierung im Rahmen der NATO gegen solches und
ähnliches Vorgehen des NATO-Partners Türkei etwas zu unternehmen?

Wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 21. September 2000

Ulla Jelpke
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.