BT-Drucksache 14/4132

Zehn Jahre Einheit Deutschlands

Vom 26. September 2000


Deutscher Bundestag Drucksache 14/4132
14. Wahlperiode 26. 09. 2000

Antrag
der Abgeordneten Sabine Kaspereit, Dr. Mathias Schubert, Ernst Bahr, Christel
Deichmann, Detlef Dzembritzki, Dr. Peter Eckardt, Rainer Fornahl, Peter Friedrich
(Altenburg), Iris Gleicke, Frank Hempel, Monika Heubaum, Jelena Hoffmann
(Chemnitz), Ingrid Holzhüter, Renate Jäger, Dr. Uwe Küster, Wilhelm Schmidt
(Salzgitter), Dr. Margrit Spielmann, Barbara Wittig, Dr. Peter Struck und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz (Leipzig), Kerstin Müller
(Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zehn Jahre Einheit Deutschlands

Der Bundestag wolle beschließen:

1. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Am 3. Oktober 1990 fand der Prozess der staatlichen Vereinigung Deutschlands,
der mit der Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 seinen Ausgang
genommen hatte, seinen Abschluss. Die Bürgerinnen und Bürger in der DDR hat-
ten zuvor in einer friedlichen Revolution das Regime der SED beseitigt und
damit auch den Weg frei gemacht für die schnelle Vereinigung Deutschlands in
einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat – der Verwirklichung eines Wun-
sches der meisten Menschen in Ost und West.
Allen Misstönen und Enttäuschungen zum Trotz ist die Entwicklung für die
Deutschen in Ost und West insgesamt sehr erfolgreich verlaufen. Leistungswille,
Kreativität und Flexibilität sind die Grundlagen für die großen Aufbauleistungen,
die vor allem von den Menschen in den neuen Ländern in den letzten Jahren er-
bracht worden sind und zu einem wachsenden Selbstbewusstsein geführt haben.
Mit der bemerkenswerten Bereitschaft der Westdeutschen zur Solidarität, zur
Hilfe und Engagement ist seither Vieles in den neuen Ländern auf den Weg ge-
bracht und erreicht worden. Die weitere Angleichung der Lebensverhältnisse in
ganz Deutschland ist Bedingung für die erfolgreiche Zukunft des vereinigten
Landes.
Der Lebensstandard der Ostdeutschen hat sich seit 1990 deutlich verbessert. Die
Löhne und Gehälter stiegen in nur wenigen Jahren um mehr als das Doppelte, die
Renten verdreifachten sich. Die verfügbaren Haushaltseinkommen sind zwi-
schenzeitlich auf mehr als 85 Prozent des Westniveaus gestiegen. Die Infrastruk-
tur wurde modernisiert und Staatsbetriebe wurden privatisiert. Die Investitions-
quote in allen Wirtschaftsbereichen der neuen Länder liegt deutlich über
derjenigen Westdeutschlands. 80 Prozent aller betrieblichen Anlagen sind neu-
wertig und wurden erst nach 1990 errichtet. Das Verarbeitende Gewerbe konnte
in den vergangenen Jahren den Aufholprozess gegenüber der westdeutschen In-
dustrie weiter fortsetzen.

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Das westdeutsche soziale Leistungsniveau konnte weitgehend ungeschmälert auf
die neuen Länder ausgedehnt werden. Bis 1999 wurden 760 000 Wohnungen neu
gebaut. Mehr als die Hälfte des bestehenden Wohnungsbestandes wurde moder-
nisiert. Die Wohneigentumsquote ist gestiegen. Die natürlichen Lebensgrund-
lagen der Menschen bekamen einen neuen Stellenwert, die Umweltbelastungen
wurden deutlich abgebaut.
Ostdeutschland ist zu einem integralen Bestandteil des europäischen Binnen-
marktes geworden und rückt durch die Osterweiterung der Europäischen Union
in die Mitte Europas. Dadurch eröffnen sich neue Chancen. Als zentrale Region
im zusammenwachsenden Europa bietet Ostdeutschland Standortvorteile für alle
Unternehmen, die die Märkte in den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern
erschließen wollen: mit der besten Infrastruktur Europas bei den Kommunikati-
onsnetzen, mit überregionalen Verkehrsverbindungen auf der Straße, auf der
Schiene und zu Wasser, mit engagierten, kundigen, gut ausgebildeten Arbeits-
kräften und einer modernen Forschungs- und Technologielandschaft.
Die neuen Länder können auf wirtschaftlichem Feld eine insgesamt erfolgreiche
Entwicklung verzeichnen. Es gibt gute Aussichten, dass die ostdeutsche Wirt-
schaft demnächst wieder schneller wächst als die westdeutsche. 1999 wuchs das
Bruttoinlandsprodukt der fünf neuen Länder mit plus 1,5 % erstmals wieder
gleich stark wie in Westdeutschland. In diesem Jahr wird es eine weitere Wachs-
tumsbeschleunigung geben. Triebfeder dieser Entwicklung ist das Verarbeitende
Gewerbe mit einem Produktionszuwachs in den letzten Jahren von durchschnitt-
lich 9 %. Zugleich stieg damit der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der
Gesamtwirtschaftsleistung. Er liegt erstmals seit 1990 wieder höher als der Anteil
der Bauwirtschaft, dem größten Wachstums- und Beschäftigungsträger der ersten
Jahre. Dank dieses positiven Strukturwandels bestehen gute Aussichten, dass sich
die Einkommensverhältnisse in Ost und West in den nächsten Jahren weiter an-
gleichen werden.
Dennoch ist der wirtschaftliche Transformationsprozess in Ostdeutschland noch
nicht abgeschlossen. Besonders bedrückend bleibt die hohe Arbeitslosigkeit, die
im letzten Jahr doppelt so hoch war wie in Westdeutschland. Allerdings wächst
die Zahl der rentablen Arbeitsplätze, insbesondere im Verarbeitenden Gewerbe.
Die Arbeitslosigkeit ging 1999 im Durchschnitt um 2 % zurück. Erstmals in die-
sem Jahr ist auch eine Zunahme der betrieblichen Ausbildungsplätze zu verzeich-
nen.
Entscheidend für die wirtschaftliche Zukunft der neuen Länder ist es, das vorhan-
dene Leistungspotenzial zu entfalten und im Wettbewerb zur Geltung zu bringen.
Im Vordergrund stehen hierbei insbesondere die weitere Stärkung der Innovati-
onsfähigkeit der Unternehmen, der weitere Ausbau der Infrastruktur sowie die
Qualifizierung von Jugendlichen und Arbeitnehmern. Angesichts der überwie-
gend mittelständischen Unternehmensstruktur in den neuen Ländern ist die För-
derung von Netzwerken ein entscheidendes Element im wirtschaftlichen Ent-
wicklungsprozess.
Neuartige wettbewerbliche Fördermodelle, die weit über das unmittelbare finan-
zielle Engagement des Staates hinaus Motivation und Leistungsbereitschaft der
beteiligten Unternehmen und Verwaltungen stimulieren, sind zu erproben und
weiterzuentwickeln. Es geht dabei darum, vorhandene wirtschaftliche Potenziale
durch eine stärkere Vernetzung von privaten und öffentlichen Innovationsaktivi-
täten besser zu nutzen. Ziel ist es regionale Kompetenzzentren zu entwickeln, die
selbsttragende regionale Entwicklungsprozesse erzeugen. Mit dem InnoRegio-
Projekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung wurden hier bereits
wertvolle Erfahrungen gesammelt.
Die Förderpräferenzen für die neuen Länder müssen auch weiterhin bestehen
bleiben. Bei der notwendigen differenzierten Förderung Ostdeutschlands hat die
Bundesregierung neue Akzente gesetzt. Diese bedarf der ständigen Prüfung und

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Optimierung. Es gilt, hierzu fähige Unternehmen schrittweise in den Markt zu
entlassen und strukturellen Fehlentwicklungen durch eine Verfestigung von För-
dermaßnahmen vorzubeugen.
Wegen der nach wie vor geringen Forschungspotenziale in der privaten Wirt-
schaft kommt auch in Zukunft der Pflege der universitären und außeruniversi-
tären Forschungslandschaft eine besondere Bedeutung zu. Forschungspolitik ist
ein unverzichtbarer, integraler Bestand regionaler Entwicklungskonzepte. Das
öffentliche Engagement auf hohem Niveau bleibt deshalb weiterhin unverzicht-
bar.
Zu einer ehrlichen Bilanz des schwierigen Transformationsprozesses gehört
gleichwohl die Tatsache, dass zehn Jahre nach der Wiederherstellung der staatli-
chen Vereinigung die innere Einheit Deutschlands nicht vollendet ist. Entschei-
dend dazu beigetragen hat, dass die vorhergehende Bundesregierung aus Unver-
mögen, Opportunismus und wahltaktischem Kalkül die Menschen in Ost und
West auf die tiefgreifenden Konsequenzen des Scheiterns des Sozialismus und
des schnellen Übergangs zu Demokratie und Marktwirtschaft getäuscht hat. Dies
hat es den Deutschen in Ost und West schwerer als nötig gemacht, die deutsche
Einheit uneingeschränkt als einen Glücksfall in unserer gemeinsamen Geschichte
zu empfinden.
In den nächsten Jahren kommt es darauf an, das Erreichte zu sichern und es
gleichzeitig mit neuen Ideen und Instrumenten auszubauen, um die Wegstrecke
bis zur Verwirklichung gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Teilen des
Bundesgebietes zu verkürzen. Die nach wie vor zu hohe Arbeitslosigkeit zu über-
winden und hunderttausende neuer produktiver Arbeitsplätze zu schaffen, kommt
dabei weiterhin vorrangige Bedeutung zu. Auch wenn dieses Ziel nicht kurzfris-
tig zu verwirklichen ist, bleiben Staat und Tarifvertragsparteien aufgerufen, in ih-
rem jeweiligen Verantwortungsbereich für deutlich mehr Wachstum und Be-
schäftigung zu sorgen. Eine beschäftigungsfördernde Tarifpolitik sollte auch
durch die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen erleichtert wer-
den.
Treibräder der wirtschaftlichen Dynamik sind und bleiben kleine und mittlere
Unternehmen, insbesondere der innovative Mittelstand. Der konjunkturelle Auf-
schwung muss in den neuen Ländern für eine neue Existenzgründungswelle ge-
nutzt werden. Der Anteil Ostdeutschlands am privaten und öffentlichen Beteili-
gungskapitalmarkt ist überproportional zu erhöhen.
Zur Sicherung der finanzwirtschaftlichen Grundlagen der neuen Länder und ihrer
Gemeinden, zur Finanzierung des infrastrukturellen Nachholbedarfs und zur wei-
teren Angleichung der Lebensverhältnisse ist die Fortsetzung des im Rahmen des
föderalen Konsolidierungsprogramms von 1993 geschlossenen Solidarpakts zwi-
schen Bund und Ländern über das Jahr 2004 hinaus zwingend erforderlich. Des-
halb ist es zu begrüßen, dass alle Regierungschefs von Bund und Ländern am 15.
Juli 2000 in Berlin einvernehmlich feststellten, dass der Aufbau Ost als gesamt-
staatliche Aufgabe ein zentrales Element der solidarischen Finanzpolitik von
Bund und Ländern bleibt. Damit sowohl für die neuen Länder und ihrer Gemein-
den als auch für die langfristige Orientierung privater Investoren sichere Pla-
nungsgrundlagen geschaffen werden, sollte der Deutsche Bundestag die Neure-
gelung der bundesstaatlichen Finanzbeziehungen einschließlich des Solidarpakts
II noch in der laufenden Legislaturperiode beschließen.
Entscheidend wird es auch für Ostdeutschland darauf ankommen, den Initiativen
der Bundesregierung zur Überwindung des innenpolitischen Reformstaus in
Deutschland zum Erfolg zu verhelfen. Dadurch werden die Bedingungen für
mehr Wachstum und mehr Beschäftigung in Deutschland weiter verbessert. Da-
von werden die neuen Länder besonders profitieren. Die Menschen brauchen die
Chancengleichheit, um ihren Leistungswillen und ihr Leistungsvermögen erfolg-
reich einbringen zu können.

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Zehn Jahre nach der staatlichen Vereinigung ist die Demokratie auch in den
neuen Ländern zur selbstverständlichen Grundlage des politischen Lebens ge-
worden. Für die große Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland gibt es dazu
keine Alternative. Trotzdem sind Demokratieverdruss, Ablehnung von Rechts-
staat und Gesellschaft gerade im Osten Deutschlands weit verbreitet, die Wahler-
gebnisse für Rechtsradikale und Neofaschisten sind dafür Alarmsignale. Wir sind
sehr alarmiert über die hohe Zahl ausländerfeindlicher und anderer rechtsradika-
ler Übergriffe in Ostdeutschland. Dieser Terror ist menschenverachtend, unserem
demokratischen Gemeinwesen abträglich und behindert die wirtschaftliche Ent-
wicklung.
Die Auseinandersetzung mit und die Bekämpfung des Rechtsextremismus muss
ein politischer Schwerpunkt sein. Für die Zukunft gilt es, das Vertrauen in die De-
mokratie zu stärken und die demokratische Substanz unserer Gesellschaft zu fes-
tigen. Die Förderung der Toleranz, die Achtung von Minderheiten und Stärkung
ihrer Rechte sind weitere Leitziele unserer Politik. Es bezeichnet einen deutlichen
politischen Klimawechsel, dass sich die rot-grüne Bundesregierung mit Nach-
druck dieses Themas annimmt.

2. Der Deutsche Bundestag unterstützt die Bundesregierung bei allen Initiati-
ven, die der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West und dem
Abbau der Arbeitslosigkeit sowie der Entwicklung zukunftsfähiger Wirt-
schaftsstrukturen, einer Bildungs- und Forschungslandschaft auf internatio-
nalem Niveau, einer intakten Infrastruktur und der Stärkung der demokrati-
schen Kultur dienen. Dazu zählen insbesondere:

● noch in der 14. Legislaturperiode den Länderfinanzausgleich zu vereinbaren
und den Solidarpakt II zu beschließen;

● das Wirtschaftspotenzial in den neuen Ländern durch die Konzentration der
Mittel auf den Ausbau der Infrastrukturen, der Förderung von Innovationen,
Investitionen sowie Bildung und Forschung weiter zu entwickeln;

● die zielgenaue Förderung regionaler Netzwerke und Kompetenzen zur Ver-
besserung der Chancen auf den Märkten der Zukunft;

● die Absatzförderung ostdeutscher Produkte und Leistungen fortzuführen;
● die Förderkulisse der Kredit- und Zuschussprogramme effizienter und über-

sichtlicher zu gestalten;
● den Strukturwandel zu nutzen, um ökologische Zukunftsbranchen zu ent-

wickeln;
● die Unterstützung der strukturschwachen, grenznahen Regionen vor dem

EU-Beitritt der osteuropäischen Nachbarstaaten; es gilt, in grenzüberschrei-
tenden, gemeinsamen Regionalentwicklungskonzepten Kooperationen von
Unternehmen, Verwaltungen und Bildungseinrichtungen zu fördern;

● Fortführung des JUMP-Programms zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosig-
keit und des Sonderprogramms Lehrstellen Ost, um möglichst jedem Ju-
gendlichen ein Berufsausbildungsverhältnis anzubieten;

● eine aktive Arbeitsmarktpolitik und die Entwicklung neuer Beschäftigungs-
modelle, um damit den Arbeitsmarkt weiterhin zu entlasten;

● Maßnahmen zur Förderung von Mädchen und Frauen in allen Bereichen der
Gesellschaft;

● ein Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Ge-
walt – für die Umsetzung der Werte und Garantien unseres sozialen und
demokratischen Rechtsstaates.

Berlin, den 26. September 2000

Dr. Peter Struck und Fraktion
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und Fraktion

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