BT-Drucksache 14/3506

Zukunft der sozialen Pflegeversicherung

Vom 6. Juni 2000


Deutscher Bundestag Drucksache 14/3506
14. Wahlperiode 06. 06. 2000

Antrag
der Abgeordneten Ulf Fink, Eva-Maria Kors, Aribert Wolf, Wolfgang Zöller, Horst
Seehofer, Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid), Dr. Wolf Bauer, Dr. Sabine Bergmann-
Pohl, Dr. Hans Georg Faust, Hubert Hüppe, Dr. Harald Kahl, Erika Reinhardt,
Heinz Schemken, Annette Widmann-Mauz und der Fraktion der CDU/CSU

Zukunft der sozialen Pflegeversicherung

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

A.

1. Die soziale Pflegeversicherung als neuer eigenständiger Zweig der Sozial-
versicherung (5. Säule) wird von der Bevölkerung als große soziale Errun-
genschaft empfunden. Denn obwohl durch die Einführung der Krankenkas-
senleistungen bei häuslicher Pflege durch das Gesundheitsreformgesetz
1988, Steuererleichterungen für Pflegebedürftige und Pflegepersonen auf-
grund der Steuerreform 1990 und Berücksichtigung von Pflegezeiten in der
Rentenversicherung mit der Rentenreform 1992 Fortschritte zugunsten der
Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen erzielt worden waren, war die so-
ziale Absicherung von Pflegebedürftigen immer noch nicht befriedigend
geregelt. Mit der sozialen Pflegeversicherung ist die Situation der Pflege-
bedürftigen und ihrer Angehörigen entscheidend verbessert worden. Das Ri-
siko der Pflegebedürftigkeit wird nunmehr wie das Risiko der Krankheit,
des Alters, des Unfalls und der Arbeitslosigkeit sozial abgesichert.

Eines der Hauptziele der Pflegeversicherung ist es, die aus der Pflegebedürf-
tigkeit entstehenden physischen, psychischen und finanziellen Belastungen
zu mildern. Sie soll eine Grundversorgung auf der Basis eines Beitragssatzes
von 1,7 Prozent sicherstellen, die im Regelfall ausreicht, die pflegebeding-
ten Aufwendungen abzudecken, und damit gewährleisten, dass in der weit
überwiegenden Zahl der Fälle die Betroffenen aufgrund der Pflegebedürftig-
keit nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen sind. Die Pflegeversicherung soll
darüber hinaus der demographischen Entwicklung Rechnung tragen und
dazu beitragen, dass die Pflegeinfrastruktur in der Bundesrepublik Deutsch-
land weiter auf- und ausgebaut wird. Die Leistungen der Pflegeversicherung
orientieren sich an den Grundsätzen „Prävention und Rehabilitation vor
Pflege, ambulante vor stationärer Pflege und teilstationäre vor vollstationä-
rer Pflege“.

Die soziale Pflegeversicherung hat seit ihrer Einführung beachtliche Erfolge
in der Versorgung pflegebedürftiger Personen zu verzeichnen. So werden
derzeit rd. 1,9 Millionen Pflegebedürftige unterstützt, davon 550 000 Perso-
nen in Heimen. In der Pflegeinfrastruktur stehen rd. 13 000 ambulante

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Dienste sowie ca. 8 600 vollstationäre Einrichtungen zur Verfügung. Für
etwa 600 000 häusliche Pflegepersonen zahlt die Pflegeversicherung Ren-
tenversicherungsbeiträge von insgesamt ca. 2,2 Mrd. DM. Die Sozialhilfe ist
bei der Hilfe zur Pflege seit 1994 um rd. 10 Mrd. DM jährlich entlastet wor-
den. Das gesamte Leistungsvolumen der Pflegeversicherung beläuft sich
derzeit auf etwa 32 Mrd. DM jährlich.

2. Obwohl die soziale Pflegeversicherung äußerst erfolgreich seit ihrer Einfüh-
rung vor 5 Jahren ist, ist sie nicht ohne Mängel. Berichte in den Medien über
Vernachlässigungen, Misshandlungen und unterlassene Hilfeleistungen in
der Pflege haben in den vergangenen Monaten die Öffentlichkeit aufge-
schreckt und signalisieren Handlungsbedarf. Die Pflege von hilfsbedürftigen
Menschen ist eine ethisch und moralisch verantwortungsvolle gesellschaft-
liche Aufgabe, die im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten von der so-
zialen Pflegeversicherung zu leisten ist. Die Altenpflege darf nicht durch
finanzielle Interessen und Fehlverhalten einzelner Leistungserbringer in
Misskredit gebracht werden. Der Gesetzgeber ist gehalten, solche Miss-
stände frühzeitig zu erkennen und abzustellen. Pflegebedürftige und ihre
Angehörigen sind häufig nicht in der Lage, bei Fehlverhalten ihre Rechte
geltend zu machen und durchzusetzen. Hier müssen sie durch geeignete
Maßnahmen der Leistungsträger unterstützt werden. Aber auch Ärzte und
Pflegekräfte sind häufig durch zu hohe bürokratische Anforderungen und
durch die Belastung, die die Pflege mit sich bringt, überfordert. Hier muss
durch Verbesserung der Qualifikation und Zahl der Fachkräfte gegengesteu-
ert werden.

3. Auch die Versorgung von Demenzkranken ist nicht ausreichend. Als miss-
lich wird von den betroffenen Angehörigen und der Deutschen Alzheimer
Gesellschaft vor allen Dingen empfunden, dass die allgemeine Betreuung
der Demenzkranken noch immer nicht als Verrichtung im Begriffskatalog
der Pflegeversicherung enthalten ist. Damit erhalten ca. 50 000 an Demenz
erkrankte Personen keine Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung.
Nach Berechnungen des Kieler Instituts für Gesundheitssystemforschung le-
ben derzeit etwa 1,2 bis 1,6 Millionen Demenzkranke in Deutschland. Da-
von würden über 80 % derzeit zu Hause betreut. Es ist davon auszugehen,
dass die Zahl der an Demenz erkrankten Personen in den nächsten 30 Jahren
auf 1,9 bis 2,5 Millionen steigen wird. Mit Zunahme der Zahl von Demenz-
erkrankungen wird das gesellschaftspolitische Interesse an der Situation der
Betroffenen und ihrer Angehörigen weiter wachsen. Aus diesem Grunde ist
es geboten, Demenzkranke, die in einem bestimmten Umfang der all-
gemeinen Betreuung bedürfen, in die soziale Pflegeversicherung einzube-
ziehen.

4. Die finanzielle Entwicklung der sozialen Pflegeversicherung verlief in der
Vergangenheit positiv. Beim Regierungswechsel im Herbst 1998 verfügte
die soziale Pflegeversicherung mit 9,7 Mrd. DM über ein solides finanziel-
les Fundament. Allerdings bauen sich diese Überschüsse in der Pflegeversi-
cherung ab, weil aufgrund eines Anstiegs der Zahl der Pflegebedürftigen
und einer Verlagerung der Leistungen vom ambulanten in den stationären
Sektor der Ausgabenzuwachs deutlich stärker ausfällt als der Einnahmenzu-
wachs. So wurde 1999 erstmals kein Überschuss mehr erzielt. Für das Jahr
2000 erwartet das Bundesministerium für Gesundheit sogar ein Defizit in
Höhe von 530 Mio. DM; für das Jahr 2001 wird mit einem Defizit von
660 Mio. DM gerechnet.

Angesichts dieser Sachlage ist es nicht hinnehmbar, dass die Beiträge der
Arbeitslosenhilfebezieher aufgrund der geänderten Bemessungsgrundlage
von der Bundesregierung abgesenkt werden und auf diese Weise der sozia-

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len Pflegeversicherung jährlich Einnahmen in Höhe von 400 Mio. DM ver-
loren gehen. Weitere Einnahmeverluste erleidet die soziale Pflegeversiche-
rung durch die Aussetzung der nettolohnbezogenen Rentenanpassung.
Durch diese Maßnahme der Bundesregierung fehlen weitere 240 Mio. DM
in den Pflegekassen.

B.

Zur Stabilisierung der Ziele und des Schutzzweckes der sozialen Pflegever-
sicherung sind eine Reihe von Maßnahmen notwendig:

1. Zunächst einmal ist die Absenkung der Beiträge für Empfänger von Arbeits-
losenhilfe, die im Rahmen des Haushaltssanierungsgesetzes 1999 erfolgte,
wieder rückgängig zu machen. Damit stünden der sozialen Pflegeversiche-
rung jährlich 400 Mio. DM an Mehreinnahmen zur Verfügung.

2. Die Bundesregierung legt bei ihren Berechnungen für Leistungsverbesse-
rungen zugunsten von Demenzkranken und deren Angehörigen ein Finanz-
volumen von 500 Mio. DM zugrunde. Zusammen mit der Aufhebung der
Absenkung der Beiträge für Arbeitslosenhilfebezieher könnte also mindes-
tens ein Betrag in Höhe von 900 Mio. DM zugunsten von Demenzkranken
und ihren Angehörigen bereit gestellt werden. Dieser Betrag ist vordringlich
für die Einbeziehung von Personen zu nutzen, die an Demenz erkrankt sind,
bisher aber nicht in den Schutz der sozialen Pflegeversicherung gelangen,
weil die Betreuung der Demenzkranken nicht als Verrichtung im Begriffs-
katalog der Pflegeversicherung enthalten ist. Um auch Demenzkranke, die in
einem bestimmten Umfang der allgemeinen Betreuung bedürfen, einzube-
ziehen, ist ein Hilfebedarf für die allgemeine Beaufsichtigung und Betreu-
ung in zeitlich begrenztem Umfang zu gewähren, zumindest jedoch eine
individuell am Bedarf ausgerichtete Inanspruchnahme von ehrenamtlichen
Helfern und häuslichen Diensten zur allgemeinen Betreuung und Beaufsich-
tigung von Demenzkranken zu ermöglichen. Damit kann auch eine Entlas-
tung der physisch und psychisch oftmals sehr stark belasteten Angehörigen
von Demenzkranken erreicht werden.

Der von der Bundesregierung verfolgte Ansatz, Angehörige von Pflege-
bedürftigen durch die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer Tagespflege
1 Mal pro Woche zu entlasten, ist nur dann vertretbar, wenn das Herausrei-
ßen aus dem gewohnten Umfeld nicht zur Leistungsvoraussetzung gemacht,
sondern ein ausreichender Pauschalbetrag gewährt wird, der es ermöglicht,
entweder die Hilfe in einer Tagespflege oder eine Unterstützung der Hilfe zu
Hause in Anspruch zu nehmen.

3. Weitere Mittel in Höhe von rd. 1,4 Mrd. DM lassen sich in der sozialen
Pflegeversicherung durch die Verlagerung der Kosten für medizinische Be-
handlungspflege bei stationärer Unterbringung in die gesetzliche Kranken-
versicherung mobilisieren. Mehrbelastungen der gesetzlichen Krankenver-
sicherung sind durch geeignete Kompensationsmaßnahmen zu vermeiden.

4. Verbesserungen der Qualität pflegerischer Leistungen setzen voraus, dass
die insoweit einschlägig geltenden Regelungen des Heimgesetzes, des SGB
XI und des BSHG harmonisiert werden. Dies schließt eine Überprüfung der
Begrifflichkeiten ein. SGB XI, BSHG und Heimgesetz müssen zeitgleich
und aufeinander abgestimmt novelliert werden. Allerdings darf die notwen-
dige Harmonisierung nicht zu einer Vermischung der rechtssystematisch zu
trennenden Regelungskreise von Ordnungsrecht und Leistungsrecht führen.
Deshalb müssen die Aufgabenkreise exakt definiert werden. Die Mindest-
standards werden durch das Ordnungsrecht (Heimgesetz) vorgegeben; im
Rahmen leistungsrechtlicher Vereinbarungen können weitergehende Festle-
gungen getroffen werden.

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5. Die bekannt gewordenen Defizite im Bereich der vollstationären Pflege
haben gezeigt, dass die Kontrollinstrumente und -möglichkeiten von Heim-
aufsicht und Pflegekassen nur ungenügend sind. Deshalb soll es Sozialhilfe-
trägern, Heimaufsicht und den Pflegekassen einschließlich Medizinischem
Dienst der Krankenversicherung ermöglicht werden, örtliche und überört-
liche Arbeitsgemeinschaften mit dem Ziel zu bilden, die Koordination zu
verbessern und Synergieeffekte zu nutzen. Damit ein Austausch der dabei
gewonnenen Daten unter den Beteiligten möglich ist, ist für diese eine ver-
lässliche gesetzliche Grundlage zu schaffen.

6. Um Defiziten bei der Erbringung von pflegerischen Leistungen bei der voll-
stationären Pflege wirkungsvoll entgegenwirken zu können, ist der Heim-
aufsicht und dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung das Recht
einzuräumen, gemeinsame Kontrollen jederzeit und ohne Anmeldung
durchzuführen.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

in den Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf einzubringen und damit

1. die Absenkung der Bemessungsgrundlage für die Beiträge der Arbeitslosen-
hilfebezieher wieder rückgängig zu machen;

2. die medizinische Behandlungspflege in Heimen aus der sozialen Pflegever-
sicherung auszugliedern und sachgerechterweise in die gesetzliche Kranken-
versicherung zu überführen;

3. den Begriff der Verrichtung im SGB XI so zu erweitern, dass die Einbe-
ziehung von Demenzkranken, die in einem bestimmten Umfang der allge-
meinen Betreuung bedürfen, ermöglicht und dabei vorrangig gewährleistet
wird, dass der Hilfebedarf für die allgemeine Betreuung und Beaufsichti-
gung von Demenzkranken in zeitlich begrenztem Umfang anerkannt wird;
zumindest den Angehörigen von Demenzkranken nicht der Gang in die Ta-
gespflege vorgeschrieben, sondern ihnen alternativ ermöglicht wird, ehren-
amtliche Helfer oder ambulante Dienste in der häuslichen Umgebung in An-
spruch zu nehmen;

4. die geltenden Leistungsgesetze (Heimgesetz, SGB XI und BSHG) miteinan-
der zu harmonisieren und dabei die Aufgabenkreise gegeneinander abzu-
messen;

5. Mindeststandards für die Sicherung der Qualität in Pflegeheimen im Ord-
nungsrecht (Heimgesetz) vorzuschreiben und ergänzende leistungsrechtli-
che Vereinbarungen zu ermöglichen;

6. die Bildung von örtlichen und überörtlichen Arbeitsgemeinschaften von
Pflegekassen, Medizinischem Dienst, Sozialhilfeträgern, Heimaufsicht und
Pflegeheimen mit dem Ziel zu ermöglichen, die Koordination zu verbessern
und Synergieeffekte zu nutzen;

7. der Heimaufsicht und dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung
das uneingeschränkte Recht zu erteilen, gemeinsame Kontrollen jederzeit
und ohne vorherige Anmeldung durchführen zu können.

Berlin, den 6. Juni 2000

Friedrich Merz, Michael Glos und Fraktion

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