BT-Drucksache 14/3220

Förderung sozialer und politischer Aktivitäten für türkische und kurdische Migrantenkinder und der Einmfluss fundamentalistischer Organisationen

Vom 12. April 2000


Deutscher Bundestag

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14. Wahlperiode

12. 04. 2000

Kleine Anfrage

der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS

Förderung sozialer und politischer Aktivitäten für türkische und kurdische
Migrantenkinder und der Einfluss fundamentalistischer Organisationen

Die jahrzehntelange Diskriminierung von Migrantinnen und Migranten insbe-
sondere aus Nicht-EU-Staaten, die Nichtbeachtung ihrer Probleme und Anlie-
gen, die Verweigerung ihrer gleichberechtigten Integration haben zu einer Fülle
von Problemen unter den hier lebenden Migrantinnen und Migranten geführt.
Auch wenn inzwischen die Zahl der Migrantinnen und Migranten mit deut-
scher Staatsbürgerschaft langsam zunimmt, leben viele von ihnen in Stadtvier-
teln mit schlechter Wohnqualität, hoher Armut und Arbeitslosigkeit. Die schu-
lische Ausbildung, die öffentlichen Angebote für sportliche und kulturelle
Betätigung sind vielfach weit unter dem gesellschaftlichen Durchschnitt. Ent-
sprechend hoch ist die Quote von Schulabbrechern oder Jugendlichen mit ge-
ringem oder gar keinem schulischem Abschluss, fehlender Berufsausbildung
und schlechten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt.

Diese vielen Probleme und die jahrelange Zurückweisung bzw. Ignorierung
von Anliegen dieser Menschen haben die Ausbreitung fundamentalistischer
und rechter Gruppierungen unter jugendlichen Migrantinnen und Migranten
begünstigt.

Eine dieser Organisationen ist die der türkischen „Tugendpartei“ nahestehende
fundamentalistische Organisation Milli Görüs. Laut „taz“ vom 21. Februar
2000 ist die 1976 gegründete Milli Görüs eine Auslandsorganisation des
ehemaligen türkischen Ministerpräsidenten und Islamistenführers Necmettin
Erbakan, der in der Türkei die Errichtung einer islamischen Staats- und Gesell-
schaftsordnung anstrebt.

Teile der hier lebenden Migrantenfamilien sehen in der Milli Görüs eine Alter-
native, die ihre Kinder vor dem völligen Abrutschen ins Abseits in der deut-
schen Gesellschaft bewahren könne.

Die türkische Tageszeitung „Cumhuriyet“ veröffentlichte am 20. März 2000 ei-
nen Bericht über die Organisation Milli Görüs (Nationale Sicht), die derzeit in
der Bundesrepublik Deutschland in den in 350 Moscheen untergebrachten Kin-
der-Clubs mehr als 3 000 Kinder im Alter von 4 bis 12 Jahren erziehe. Die Zei-
tung zitiert in ihrem Bericht einen an der Berliner Humboldt-Universität leh-
renden Professor mit den Worten: „Wenn wir die Islamisten von außen
betrachten, erwecken sie den Anschein, sie würden Demokratie, Menschen-
rechte und Laizismus respektieren. Doch intern propagieren sie einen Staat auf
religiöser Basis. Da der Islam den Laizismus nicht respektiert, sind sie gezwun-
gen, doppelgleisig zu fahren.“
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Seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes am 23. Februar 2000, das der
mit der Milli Görüs sehr eng verflochtenen Islamischen Föderation die Berech-
tigung zur Erteilung des Islamunterricht an den öffentlichen Schulen zuer-
kannte, befindet sich die Milli Görüs nach diesem Zeitungsbericht derzeit in der
gesamten Bundesrepublik Deutschland in einer neuen auf Frauen, Kinder und
Jugendlichen bezogenen Organisierungstätigkeit.

Die Milli Görüs verfügt nach dem oben genannten Bericht der „Cumhuriyet“
über mehrere Erziehungs- und Bildungszentren, darunter ein im Jahre 1986 in
Bergkamen bei Dortmund eröffnetes Mädchenkolleg, ein 1992 in Belgien ge-
gründetes Institut ibn-i Sina, das Berliner Islamkolleg und ein in Daun jüngst
eröffnetes Erziehungszentrum. Zudem werden hunderte von Erziehungszentren
und -camps betrieben. Die Kinder-Clubs sind nach Auffassung der Zeitung
Vorbereitungsorte für die genannten Erziehungszentren. (Quelle: „Cumhu-
riyet“, 20. März 2000)

Die Organisation Milli Görüs hat nach Berichten der „taz“ etwa 160 000 Mit-
glieder und versucht mit Hilfe von Tarn- und Tochterorganisationen, eine syste-
matische Islamisierung der in Europa lebenden Moslems zu betreiben. Zu die-
sen Tochterorganisationen gehöre u. a. die Islamische Föderation in Berlin.
Milli Görüs steht unter Beobachtung einiger Landesämtern für Verfassungs-
schutz (Quelle: taz, 21. Februar 2000 und 24. Februar 2000).

Milli Görüs geht es nicht um die Vermittlung und Pflege von religiösen Be-
kenntnissen im privaten Bereich, sondern um die Durchsetzung von gesell-
schaftlichen und politischen Zielen.

„In einem Umfeld mit anderen Religionen und anderen Kulturen müssen wir
die muslimischen Kinder schützen. Um sie vor den Fallen der fremden Kultur
und des unmoralischen Lebenswandels zu schützen, müssen wir noch mehr
Opfer bringen“, so der Milli Görüs-Vorsitzende bei einem Besuch der Schu-
lungseinrichtung in Belgien. (taz, 21. Februar 2000).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über das Ausmaß von Bil-
dungsaktivitäten von fundamentalistischen Organisationen in der Bundesre-
publik Deutschland unter türkischen und kurdischen Migrantenkindern?

2. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die fundamentalistischen
Organisationen eine auf islamischen Grundsätzen basierende Gesellschafts-
ordnung und Intoleranz gegenüber anderen religiösen, sozialen und politi-
schen Gruppen vertreten?

3. Welche Maßnahmen beabsichtigt die Bundesregierung einzuleiten, um die
Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche durch fundamentalistische
Organisationen zu prüfen?

4. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Einfluss von funda-
mentalistischen Organisationen auf türkische und kurdische Migrantenfami-
lien in der Bundesrepublik Deutschland?

5. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass fundamentalistische Orga-
nisationen vor allem aufgrund der oben beschriebenen sozialen und politi-
schen Situation von Migrantenfamilien an Einfluss gewinnen und dass bei
Verbesserung dieser Situation dieser Einfluss zurückgehen wird?

6. Welche religiösen und nichtreligiösen türkischen Organisationen erhalten
seit dem Haushaltsjahr 1995 in welcher Höhe Mittel für Projektaktivitäten
mit Migranten und Flüchtlingen aus der Türkei (bitte nach Jahr, Höhe, je-
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weiliger Organisation und nach Art der Maßnahme und dafür zur Verfügung
gestellten Mitteln aufschlüsseln)?

7. Welche kurdischen Organisationen und Gruppen erhalten seit dem Haus-
haltsjahr 1995 Bundesmittel für Projekte mit Migranten und Flüchtlingen
aus der Türkei (bitte nach Jahr, Höhe, Organisation und finanzierten Maß-
nahmen auflisten)?

8. Welche langfristigen Maßnahmen hat die Bundesregierung eingeleitet oder
beabsichtigt sie in nächster Zeit einzuleiten, um die Integration, die Bil-
dungs- und Ausbildungssituation türkischer und kurdischer Jugendlicher,
die Wohnsituation und ihre Arbeitsmarktaussichten zu verbessern und beste-
hende Diskriminierungen der Jugendlichen und ihrer Familien abzubauen?

Berlin, den 12. April 2000

Ulla Jelpke,
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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