BT-Drucksache 14/2824

Flughafenverfahren nach § 18a Asylverfahrensgesetz

Vom 22. Februar 2000


Deutscher Bundestag

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14. Wahlperiode

22. 02. 2000

Kleine Anfrage

der Abgeordneten Ulla Jelpke, Rosel Neuhäuser und der Fraktion der PDS

Flughafenverfahren nach § 18a Asylverfahrensgesetz

Flüchtlinge, die nach Deutschland einreisen wollen, können nur dann Asyl be-
antragen, wenn sie nicht über ein so genanntes Sicheres Drittland eingereist
sind. Bei Flüchtlingen, die auf dem Luftweg kommen, gibt es die Flughafen-
regelung nach § 18a Asylverfahrensgesetz (AsylVfG), demzufolge vor der
Einreise geprüft wird, ob ein Asylantrag berechtigt oder unberechtigt ist. Für
diese Prüfung haben die Verwaltungsgerichte 19 Tage Zeit, während die
Flüchtlinge im Transitbereich der Flughäfen bleiben müssen. Flüchtlinge, de-
nen die Einreise untersagt wird, die jedoch nicht freiwillig zurückkehren und
aufgrund der Umstände in ihren Herkunftsländern nicht abgeschoben werden
können, werden vor die Wahl gestellt, dem Haftrichter vorgeführt zu werden
und – in der Regel – anschließend in Abschiebehaft zu kommen oder ein
Formular zu unterschreiben, demzufolge sie freiwillig im Flughafenverfahren
bleiben. Widerrufen sie diese Freiwilligkeit, werden sie ebenfalls dem Haft-
richter vorgeführt.

Im Unterschied zur Abschiebehaft, die eine zeitliche Obergrenze hat und wäh-
rend deren Verlauf es zu Haftprüfungen kommen kann, ist der Verbleib im
Flughafenverfahren und den dortigen Unterkünften nicht zeitlich limitiert, da
sich die Menschen hier ja „freiwillig“ befinden. Davon sind auch minderjährige
unbegleitete Flüchtlinge nicht ausgenommen, vor allem dann nicht, wenn sie
über 16 Jahre alt sind und im Asylverfahren wie Erwachsene behandelt werden.
Das führt dazu, dass manche Menschen über Wochen und Monate in der Sam-
melunterkunft im Transitbereich quasi inhaftiert sind und es – aufgrund der für
sie subjektiv empfundenen Ausweglosigkeit – häufig zu Krankheiten, Depres-
sionen bis hin zu Selbstmordversuchen kommt.

In der Frankfurter Rundschau wird am 13. Oktober 1998 der Frankfurter
Caritas-Direktor zitiert, der das Flughafenverfahren abgeschafft sehen will:
„Die psychischen Belastungen sind für viele Flüchtlinge unerträglich“, sagt er.
„Hochtraumatisiert“ durch die Erfahrungen der Flucht kämen sie am Flughafen
an, würden erneut eingesperrt, in einem Fall sogar volle 394 Tage lang, seien
oft ohne Kontakt zu Familienangehörigen, von denen viele sich ebenfalls auf
der Flucht befänden, ergänzt“ eine Pfarrerin vom Evangelischen Regionalver-
band. „Einige reagieren mit Verzweiflungstaten und Selbstmordversuchen.“
Allein 1998 gab es bis Oktober elf Selbstmordversuche. Auch heute gibt es
zahlreiche Langzeitflüchtlinge. Während eines Besuches von zwei Abgeordne-
ten der Fraktion der PDS am 14. Februar 2000 befanden sich am Frankfurter
Flughafen ein Mann seit 323 Tagen, einer seit 271 Tagen, ein weiterer seit 232
Tagen und etliche andere ebenfalls seit mehreren Monaten im Flughafenverfah-
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ren. Für Kinder und Jugendliche ist die Situation besonders unerträglich. Min-
derjährige unbegleitete Flüchtlinge wurden erst durch einen Erlass des damali-
gen Bundesministers des Innern, Manfred Kanther, vom Juli 1994 in das
Verfahren gezwungen, obwohl die Bundesregierung die am 20. November
1989 von der UNO einstimmig verabschiedete Kinderrechtskonvention unter-
schrieben hat. Artikel 3 der Konvention stellt das Kindeswohl an erste Stelle.
Die Bundesregierung hat aber eine Reihe von Vorbehalten formuliert, nach de-
nen die Rechte u. a. für ausländische Kinder in erheblichem Maße einge-
schränkt werden. Bis November 1999 sind Kinder und Jugendliche dennoch
am Rhein-Main-Flughafen häufig nach wenigen Tagen Aufenthalt über eine
Clearingstelle in umliegende Kinderheime gebracht worden, wo sie kindge-
recht betreut wurden.

Dass Kinder überhaupt nicht ins Flughafenverfahren gehören, wird seit Jahren
immer wieder von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen betont. So
sei nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissariats der UNO eine „ange-
messene Rücksichtnahme auf Minderjährige unter den Bedingungen des Flug-
hafenverfahrens unmöglich“ (zitiert in: Süddeutsche Zeitung, 20. November
1999). Unicef und der Deutsche Kinderbund haben ebenso wie der jüngste
Bundesparteitag der SPD gefordert, die Kinderrechtskonvention in vollem Um-
fang anzuerkennen und Minderjährige aus dem Flughafenverfahren herauszu-
nehmen (vgl. u. a. Das Parlament, 26. November 1999). Statt ihnen jedoch
diese unwürdige Behandlung zu ersparen, wurde am 1. November 1999 ein
„Kinderzimmer“ (Süddeutsche Zeitung, 20. November 1999) eingerichtet, das
von anderen Kritikern auch als „traumatisierender Kinderknast“ (vgl. Der Ta-
gesspiegel, 19. November 1999) bezeichnet wird.

Derzeit werden am Rhein-Main-Flughafen bauliche Veränderungen vorgenom-
men, die angeblich zu einer Verbesserung der Situation führen sollen. Bis 2001
soll es eine neue Einrichtung geben, die vom Bund konzipiert und vom Bun-
desland Hessen bezahlt wird. Dieses ganze Verfahren, inklusive der neuen Ein-
richtung und der Betreuung der Menschen, ist enorm kostspielig. Es drängt sich
die Frage auf, ob der finanzielle Aufwand und eine zu befürchtende Verletzung
der Menschenwürde der Betroffenen ein solches Verfahren rechtfertigt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Ist der Bundesregierung die Aussage von Flüchtlingsorganisationen be-
kannt, dass sich im Vergleich zur Amtszeit der alten Bundesregierung die
durchschnittliche Verweildauer der Flüchtlinge im Flughafenverfahren ver-
längert hat, und wie beurteilt sie dies?

2. a) Wie viele Personen haben in den Jahren 1998 und 1999 das Flughafen-
verfahren durchlaufen?

b) Wie viele Tage haben diese Personen insgesamt in den Transitbereichen
der Flughäfen zugebracht?

c) Bei wie vielen Personen wurde innerhalb der 19-Tage-Frist entschieden,
ob sie einreisen dürfen oder zurückkehren müssen (bitte jeweils nach Ge-
schlecht, Alter und Herkunftsland der Personen und nach Jahren und
Flughäfen einzeln aufführen.)?

3. a) Wie viele Personen, die in den Jahren 1998 und 1999 nicht einreisen
durften, haben sich für

– die Rückkehr

– den Verbleib im Transitbereich

– die Abschiebehaft entschieden?
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b) Wie viele Personen, die in den Jahren 1998 und 1999 nicht einreisen
durften, wurden zurückgeschoben (bitte jeweils nach Geschlecht, Alter
und Herkunftsland der Personen sowie nach den Jahren und Flughäfen
einzeln aufführen)?

4. Wie viele Menschen haben in den Jahren 1998 und 1999 im Transitbereich
deutscher Flughäfen einen Suizidversuch begangen (bitte nach Geschlecht,
Alter und Herkunftsland der Personen sowie nach den Jahren und Flug-
häfen einzeln aufführen)?

5. Welche Kosten sind in den Jahren 1998 und 1999 aufgrund der Flughafen-
regelung angefallen für

– Personal

– Unterbringung und Verpflegung der Flüchtlinge

– Sachkosten?

(Bitte jeweils nach Flughafen und Jahr einzeln aufführen.)

6. Welche Kosten fallen am Rhein-Main-Flughafen für die neu zu bauende
Einrichtung an?

7. Aus welchen Gründen ist das so genannte Kinderzimmer am Rhein-Main-
Flughafen eingerichtet worden, und ist in Zukunft mit einer längeren Ver-
weildauer von Kindern und Jugendlichen im Flughafenverfahren zu rech-
nen?

8. Wie rechtfertigt es die Bundesregierung, dass Kinder und Jugendliche
praktisch gezwungen werden, in einer Haftsituation leben zu müssen, in
der der in der Kinderrechtskonvention eingeforderte besondere Schutz für
Minderjährige nicht gewährleistet sein kann, obwohl der Deutsche Bun-
destag Ende September 1999 die Bundesregierung aufgefordert hat, die
Kinderrechtskonvention vorbehaltlos anzuerkennen?

9. Wie erklärt sich die Bundesregierung, dass die Zahl der nach Deutschland
kommenden Kinder und Jugendlichen in den vergangenen Jahren stark zu-
rückgegangen ist, und wäre es nicht angesichts dieser geringen Zahlen un-
problematisch, Kinder und Jugendliche grundsätzlich aus dem Flughafen-
verfahren herauszunehmen?

10. Welche Veränderungen sind seit Antritt der neuen Bundesregierung vor-
genommen worden hinsichtlich

– baulicher Maßnahmen

– personeller Betreuung für die Flüchtlinge

– zusätzlicher Beratungsstellen?

(Bitte jeweils nach Flughafen und Jahr einzeln aufführen.)

11. a) Welche Flüchtlinge werden als „Langzeitflüchtlinge“ definiert?

b) Ist es richtig, dass diese Flüchtlinge am Rhein-Main-Flughafen auf
einer gemeinsamen Station untergebracht werden sollen, und wenn ja,
warum?

c) Aus welchen Gründen werden die Einwände der Fachleute gegen eine
Zusammenlegung von – z. T. kranken, bzw. depressiven Menschen (bis
hin zur Suizidgefährdung) – nicht berücksichtigt?
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12. Werden nach Kenntnis der Bundesregierung die Flüchtlinge darüber infor-
miert, welche Vor- und Nachteile jeweils eine Entscheidung für die Ab-
schiebehaft oder für den so genannten freiwilligen Verbleib im Transit-
bereich des Flughafens mit sich bringt?

13. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung von kolumbianischen Touris-
ten, die nach einem Bericht der Frankfurter Rundschau vom 12. Februar
am 6. Februar 2000 über den Rhein-Main-Flughafen einreisen wollten,
dort jedoch zwei Tage im Transitbereich festgehalten worden sein sollen,
um dann wieder zurückgeschickt zu werden, und wie beurteilt die Bundes-
regierung diesen Vorfall?

14. Wie verhält sich die Bundesregierung zu den Forderungen von Flüchtlings-
und Menschenrechtsorganisationen, das Flughafenverfahren für einen be-
stimmten Zeitraum – z. B. ein „Probejahr“ – auszusetzen, um dann auf-
grund der Anzahl der Flüchtlinge und der Asylbegehren sowie aufgrund
der anfallenden oder auch eingesparten Kosten eine neue Entscheidungs-
grundlage für die Streichung oder Fortsetzung der Flughafenregelung zu
haben?

Berlin, den 18. Februar 2000

Ulla Jelpke
Rosel Neuhäuser
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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