BT-Drucksache 14/2771

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung - Drucksache 14/2300 - Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen Umwelt und Gesundheit Risiken richtig einschätzen

Vom 22. Februar 2000


Deutscher Bundestag

Drucksache

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14. Wahlperiode

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach), Wolfgang Lohmann
(Lüdenscheid), Dr. Wolf Bauer, Dr. Peter Paziorek, Dr. Christian Ruck, Kurt-Dieter
Grill, Cajus Caesar, Marie-Luise Dött, Georg Girisch, Dr. Paul Laufs, Vera
Lengsfeld, Bernward Müller (Jena), Franz Obermeier, Christa Reichard (Dresden),
Hans Peter Schmitz (Baesweiler), Werner Wittlich und der Fraktion der CDU/CSU

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
– Drucksache 14/2300 –

Sondergutachten
des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen

Umwelt und Gesundheit
Risiken richtig einschätzen

I. Der Bundestag wolle beschließen:

Der Umweltschutz schließt den Schutz der menschlichen Gesundheit ein. Nach
wie vor muss der Schutz der Gesundheit vor umweltbedingten Risiken beim
einzelnen Bürger und in der öffentlichen Diskussion im Zentrum der politi-
schen Arbeit stehen.

Die umweltpolitischen Maßnahmen der letzten Jahrzehnte haben zu einem ho-
hen Schutzniveau für die menschliche Gesundheit geführt. Massive Umweltbe-
lastungen durch Spitzenkonzentrationen von Schadstoffen oder extreme Lärm-
pegel sind nahezu völlig beseitigt worden. Die Belastung der Bevölkerung mit
einer Reihe als wesentlich erkannter Schadstoffe konnte erheblich reduziert
werden. Dies gilt für Schadstoffe wie Kohlenmonoxid, Schwefeldioxid und
Benzol, für Schwermetalle wie Blei, Cadmium und Quecksilber sowie für per-
sistente organische Verbindungen wie DDT, Hexanchlorbenzol (HCB), Hexa-
chlorcyclohexan (HCH), polychlorierte Biphenyle (PCB), Pentanchlorphenol
(PCP) Dioxine, Rußpartikel, Furane und für polyzyklische aromatische Koh-
lenwasserstoffe. Ferner wird der Schutz der Bevölkerung und der Arbeitneh-
mer vor gesundheitlichen Gefährdungen durch fortschrittliche Rechtsvorschrif-
ten zum Strahlenschutz (geltende Grenzwerte, Minimierungsgebot, strikte
Kontrolle von Strahlenquellen) gewährleistet.

Trotz des erreichten hohen Schutzniveaus können Umweltfaktoren für sich al-
lein oder zusammen mit anderen Faktoren zur Entstehung oder Verstärkung
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von Erkrankungen beitragen. Umwelteinflüsse können Ursache von Allergien,
Asthma sowie Atemwegs-, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und auch von Krebs
sein. Störungen des Nervensystems und des Hormonsystems werden diskutiert.
Vielfach ist allerdings der Kenntnisstand der Wissenschaft über diese Zusam-
menhänge noch Lückenhaft.

Ziel muss es sein, die Grundlagen für den gesellschaftlichen Umgang mit Risi-
ken zu verbessern. Die Identifizierung und Bekämpfung von Umwelteinflüs-
sen, die zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen können, muss inten-
siviert werden. Leitmaxime bildet dabei die Orientierung am vorsorgenden
Gesundheitsschutz. Mit ihr verbindet sich die Notwendigkeit, vorhandene Er-
kenntnislücken durch verstärkte Forschungsaktivitäten zu schließen. Weiterer
Erkenntnisfortschritt ist eine zwingende Voraussetzung für einen gesellschaft-
lich verantwortlichen Umgang mit Risiken. Wichtig ist aber auch, dass die For-
schungsergebnisse ohne Verharmlosung oder Erzeugung von Ängsten so aufbe-
reitet werden, dass sich die Bevölkerung ein eigenes und realistisches Bild über
die individuellen und gesellschaftlichen Risiken einschließlich der Möglichkeit
und des Aufwands zu ihrer Verringerung machen kann. Einbezogen werden
muss in die Überlegungen auch die Frage der individuell verursachten und ge-
sellschaftlich vermeidbaren Risiken. In der Praxis sind die Bewertung und der
Vergleich von Risiken jedoch mit zahlreichen Unsicherheiten behaftet.

Um auf diesen Erwägungen aufbauend in der Gesellschaft zu einem breiten
Konsens über die Gewichtung und den Vergleich verschiedener Risiken mitein-
ander sowie über die daraus abzuleitende politische Prioritätensetzung zu kom-
men, ist ein Kommunikationsprozess mit Vertretern aller betroffenen gesell-
schaftlichen Gruppen erforderlich, beginnend mit der Entscheidung, welche
Faktoren einer Risikoanalyse zu unterziehen sind, über die Risikobewertung
bis hin zu allen Stufen des Risikomanagements.

Der Verkehr ist immer noch die größte Umweltlärmquelle. In einem hochindus-
trialisierten und dichtbesiedelten Land wie Deutschland stellt Lärm für viele
Menschen eine der am stärksten empfunden Umweltbeeinträchtigungen dar. Im
Mittelpunkt steht dabei der Verkehrsbereich und dort der Straßenverkehr.

Lärm kann zu fortgesetzter Anspannung führen und als Stressfaktor wirken.
Bereits bei mittleren Belastungswerten können Kommunikation, Erholung und
Entspannung sowie konzentriertes Arbeiten beeinträchtigt werden. Bei Ge-
räuschbelastungen, die dauerhaft oberhalb 65 dB(A) liegen, muss ein erhöhtes
Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen befürchtet werden. Daher sind über
die bisher erzielten Minderungen der Antriebsgeräusche hinaus weitere techni-
sche Maßnahmen am Fahrzeug und am Verkehrsweg notwendig. Dabei kommt
es zunehmend darauf an, durch den Einsatz leiserer Reifen und den Bau lärm-
armer Fahrbahnen die Abrollgeräusche der Reifen zu senken. Darüber hinaus
müssen auch die Möglichkeiten der Verkehrsvermeidung, Verkehrsverlagerung
und Verkehrsplanung weiterhin genutzt werden.

Zur Verminderung des Schienenverkehrslärms sind – wegen des grenzüber-
schreitenden Verkehrs – in erster Linie international abgestimmte Regelungen
zur Emissionsbegrenzung bei Schienenfahrzeugen, schaltechnische Verbesse-
rungen am Gleis und Sanierungsmaßnahmen an vorhandenen Schienenstrecken
erforderlich.

In einer zunehmend mobiler werdenden Welt hat auch der Flugverkehr zuge-
nommen. Die technischen Möglichkeiten zur Lärmminderung am Flugzeug
müssen endlich ganz ausgeschöpft werden.

Dass Fortschritte beim Lärmschutz erreicht werden können, zeigt das Bundes-
Immissionsschutzgesetz, aber auch die Regelungen im Arbeitsschutz und beim
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Bauplanungsrecht. Augrund der betreffenden Regelungen stellen heute Indus-
trie- und Gewerbebetrieb ein weniger bedeutendes Lärmschutzproblem dar.
Mit der Novelle der TA-Lärm von 1998 erfasst der Lärmschutz nun auch den
nicht verkehrbezogenen Lärm von Maschinen und Geräten.

Die Schadstoffminderung war in den letzten 25 Jahren ein zentrales Anliegen
der Umweltpolitik. Als Ergebnis dieser Schwerpunktsetzung wurde der Eintrag
gefährlicher Stoffe in die Umwelt erheblich reduziert. Die systematische Erfas-
sung und Bewertung von Chemikalien nach den verschiedenen nationalen
Stoffgesetzen und der EG-Altstoffverordnung ist heute eine staatliche Dauer-
aufgabe. Jedoch besteht in einigen Bereichen besonderer Handlungsbedarf.
Neue Erkenntnisse über Zusammenhänge zwischen dem Eintrag verschiedener
Stoffe in die Umwelt und bestimmten Krankheitsbildern sind zu berücksichti-
gen. Der Schadstoffproblematik ist daher auch künftig hohe Aufmerksamkeit
zu widmen. Mittelfristig stehen Biozide, hormonartig wirkende Stoffe, kanze-
rogene Luftschadstoffe, Feinstäube und bodennahes Ozon im Vordergrund.

Gesundheitsbeeinträchtigungen durch Allergien werden in ihrem Ausmaß in
Öffentlichkeit und Politik in der Regel eher unterschätzt. 8 bis 10 Millionen
Deutsche sind allergisch vorbelastet. Inwiefern grundsätzlich nicht allergene
Stoffgemische Auslöser von Allergien sein können, ist noch nicht ausreichend
aufgeklärt. Hier besteht erheblicher Forschungsbedarf. Der individuelle
Rechtsschutz von Allergikern muss ausgebaut und gestärkt werden. Die Indus-
trie muss zur verantwortungsvollen Aufklärung und zur Kennzeichnung ihrer
Produkte veranlasst werden.

In den letzten Jahren wird vermehrt die Befürchtung geäußert, dass einige Che-
mikalien eine hormonartige Wirkung besitzen. Dies soll bei Tierarten, die in
stark chemikalienbelasteten Gewässern leben, beobachtet worden sein. Bei
Fischen, Reptilien und Vögeln sollen u.a. Schäden wie eine verminderte
Fruchtbarkeit, eine Verweiblichung der Männchen bzw. ein verändertes Sexual-
verhalten festgestellt worden sein. Unklar ist aber bislang, ob diese Befunde
tatsächlich allein auf die Wirkung von Chemikalien zurückgehen und ob über-
haupt bei der Bevölkerung, die einer wesentlich geringeren stofflichen Belas-
tung ausgesetzt ist, vergleichbare Schäden zu beobachten sind. Hierzu besteht
erheblicher Forschungsbedarf. Abhängig von den Ergebnissen der eingeleiteten
Forschungsprogramme wird darüber zu befinden sein, ob und ggf. welche
Maßnahmen notwendig sind.

Erhöhte bodennahe Ozonkonzentrationen können die menschliche Gesundheit
(z. B. die Lungenfunktion) sowie die Ökosysteme schädigen. Sie entstehen bei
sommerlicher Wetterlage durch den Einfluss von Ozonvorläuferstoffen (Stick-
stoffoxide und flüchtige organische Verbindungen [VOC]), die hauptsächlich
dem Verkehrsbereich, den Feuerungsanlagen und der Lösemittelverwendung
(z. B. Farben, Lacke und Klebstoffe) entstammen.

II. Die Bundesregierung wird aufgefordert,
in einem ersten Schritt den folgenden Maßnahmekatalog umzusetzen:

1. Maßnahme: Entwicklung eines Risikokatalogs



die Förderung der bereits eingeleiteten Entwicklung neuer und Verbesserung
bestehender Testmethoden, computergestützte Struktur-Wirkungs-Analysen,
Auswertung von umweltbedingten Erkrankungen



Überprüfung und Weiterentwicklung von Grenzwerten



eine Bestandsaufnahme bestehender Methoden und Entwicklung einheit-
licher Bewertungslinien
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eine Verbesserung der Koordinierungsmechanismen der verschiedenen Gre-
mien zur Standardsetzung



die Entwicklung eines praktikablen Verfahrens zur Mitwirkung gesellschaft-
licher Gruppen und eines Konzepts für die Risikokommunikation



eine umfassende Risikobewertung: Entwicklung eines Konzeptes zu einer
ganzheitlichen Betrachtung aller umweltbedingten Gesundheitsrisiken



die Prüfung von Beschränkungen und Verboten für die Herstellung, das In-
verkehrbringen und die Verwendung gefährlicher Stoffe und Zubereitungen

2. Maßnahme: Schutz vor Lärm



die Absenkung der Geräuschgrenzwerte für Kraftfahrzeuge (Pkw, Lkw,
Busse, Motorräder, Mofas, Mopeds) typenabhängig um 3 bis 5 dB (A)



die Einführung von Geräuschgrenzwerten für Reifen nach dem Stand der
Technik, Fortschreibung der Anforderungen in einer 2. Stufe



die Fortführung der Lärmsanierung an bestehenden Bundesfernstraßen



die Entwicklung eines Lärmsanierungskonzepts für vorhandene Schienen-
wege (Emissions- und Immissionsminderungen) und nachfolgend schritt-
weise Umsetzung an den hauptbelasteten Strecken



die Verabschiedung einer EU-Richtlinie, die die Möglichkeit für eine Diffe-
renzierung der Landegebühren nach dem Lärmemissionen der Flugzeuge
ausbaut und auf eine EU-weit einheitliche Grundlage stellt



die Novelle der Landeplatzverordnung: Ausweitung der Betriebszeitbe-
schränkungen für Propellerflugzeuge und von Benutzervorteilen für lärm-
geminderte Flugzeuge



die Fortschreibung der anlagebezogenen Lärmschutzregelungen



die Fertigstellung und Umsetzung der Fluglärmnovelle



Reduzierung der Geräuschemissionen von Maschinen und Geräten

3. Maßnahme: Schutz vor Allergien



weitergehende Maßnahmen der Hersteller bei Aufklärung und Forschung
(Produktkennzeichnung)



die weitere bereits von der früheren Bundesregierung unterstützte Förderung
der Allergieforschung mit dem Ziel Risikozusammenhänge offen zu legen



die Unterstützung der Informationsarbeit von Selbsthilfegruppen mit dem
Ziel, den Selbstschutz zu fördern



die Aufklärung bei Betroffenen und durch Betroffene

4. Maßnahme: Bestimmung und Risikoabschätzung bei chemischen Stoffen



ein nationales Forschungsprogramm zur Erkenntnisgewinnung über die
Auswirkungen hormonartig wirkender Chemikalien auf die menschliche
Gesundheit und auf Ökosysteme



ein internationales Forschungs- und Arbeitsprogramm zur Fortentwicklung
von Prüfmethoden zur Erfassung von Stoffen mit schädigenden Wirkungen



die Bewertung einzelner Stoffe im Rahmen des EU-Altstoffprogramms

5. Maßnahme: Schutz vor bodennahem Ozon
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die Minderung der VOC-Emissionen aus der industriellen Verwendung von
organischen Lösemitteln um 60 % bis 2010 (Basis 1988)



die Reduzierung der VOC-Emissionen von Produkten (z. B. Reduktions-
potential von 70 % bei Autoreparaturlacken und von 55 % bei Bauten-
anstrichmitteln bis 2007 bezogen auf 1988) auf Europaebene



die Reduzierung der VOC-Emissionen maßgeblicher Industriebranchen um
70 bis 89 % bis 2007 (Basis 1988)

Berlin, den 22. Februar 2000

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach)
Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid)
Dr. Wolf Bauer
Dr. Peter Paziorek
Dr. Christian Ruck
Kurt-Dieter Grill
Cajus Caesar
Marie-Luise Dött
Georg Girisch
Dr. Paul Laufs
Vera Lengsfeld
Bernward Müller (Jena)
Franz Obermeier
Christa Reichard (Dresden)
Hans Peter Schmitz (Baesweiler)
Werner Wittlich
Dr. Wolfgang Schäuble, Michael Glos und Fraktion

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