BT-Drucksache 14/2758

Ausbau eines bedarfsgerechten und öffentlich geförderten Betreuungs- und Freizeitangebotes für Kinder bis zu 14 Jahren

Vom 22. Februar 2000


Deutscher Bundestag

Drucksache

14/

2758

14. Wahlperiode

22. 02. 2000

Antrag

der Abgeordneten Christina Schenk, Rosel Neuhäuser,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS

Ausbau eines bedarfsgerechten und öffentlich geförderten Betreuungs-
und Freizeitangebotes für Kinder bis zu 14 Jahren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In den westlichen Bundesländern besteht ein erheblicher Mangel an öffentlich
geförderten, ganztägigen Betreuungseinrichtungen für Kinder außerhalb des
Kindergartenalters.

In den östlichen Bundesländern wird das vorhandene Angebot inzwischen sys-
tematisch ausgehöhlt.

Öffentlich geförderte Freizeitangebote für ältere Kinder sind in Ost- und West-
deutschland nur in geringem Umfang vorhanden, so dass auch in diesem Be-
reich wesentlicher Nachholbedarf besteht.

Dieser Mangel hat zur Folge,

– dass Kindern außerhalb des Kindergartenalters wichtige Sozialisationserfah-
rungen vorenthalten werden und

– dass Eltern, insbesondere Mütter, an einer kontinuierlichen und gleichbe-
rechtigten Erwerbstätigkeit gehindert sind.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

den Entwurf eines Gesetzes vorzulegen, das Kindern einen Rechtsanspruch auf
Betreuungs- und Freizeitangebote sichert.

Das Gesetz soll im Einzelnen folgende Regelungen enthalten:

1. Jedes Kind hat bis zu seinem Schuleintritt einen Rechtsanspruch auf den Be-
such einer öffentlichen, ganztägigen Kindereinrichtung.

2. Jedem Kind ist bis zum Ende seines 4. Schuljahres ein Rechtsanspruch auf
einen Platz in einem Tageshort einzuräumen und bis zum Ende seines
8. Schuljahres ein Recht auf öffentlich geförderte Freizeitgestaltung.

3. Bei der Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Betreuungs- und Freizeitange-
bote ist darauf zu achten, dass vielfältige institutionelle Betreuungs- und
Einrichtungsformen bedarfsgerecht gefördert werden.
Drucksache

14/

2758

– 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

4. Die öffentlichen Betreuungs- und Freizeitangebote müssen kostengünstig
sein.

5. Der Bund muss sich an den Kosten beteiligen. Deshalb wird der Katalog der
Gemeinschaftsaufgaben in Artikel 91a des Grundgesetzes, bei denen der
Bund die Hälfte der Kosten in jedem Land übernimmt, um Betreuungs- und
Freizeitangebote für Kinder erweitert.

Die Bundesregierung wird aufgefordert, ein Finanzierungskonzept vorzulegen,
das auf sozial gerechter Steuerpolitik und auf Umverteilung im Haushalt ba-
siert.

Die Einführung dieses Gesetzes muss begleitet werden mit umfassender Öf-
fentlichkeitsarbeit, die Vorbehalte gegen außerfamiliale Betreuungsformen ab-
baut.

Berlin, den 22. Februar 2000

Christina Schenk
Rosel Neuhäuser
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Zu Nummer 1:

Die Notwendigkeit außerfamilialer Betreuung steht in engem Zusammenhang
mit den Veränderungen der Lebenssituation von Familien. Die (im Westen) zu-
nehmende Erwerbsbeteiligung von Müttern ist eine dieser Veränderungen, die
Auflösung herkömmlicher Familienstrukturen durch Trennung der Eltern, die
wachsende Zahl von Einzelkindern, das Fehlen von Geschwistern und Nach-
barkindern, ein kinderfeindliches Umfeld und die Isolation der modernen
Kleinfamilie sind weitere Gründe dafür, dass Kinder und Eltern verlässliche
Formen außerfamilialer Betreuungs- und Freizeitgestaltung brauchen.

Einrichtungen für Kinder unter drei Jahren stoßen im Westen Deutschlands
aber immer noch auf erhebliche ideologische Barrieren. Obwohl sie in anderen
Ländern längst selbstverständlich sind, fehlen sie in Westdeutschland fast ganz:
Noch nicht einmal für drei Prozent der Kinder stehen entsprechende Plätze zur
Verfügung (2,2 %, Statistisches Bundesamt, Statistik der Jugendhilfe, letzte Er-
hebung von 1994). Im Osten Deutschlands ist die Betreuungslage zwar immer
noch erheblich besser als im Westen, jedoch ist in den letzten Jahren ein zuneh-
mender Abbau des Betreuungsangebotes erkennbar, so dass hier inzwischen
eine negative Angleichung an die Situation in Westdeutschland zu befürchten
ist.

Im Zusammenhang mit der Frage der Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und
elterlicher Erwerbsarbeit gewinnt die Frage der verlässlichen Kinderbetreuung
noch eine zusätzliche Bedeutung: Bisher kam die Weigerung westdeutscher
Bundesländer und Kommunen, Einrichtungen für Kinder unter drei Jahren zu
schaffen, einem Erwerbsverbot für Mütter von Kleinkindern gleich. Das Bun-
deserziehungsgeldgesetz (BErzGG), das Mütter (oder Väter) für die ersten drei
Lebensjahre von der Erwerbsarbeit freistellt, hat Länder und Kommunen vor-
erst scheinbar der Notwendigkeit enthoben, Krippenplätze zur Verfügung zu
stellen. Es hat die Betreuung von Kleinkindern ganz in die Familien verlagert
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 –

Drucksache

14/

2758

und damit zwar Ländern und Gemeinden die Ausgaben für Kleinkindbetreuung
erspart, aber zu dem Preis, dass Kindern dieser Altersklasse eine wichtige So-
zialisationsinstanz vorenthalten wird.

Auch berufstätige Mütter tragen die negativen Folgen: Sie bleiben übermäßig
lange dem Arbeitsmarkt fern – oft weit über die drei Jahre hinaus, da sie nach
Ablauf der Erziehungsurlaubs trotz der Beschäftigungsgarantie nicht mehr in
ihr früheres Beschäftigungsverhältnis zurückkehren können. Paradoxerweise
führt Letzteres bei Landkreisen, Städten und Gemeinden wieder zu vermehrten
Ausgaben, denn eine steigende Zahl Alleinerziehender, die für diesen Zeitraum
nicht auf das Einkommen eines Partners zurückgreifen können, ist wegen des
Mangels an Betreuungseinrichtungen oft jahrelang von Sozialhilfe abhängig.

Da Kinder inzwischen einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ha-
ben, ist die Situation für Kinder ab drei Jahren zwar besser. Der Kindergarten
als positive Sozialisationsinstanz ist nirgendwo mehr in Frage gestellt. An dem
Problem der Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Erwerbsarbeit hat er aber
kaum etwas geändert:

– Die Beschränkung auf eine bestimmte Altersklasse des Betreuungsan-
spruchs verhindert für Mütter (und Väter) eine kontinuierliche Berufspla-
nung.

– Viele Träger versuchen dem Rechtsanspruch mit Hilfe von Schichtbelegung
gerecht zu werden; andere wieder erweitern die Gruppengrößen und senken
die Standards, so dass unter diesen für Kinder und Erzieherinnen erheblich
verschlechterten Bedingungen eine ganztägige Betreuung gar nicht mehr
wünschenswert ist.

– Da die Einrichtungen in der Regel keine Ganztagsangebote machen, ermög-
lichen sie in vielen Fällen höchstens eine Teilzeitberufstätigkeit der Mutter.
Nicht selten sind die Öffnungszeiten aber so bemessen, dass selbst für eine
Teilzeiterwerbstätigkeit die Betreuungsspanne zu kurz ist.

Zu Nummer 2:

Da die Teilzeitschule in Deutschland die dominierende Schulform ist, stehen
auch Mütter und Väter von Schulkindern vor der Frage, wo sie ihre Kinder
während ihrer Arbeitszeit betreuen lassen. Der Mangel an Ganztagsschulen
wird in Westdeutschland noch nicht einmal notdürftig durch Hortplätze kom-
pensiert: Bei der letzten statistischen Erhebung im Jahr 1994 standen für nur
10 Prozent der Kinder bis zu 10 Jahren Hortplätze zur Verfügung (Statistisches
Bundesamt, Statistik der Jugendhilfe 1994). Ohne eine Verbesserung des Hort-
angebotes lassen sich für die meisten Mütter und Väter Beruf und Kinderbe-
treuung nicht vereinbaren.

Zusätzlich muss für Kinder ab dem 5. Schuljahr ein öffentlich gefördertes Frei-
zeitangebot eingerichtet werden. Ältere Kinder sind zwar nicht mehr im selben
Maße wie Kleinkinder betreuungsbedürftig, jedoch benötigen auch sie Orte des
Kontaktes mit Gleichaltrigen.

Zu Nummer 3:

Anders als privat organisierte parafamiliale Betreuungsformen (Großmütter,
Kinderfrauen, Tagesmütter) erfüllen institutionell gesicherte Einrichtungen in
der Regel am ehesten die Kriterien von Verlässlichkeit, Kalkulierbarkeit und
kindgerechtem Angebot. Institutionelle Einrichtungen

– haben geregelte Öffnungszeiten und können bei Erkrankung von Erzieherin-
nen und Erziehern Vertretungen organisieren,
Drucksache

14/

2758

– 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
– sichern eine kontinuierliche Betreuung, solange das Kind in betreuungsbe-
dürftigem Alter ist,

– bieten Kindern die Möglichkeit, selbst gestaltete soziale Netze zu knüpfen
und Kontakte zu erproben. Ihre eigenständig organisierten Beziehungen zu
Erwachsenen und Kindern außerhalb der eigenen Kleinfamilie gehören zu
den wichtigsten Voraussetzungen für die Entwicklung von sozialer Kompe-
tenz und Identität.

Institutionelle Kindereinrichtungen sind nicht an traditionelle Formen wie
Krippe, Kindergarten und Hort gebunden. Deshalb sollten die Ergebnisse wis-
senschaftlicher Forschungen aus den letzten Jahren und die daraus entwickelten
innovativen Konzepte mehr als bisher in die Praxis umgesetzt werden: Bei-
spiele sind Konzepte mit einer „großen Altersmischung“ (Kinder aller Alters-
gruppen bis zu 12 Jahren), Konzepte mit Kinderhäusern und mit Betreuungs-
einrichtungen, die zugleich die Funktion von sozialen Kommunikations- und
Nachbarschaftszentren erfüllen.

Alle Angebote für Kinder müssen altersgerecht und für Kinder attraktiv sein.

Die Gruppen sollen überschaubar und die Öffnungszeiten verlässlich sein, da-
mit Eltern ihre Berufsarbeitszeit und die Zeit mit ihren Kindern sicher planen
können. Dafür ist es auch notwendig, dass alle Betreuungseinrichtungen gut er-
reichbar sind und keine überweiten Wege die Zeit von Eltern und Kindern un-
nötig einschränken.

Zu Nummer 4:

Niedrige Beitragssätze für öffentliche Kindereinrichtungen und Freizeitange-
bote erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass allen Kindern unabhängig von der
Einkommenslage ihrer Eltern diese Sozialisationserfahrungen außerhalb der
Familie zugänglich sind.

Langfristig ist völlige Beitragsfreiheit anzustreben, da auch bei geringen El-
ternbeiträgen nicht auszuschließen ist, dass sich Eltern, wenn sie unter
Sparzwang stehen, gegen den Kita-Besuch ihrer Kinder entscheiden.

Zu Nummer 5:

Den Kommunen die gesamten Kosten für ein flächendeckendes bedarfsgerech-
tes Betreuungs- und Freizeitangebot zu übertragen, würde nicht nur ihre Leis-
tungsfähigkeit weit übersteigen. Es wäre auch das falsche Signal. Kinderbe-
treuung ist eine Aufgabe in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung und muss
deshalb vom Bund mit finanziert werden.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.