BT-Drucksache 14/2720

Ächtung der Gewalt in der Erziehung wirkungsvoll flankieren

Vom 16. Februar 2000


Deutscher Bundestag Drucksache 14/2720
14. Wahlperiode 16. 02. 2000

Antrag
der Abgeordneten Sabine Jünger, Rosel Neuhäuser, Christina Schenk,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS

Ächtung der Gewalt in der Erziehung wirkungsvoll flankieren

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Gewalt ist nach wie vor in vielen Familien integraler Bestandteil der Erzie-
hung. Körperliche, seelische und emotionale Gewalt gegen Kinder und Jugend-
liche sind aber keine geeigneten Erziehungsmaßnahmen. Sie verletzen das
Menschenrecht auf Unverletzlichkeit der Würde von Kindern und Jugendlichen.

Gewalt gefährdet nicht nur die einzelnen von ihr betroffenen Kinder und Ju-
gendlichen in ihrer Persönlichkeit und Integrität, sondern in ihren längerfristi-
gen Folgen auch die Gesellschaft. So besteht ein nachgewiesener Zusammen-
hang zwischen innerfamiliären Gewalterlebnissen und der Gewaltauffälligkeit
und Delinquenz von Kindern und Jugendlichen.

Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Die Äch-
tung der Gewalt in der Erziehung ist ein vordringliches gesellschaftliches Ziel.
Die Umsetzung dieses Anspruchs darf sich allerdings nicht allein auf norma-
tive Veränderungen beschränken, sondern sie bedarf vielfältiger flankierender
Maßnahmen.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

die normative Ächtung der Gewalt in der Erziehung durch gesetzliche Rege-
lungen wie folgt zu flankieren und die Rechte von Kindern und Jugendlichen
zu deren Schutz zu verbessern.

I. Rechte von Kindern und Jugendlichen verbessern

1. Rechte für Kinder und Jugendliche müssen im Grundgesetz verankert wer-
den, um ihre Stellung als Grundrechtsträger und eigene Rechtspersönlichkeit
zu stärken. Dazu soll Artikel 6 GG unter anderem um das Recht des Kindes
auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit erweitert werden.

2. Kinder und Jugendliche sind mit vollendetem 12. Lebensjahr in die An-
spruchsinhaberschaft auf Hilfen nach §§ 27 ff. SGB VIII einzusetzen.

Kindern und Jugendlichen, die sich nachhaltig gegenüber dem Jugendamt
gegen den weiteren Verbleib in ihrer Familie aussprechen, ist mit vollende-
tem 12. Lebensjahr ein Aufenthaltsbestimmungsrecht einzuräumen, wenn
dies von der zuständigen Fachkraft befürwortet wird.

Drucksache 14/2720 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Formen des betreuten Wohnens sind verstärkt zu fördern. Das Mietrecht ist
so zu verändern, dass eine Wohnungsanmietung für Jugendliche ab 16 Jahre
möglich ist.

3. Der Vorrang des SGB VIII vor ausländerrechtlichen Regelungen ist sicher-
zustellen.

II. Aufklärung der Kinder und Jugendlichen über ihre Rechte verstärken, In-
frastruktur für niederschwellige Hilfen ausbauen

1. Kinder und Jugendliche müssen breit und vielfältig über ihre Rechte und
insbesondere über ihr Recht auf gewaltlose Erziehung aufgeklärt werden.
Zugleich sollen sie in Schulen und Freizeiteinrichtungen sowie über ver-
schiedene Medien umfassend darüber informiert werden, an wen sie sich im
Falle der Verletzung dieser Rechte wenden können und welche Angebote
der Jugendhilfe in diesem Fall existieren (primäre Prävention).

Eine zielgruppenspezifische Diversifizierung der Medien ist zur breiten Auf-
klärung notwendig. Niederschwellige Angebote und Maßnahmen zum
Schutz von Kindern und Jugendlichen müssen alters-, geschlechts- und her-
kunftsspezifisch sein. Auf die Möglichkeit der umfassenden fachlichen Be-
ratung und der Inobhutnahme durch das Jugendamt ist hinzuweisen und
diese auch in ausreichendem Umfang bereitzustellen.

Die sicher zu stellenden Unterstützungsleistungen während der Inobhut-
nahme nach § 42 Abs. 1 SGB VIII müssen um qualifizierte Beratung und
sozialpädagogische Betreuung erweitert werden.

2. Zur Gewaltprävention und Krisenintervention müssen flächendeckend und
trägerübergreifend Kinder- und Jugendhilfezentren geschaffen, ausgebaut
und angeboten werden. Zielsetzung ist ein einheitliches, kostenloses sozial-
pädagogisches Notruf- und Beratungssystem für Kinder und Jugendliche als
niederschwelliges Angebot in Krisensituationen (sekundäre Prävention). Es
muss ebenso wie die Möglichkeit der Inobhutnahme zu allen Tages- und
Nachtzeiten flächendeckend zur Verfügung stehen.

3. In Zusammenarbeit mit den Ländern soll eine Universalisierung von Kin-
derschutzhilfen angestrebt werden. Das heißt auch, Gesundheitswesen,
schulische und außerschulische Sozialarbeit sowie feste Ansprechpartner
und Ansprechpartnerinnen bei Polizei und Staatsanwaltschaften sind in ein
System der qualifizierten Früherkennung von Gewalt und deren Auswirkun-
gen einzubeziehen, in diesem Sinne fortzubilden und entsprechend auszu-
statten.

4. Gesetzliche Regelungen zur Verbesserung des rechtlichen Schutzes vor
häuslicher Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und Frauen sind vordringlich
zu treffen. Mittel für Aufklärung und gesellschaftliche Präventionsarbeit so-
wie die Finanzierung und Vernetzung von Hilfeeinrichtungen sind bereitzu-
stellen, um die Opfer wirksam zu unterstützen.

5. Die therapeutische und heilpädagogische Betreuung von kindlichen und ju-
gendlichen Opfern von Gewalt im familiären Umfeld (tertiäre Prävention),
insbesondere von sexualisierter Gewalt, ist sicherzustellen. Eine finanzielle
Verpflichtung des Bundes ist einzugehen bei der Nachbetreuung, bei thera-
peutischen Angeboten, bei der Finanzierung und Vernetzung von Selbst-
hilfeansätzen und -gruppen, Kinder- und Jugendnotruftelefonen, Kinder-
schutzzentren und Frauenhäusern etc., da ansonsten eine angemessene
Hilfestellung in ambulanten, teilambulanten und stationären Hilfen nicht
stattfinden kann.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/2720

6. Die Qualitätssicherung im Bereich der Jugendhilfe ist zu professionalisie-
ren. Notwendig ist eine problemlagenspezifische Qualifizierung der Fach-
kräfte und Beschäftigten der Jugendhilfe. Außerdem ist die Forschungslage
zur Inobhutnahme zu verbessern. Dazu ist vor allem die Datenerhebung und
das Meldeverhalten der Jugendhilfe sowie die Auswertung der Schutzmaß-
nahmen basierend auf § 99 SGB VIII im Sinne der Gewinnung einer aussa-
gefähigeren Statistik über die Inobhutnahme von Kindern zu effektivieren.

III. Familien sind in ihren Erziehungsaufgaben zu unterstützen

Die sozialpädagogische Familienhilfe ist als geeignete, integrative Form der fa-
miliären Beratungs- und Unterstützungsleistung auszubauen. Ziel muss sein,
Erziehenden gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien zu vermitteln.

IV. Prävention statt Folgekosten der Gewalt finanzieren

Der Bund muss sich an den mittelfristigen finanziellen Mehraufwendungen der
Länder und Kommunen beteiligen. Statt weiterhin die erheblichen Folgekosten
der häuslichen Gewalt und der Gewalt in der Erziehung hinzunehmen, ist eine
anteilige Finanzierung für Präventionsarbeit, für eine bedarfsgerechte finanzi-
elle und personelle Ausstattung der Jugendämter sowie der freien Träger anzu-
streben. Die Bundesregierung ist aufgefordert, ein Finanzierungskonzept für
die wirkungsvolle Umsetzung flankierender Maßnahmen auszuarbeiten.

Berlin, den 16. Februar 2000

Sabine Jünger
Rosel Neuhäuser
Christina Schenk
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

1. Gewalt ist in Familien weit verbreitet. Kinder und Jugendliche sind – direkt
und indirekt – häufig betroffen von häuslicher Gewalt. Sie erleben gewalttätige
Paarkonflikte mit oder werden in elterlichen Beziehungskonflikten instrumen-
talisiert.

Gewalt ist aber auch in zu großem Ausmaß integraler Bestandteil der Erzie-
hung. Dies gilt als normal und steht scheinbar in keinem Widerspruch zur elter-
lichen Zuneigung zu den Kindern. Körperliche, seelische und emotionale
Grenzüberschreitungen durch die Eltern sind für viele Kinder und Jugendliche
Alltag. Als schwächste Glieder der familialen Beziehungskonstellation sind sie
der innerfamiliären (Erziehungs-)Gewalt häufig schutzlos ausgeliefert.

Die „spontane Kopfnuss, ein Stoß, auch wenn das Kind dabei hinfällt oder
irgendwo anschlägt, die erzieherische Ohrfeige, schmerzhaftes Kneifen,
Schütteln, einsperren, anbrüllen, das Reinzwingen von Nahrung“ gelten als
Bagatelldelikte oder werden als „notwendig“ betrachtet (vgl. D. Frehsee 1992,
S. 37 ff.).

In einer Umfrage des Kinderschutzbundes haben 1997 ein Drittel aller 13- bis
16-Jährigen angegeben, wenigstens einmal eine Tracht Prügel erhalten zu
haben. 81 % der Kinder und Jugendlichen sind von ihren Eltern geohrfeigt wor-

Drucksache 14/2720 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

den. 20,6 % der Eltern setzen massive Gewalt, „eine Tracht Prügel“ oder „Po
versohlen“ häufiger ein.

Bedeutend ist in diesem Zusammenhang vor allem die intergenerationale Kon-
tinuität. Studien belegen, dass Eltern, die als Kind selbst geschlagen wurden,
diesen Erziehungsstil häufig in die nächste Generation weitergeben und ihre
Kinder auch schlagen (Bussmann 1996, Pfeiffer & Wetzels 1997). Auch ist
nach neueren Untersuchungen von Pfeiffer bei Jugendlichen eine deutliche
Korrelation von erlebter innerfamiliärer Gewalt mit dem Phänomen der Ju-
gendkriminalität festzustellen (Pfeiffer 1999).

Mit sinkendem Sozialstatus häufen sich gewalttätige familiäre Konflikte. Zahl-
reiche Untersuchungen belegen, dass Belastungen der Familien durch sozio-
ökonomische Stressfaktoren wie Arbeitslosigkeit, niedriges Einkommen,
geringer beruflicher Status und geringe Bildung deutlich mit höheren Gewalt-
anteilen in der Familie einhergehen.

Gewalt und Angst verursachen jedoch negative Folgen für die Kindesentwick-
lung: Psychische und körperliche Erniedrigungen führen zu einem Absinken
der Bindungsbereitschaft, zum Erlernen von Gewalt als Konfliktlösungsstrate-
gie, zu autoritärer Persönlichkeit, Subjektverlust und (Re-)Viktimisierung.

Dem entgegen besteht eine gesellschaftliche Verantwortung, die Menschen-
würde von Kinder und Jugendlichen zu sichern und ihre Lebenszusammen-
hänge und Sozialräume zu fördern. In diesem Zusammenhang müssen auch
Autonomie und Subjektqualität von Kindern und Jugendlichen stärker (recht-
lich) anerkannt werden.

Kinder und Jugendliche haben einen unmittelbaren Anspruch darauf, dass der
Staat eingreift, wenn ihr Wohl gefährdet ist. Es liegt in der Aufgabe des Staates
und der Gesellschaft, kindgerechte Lebensbedingungen für Kinder und Jugend-
liche zu schaffen, den eingetretenen Funktionsverlust der Familie zu kompen-
sieren und Familien in ihrer Erziehungsverantwortung zu unterstützen.

Die Nicht-Einmischung des Staates in die Privatsphäre von Familien kann hier-
bei kein Argument für die weitgehende Rechtlosigkeit von Kindern und Ju-
gendlichen sein.

Eine klare Normsetzung durch das Verbot elterlicher Gewaltausübung in
§ 1631 Abs. 2 BGB schafft zu Recht ein gesellschaftliches Leitbild und eine
notwendige Rechtssicherheit. Sie bedarf jedoch zwingend der Ergänzung durch
flankierende Maßnahmen, um praktisch wirksam zu werden.

2. Die Verankerung von Kinderrechten in Artikel 6 GG, wie im 10. Kinder-
und Jugendbericht empfohlen, sowie der Ausbau von Rechten für Kinder und
Jugendliche im SGB VIII sollen die Rechtssicherheit von Kindern und Jugend-
lichen befördern und deren Stellung gegenüber den Sorgeberechtigten und den
Institutionen der Jugendhilfe im Falle familiärer Auseinandersetzungen stär-
ken.

Dazu gehört auch, Kindern und Jugendlichen, die nachhaltig aus ihrem familiä-
ren Umfeld heraus wollen, die Möglichkeit zu geben, in weitgehend eigenstän-
digen Lebensformen wie z.B. betreuten Wohnverhältnissen ihre Erlebnisse und
Erfahrungen zu verarbeiten, und ihnen Unterstützung für den eigenen Lebens-
weg anzubieten.

Dieser Eröffnung eines eigenständigen Lebenswegs wird bisher nicht angemes-
sen Rechnung getragen. Und dies, obwohl die Zahl der Kinder und Jugend-
lichen, welche sich zeitweise oder auf Dauer ihrer Familie entziehen, ab dem
Alter von 12 Jahren massiv ansteigt.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/2720

Die in den letzten Jahren erheblich gestiegenen Zahlen bei der Inobhutnahme
(1995: 23 432; 1997: 31 807), die steigende Anzahl von Kindern und Jugend-
lichen, die selbst bei den entsprechenden Stellen um Aufnahme bitten, aber
auch die Zunahme von so genannten Straßenkindern belegen die Dringlichkeit
des Handelns in diesem Bereich. Es müssen deutlich mehr Möglichkeiten der
Inobhutnahme geschaffen werden und der (freiwillige) Zugang für Kinder und
Jugendliche muss erleichtert werden.

In diesem Sinne sind auch die Forschungsergebnisse des Bielefelder Sonderfor-
schungsbereiches 227 und der vom Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderten Programme „Straßenkarrieren von
Kindern und Jugendlichen“ (DJI 1994–1997) und „Lebensort Straße: Kinder
und Jugendliche in besonderen Problemlagen“ (Aktionsprogramm 1995–1998)
sowie die Forderungen zu einer integrativen Jugendpolitik, z.B. der Internatio-
nalen Gesellschaft für Erziehungshilfen (IGfH) zu berücksichtigen.

Ein effektiver Schutz und lebensweltliche Hilfestellungen für Kinder und Ju-
gendliche müssen sichergestellt werden. Dies ist nur durch eigene Rechte aus-
zugestalten.

Ein eigenes Aufenthaltsbestimmungsrecht ab 12 Jahren unter Wahrnehmung
der gesellschaftlichen Aufgaben der Jugendhilfe soll Kindern und Jugendlichen
Schutz und Entfaltung auf ihrem eigenen Lebensweg ermöglichen. Dabei ist
umfassend die Wahlfreiheit der Kinder und Jugendlichen nach § 5 SGB VIII zu
berücksichtigen. Möglichkeiten eigener Wohnungsanmietung, betreute Wohn-
gruppenprojekte, welche derzeit nur 3 % der Unterbringung von Jugendlichen
bundesweit ausmachen, sind daher stärker zu fördern.

Um den Schutz der Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten, bedarf es auch
eigener Rechte gegenüber dem Jugendamt und einer Demokratisierung der
Jugendhilfe. Letztere würde deren gesellschaftliche Akzeptanz und deren prä-
ventive Effektivität für gesellschaftliche Problemlagen und individuelle Fälle
sicherlich befördern.

Zum Schutz der Kinder und Jugendlichen aus Migranten- und Migrantinnen-
Familien muss für Leistungen nach SGB VIII ein Vorrang vor ausländerrecht-
lichen Regelungen gelten.

Bisher sind Nicht-Deutsche nach § 46 Abs. 7 AuslG bei Inanspruchnahme von
Hilfen zur Erziehung außerhalb der Familie oder von Hilfen für junge Voll-
jährige von Abschiebung bedroht. Angst vor Abschiebung und Unsicherheiten
bezüglich der genauen Rechtslage können dazu beitragen, dass Migranten und
Migrantinnen notwendige Hilfen nach §§ 27 ff. SGB VIII nicht in Anspruch
nehmen. Dies widerspricht jedoch dem Ziel der Integration nicht-deutscher
Familien in die bundesdeutsche Gesellschaft.

3. Die wenigen, nur punktuell existierenden Hilfestellungen sind unter Kin-
dern und Jugendlichen weitgehend unbekannt. Zudem sind sie für Kinder und
Jugendliche nur schwer zugänglich.

Deshalb müssen die Aufklärung über Rechte von Kindern und Jugendlichen
und über die Angebote der Jugendhilfe im Konfliktfall verstärkt sowie Instru-
mente der Prävention und der Intervention ausgebaut werden, insbesondere ein
flächendeckender Zugang zu Hilfen und Kriseninterventionseinrichtungen.

Es ist nicht tragbar, dass für niederschwellige Angebote oder auch für jegliches
Angebot der Inobhutnahme die gesetzlich verankerte Erreichbarkeit in Tag-
und Nachtstunden sowie an Wochenenden oftmals nicht gegeben ist (Busch,
in: Rauschenbach/Schilling, 1997, S. 118). Auch erscheint es skandalös, dass
in der Bundesrepublik Deutschland „entgegen der Gesetzeslage – gegen den

Drucksache 14/2720 – 6 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Willen des Kindes und Jugendlichen – vor allem aus fiskalischen Gründen her-
aus in vielen Fällen bereits im Vorfeld eine Inobhutnahme ‚abgebogen‘“ (ebd.)
wird oder eine Inobhutnahme erst im Falle drohender seelischer Behinderung
(s. § 35a SGB VIII) stattfindet.

Es bedarf einer Universalisierung der Kinderschutzhilfen, einer Vernetzung
von Hilfeeinrichtungen und deren finanzieller Absicherung sowie der Qualifi-
zierung von Personen, die mit Kindern und Jugendlichen in Schule, Freizeit,
medizinischen, therapeutischen, judikativen und exekutiven Einrichtungen be-
fasst sind. Eine Studie der VW-Stiftung verdeutlicht, dass bisher selbst bei
Fachkräften der Jugendhilfe, der Polizei und auch der Jugendpsychiatrie
Kenntnisse über Instrumente und Einrichtungen der Jugendhilfe in erschre-
ckendem Ausmaß fehlen (Fegert, J.M. u.a. in: ZfJ 12/96, S. 483).

Weiterhin gilt es, die Qualitätssicherung der Jugendhilfeplanung auf eine er-
weiterte, sinnvolle Datengrundlage zu stellen und diese auch zu kommentieren.
Die Einführung der Jugendhilfestatistik erweist sich bereits jetzt als nicht aus-
reichend und ist nicht als kommunale, regionale oder bundesweite Planungs-
grundlage geeignet. Auch ist die Aussagefähigkeit und Vergleichbarkeit der
statistischen Daten gering.

Defizite der Statistik bestehen unter anderem in der Nicht-Erhebung des Her-
kunftortes des Kindes/Jugendlichen, insbesondere für auswärtige und unbeglei-
tete Flüchtlinge (Busch, in: Rauschenbach/Schilling, 1997, S. 120f.). Weder
Erhebung von „Staatsangehörigkeit“, „ohne feste Unterkunft“ noch „an unbe-
kanntem Ort“ erfassen den kulturellen Hintergrund angemessen. Auch die
Gründe für eine Inobhutnahme und deren Ausgestaltung müssen um die As-
pekte der Suizidgefährdung und der Prostitution ergänzt werden. Die Kategorie
„sonstige Probleme“ ist aufzuschlüsseln.

Erfasst wird weiterhin nicht, inwieweit die Herausnahme aus der Familie im
Zusammenwirken mit der Polizei durch unmittelbaren Zwang erfolgt. Es wird
nicht unterschieden zwischen Einwilligung der Eltern in Hilfemaßnahmen nach
§ 42 und Maßnahmen, die nach § 1666 BGB durch das Familiengericht be-
schieden wurden. Auch werden Vorleistungen und „abgebogene“ Inobhutnah-
men nicht erfasst. Gerade diese Informationen sind aber für die häufig bemühte
Qualitätssicherung nötig. Eine Erfassung statistischer Daten nach § 42 Abs. 3
SGB VIII (Freiheitsentzug/geschlossene Unterbringung) fehlt vollständig.
Ebenso fehlen die Erfassung von Abbruchursachen bzw. von Rückkehrwün-
schen der Kinder. Weiterhin ist die Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII
als Unterscheidungsmerkmal mit aufzunehmen.

So ist derzeit ein qualitativer Vergleich nicht möglich, obwohl nach § 79 SGB
VIII die Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Qualität zu gewährleisten ha-
ben. Für die Jugendhilfeplanung ist es nach Busch unumgänglich, über eine
interkommunale Vergleichsmöglichkeit für die Qualitätssicherung zu verfügen,
ebenso wie über eine angemessene, fachliche Kommentierung der Tabellen.

4. Die zusätzliche gewaltpräventive Arbeit, ein breites Angebot an sozialpäda-
gogischen Familienhilfen, die Schaffung adäquater Unterbringungsmöglich-
keiten für die Opfer häuslicher Gewalt etc. erfordern ein erhebliches Finanzie-
rungsvolumen. Dieses Volumen würde die kommunalen Haushalte jedoch bei
weitem überfordern. Ein deutliches Engagement des Bundes ist daher gefor-
dert.

Dieses Engagement ist allerdings, berücksichtigt man die enormen gesell-
schaftlichen Folgekosten häuslicher Gewalt und der Gewalt in der Erziehung,
durchaus angemessen, notwendig und auf Dauer billiger.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.