BT-Drucksache 14/2316

Deutsch türkische Beziehungen, die EU und die kurdische Frage

Vom 2. Dezember 1999


Deutscher Bundestag Drucksache 14/2316
14. Wahlperiode 02. 12. 99

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS

Deutsch-türkische Beziehungen, die EU und die kurdische Frage

Der türkische Kassationsgerichtshof hat in der vergangenen Woche das Todes-
urteil gegen den PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan bestätigt. Auf kurdischer
Seite wird die Bestätigung des Urteils, auch wenn es zu erwarten war, als Rück-
schlag für die Bemühungen um eine politische Lösung der kurdischen Frage
gewertet. Tatsächlich sind auf Seiten der Regierung in Ankara weiter keine
ernsthaften Schritte zur Einleitung eines politischen Dialogs mit der kurdischen
Bevölkerung erkennbar.

Die seit über fünf Jahren inhaftierten kurdischen Abgeordneten der „Demokra-
tie-Partei“ (DEP) sind weiter in Haft. Alle türkischen Gesetze und alle Bestim-
mungen der nach dem Militärputsch von 1980 in Kraft gesetzten Verfassung,
die die Verwendung der kurdischen Sprache zum Teil schon seit Jahrzehnten
verbieten und die Erörterung kurdischer Anliegen als „Separatismus“ verfol-
gen, sind weiter in Kraft.

 Noch immer gelten hinsichtlich der Anerkennung von Minderheiten in der
Türkei die Grundsätze des Lausanner Abkommens von 1923, das keine kur-
dische Minderheit auf türkischem Gebiet anerkennt.

 Noch immer verbietet das Personenstandsgesetz kurdischen Eltern, ihren
Kindern kurdische Namen zu geben.

 Noch immer verbietet das Gesetz über die Provinzverwaltungen andere als
türkische Namen für Siedlungen, Dörfer, Städte, Provinzen.

 Noch immer verbieten die Artikel 26 und 28 der Verfassung Veröffent-
lichungen in einer Sprache, „die durch das Gesetz verboten ist“ – womit
jederzeit kurdische Zeitungen, Bücher, Disketten, Kassetten, Filme usw. ver-
folgt und verboten werden können.

 Noch immer verbietet Artikel 42 der Verfassung die Verwendung anderer
Sprachen als der türkischen Sprache im Unterricht.

 Noch immer verbietet das Gesetz über Rundfunk und Fernsehen sämtlichen
Rundfunk- und Fernsehsendern, in anderen Sprachen als der türkischen
Sprache zu senden.

 Noch immer können Vereine, Parteien und Veranstaltungen aller Art, die die
kurdische Frage zu ihrem Anliegen machen, wegen des Verdachts des „Se-
paratismus“ jederzeit verboten werden – ganz zu schweigen von den „Anti-
terrorgesetzen“, die jede pro-kurdische Aktivität mit staatlichen Antiterror-
maßnahmen bedrohen.

Drucksache 14/2316 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Ohnehin wird die Türkei westlichen Maßstäben an eine funktionierende Demo-
kratie nicht gerecht. Die beherrschende Stellung des Nationalen Sicherheitsra-
tes macht das Land nach allen Maßstäben der Politikwissenschaft zu einer Mi-
litäroligarchie.

Trotzdem oder gerade deshalb gehen die Waffengeschäfte des Westens mit der
Türkei ununterbrochen weiter. Allein das geplante Panzergeschäft soll sich auf
ein Volumen von 8 Mrd. US-Dollar belaufen. Verglichen mit der Wirtschafts-
kraft des Landes (1997 erzielte die Türkei ein Bruttosozialprodukt von 199
Mrd. US-Dollar) entspricht das einem Geschäft von 4 % des Bruttosozialpro-
dukts. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik Deutschland würde ein vergleich-
bar großes Rüstungsgeschäft die astronomische Summe von 176 Mrd. DM um-
fassen. Hinzukommen soll nach den Plänen türkischer Militärs in den nächsten
Jahren noch die Anschaffung neuer Kampfhubschrauber, neuer Kriegsschiffe,
neuer Munition und Gewehre für die gesamte Armee, eine Modernisierung der
Luftwaffe usw.

Diese extreme Hochrüstung des türkischen Militärs verhindert nicht nur wich-
tige Reformen in anderen Bereichen wie im Sozial- , Bildungs- und Gesund-
heitsbereich und im Wohnungsbau in der Türkei. Sie bestärkt die türkischen
Militärs in ihrer autokratischen, oligarchischen Stellung in der türkischen Ge-
sellschaft, wirft alle Bestrebungen zur Demokratisierung und zur Stärkung zi-
vilgesellschaftlicher Strukturen in der Türkei weiter zurück und belässt die tür-
kischen Militärs in einer beherrschenden, die Menschenrechte im Land und den
Frieden in der gesamten Region bedrohenden Position.

Das erste Opfer dieser Politik sind weiterhin die kurdischen Menschen in der
Türkei, die unter dem Ausnahmezustand leiden, nicht in ihre Dörfer zurück-
kehren können und von türkischen Militärs weiter drangsaliert und gequält
werden. Obwohl alle Menschenrechtsorganisationen eine Fortsetzung dieser
Politik und der damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen berichten,
werden Flüchtlinge, die vor dieser Politik nach Europa flohen, weiterhin in die
Türkei zurückgeschoben.

Im Dezember 1999 soll in Helsinki nun die Entscheidung über die Einbezie-
hung der Türkei in die EU fallen. Eine Einbeziehung der Türkei in ihrem ge-
genwärtigen Zustand, d.h. im Status einer Militäroligarchie, des Ausnahmezu-
stands, der anhaltenden Folterungen in Gefängnissen und Polizeiwachen und
der staatlichen Leugnung der Existenz einer kurdischen Bevölkerung auf dem
Staatsgebiet der Türkei, in den Kreis der Beitrittskandidaten wäre mit den EU-
Normen von Demokratie und Menschenrechten nicht vereinbar, würde die de-
mokratische Orientierung und Grundordnung der EU in Zweifel ziehen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Normen des internationalen Rechts wurden nach Ansicht der Bun-
desregierung im Verfahren gegen den PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan
verletzt

a) durch die Entführung des PKK-Vorsitzenden in die Türkei,

b) durch die Modalitäten seiner Haft auf der Insel Imrali (monatelange Iso-
lation usw.),

c) durch die Einschränkung seiner Verteidigungsmöglichkeiten (keine unbe-
aufsichtigten Gespräche mit der Verteidigung, ungenügende Vorberei-
tungszeit usw.)?

2. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die in dem bisherigen
Verfahren gegen Abdullah Öcalan festgestellten Verletzungen internationa-
ler Rechtsstandards durch eine Entscheidung europäischer Gerichte

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/2316

a) zu korrigieren, indem eine Wiederaufnahme des Verfahrens vor einem
unabhängigen Gericht herbeigeführt wird, das dann auch die Vorwürfe
gegen türkische Militärs und andere türkische Stellen im Verlauf des
jahrzehntelangen Konflikts untersucht?

b) auf andere Weise zu heilen?

3. Laut Presseberichten soll das von der Verteidigung angekündigte Verfahren
18 Monate oder länger dauern. Was bedeutet nach Auffassung der Bundes-
regierung eine Verfahrensdauer von 18 Monaten oder mehr in dem Verfah-
ren zur Überprüfung des Urteils gegen den PKK-Vorsitzenden vor dem Eu-
ropäischen Gerichtshof für die Überlegungen der Bundesregierung zur
Einbeziehung der Türkei in die EU?

Wird die Bundesregierung auf eine Aussetzung der Beitrittsverhandlungen
mit der Türkei bis zum Abschluss dieses Verfahrens drängen?

4. Welche Mindestbedingungen hinsichtlich ihrer demokratischen Grundord-
nung und der Anerkennung von Minderheiten müssen nach Auffassung der
Bundesregierung für eine Einbeziehung der Türkei in den Kreis der EU-
Beitrittskandidaten innerhalb welchen Zeitrahmens erfüllt sein

a) vor der Entscheidung über die Einbeziehung der Türkei in die EU,

b) nach der Entscheidung über die Einbeziehung?

5. Hält die Bundesregierung die gegenwärtige Stellung des Nationalen Si-
cherheitsrates in der Verfassung der Türkei mit einer Einbeziehung der
Türkei in die EU für vereinbar?

6. Hält die Bundesregierung die Fortexistenz des Ausnahmezustands in den
kurdischen Gebieten und die damit verbundene Aufhebung grundlegender
Menschenrechte mit einer Einbeziehung der Türkei in den Kreis der Bei-
trittskandidaten in die EU für vereinbar?

7. Hält die Bundesregierung den Fortbestand des Dorfschützersystems in der
Türkei mit einer Einbeziehung der Türkei in den Kreis der EU-Beitrittskan-
didaten für vereinbar?

8. Welche der in der Eingangsbemerkung genannten Gesetze der Türkei be-
treffend das Verbot kurdischer Sprache, die Leugung der Existenz einer
kurdischen Bevölkerung in der Türkei, die Verfolgung von „Separatismus“
usw. müssen nach Auffassung der Bundesregierung mindestens aufgeho-
ben werden, um die Rechte der kurdischen Bevölkerung in der Türkei ent-
sprechend den Kopenhagener Kriterien zu sichern?

9. Welche Folgerungen erwartet die Bundesregierung aus der Einbeziehung
der Türkei in die EU hinsichtlich des Asylrechts?

Welche Konsequenzen ergeben sich aus einer Aufnahme der Türkei in den
Kreis der Beitrittskandidaten hinsichtlich der weiteren Duldung oder Ab-
schiebung von derzeit hier noch geduldeten Flüchtlingen aus der Türkei?

10. Auf welchen bilateralen und multilateralen Abkommen basiert derzeit der
Datenaustausch zwischen den Polizei- und Justizbehörden der Bundesre-
publik Deutschland und der Türkei?

11. Wie viele Daten von hier lebenden Flüchtlingen oder Migrantinnen bzw.
Migranten aus der Türkei wurden der Türkei in diesem Rahmen

– aufgrund in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführter Asylver-
fahren,

– aufgrund hier laufender Ermittlungsverfahren,

– aufgrund abgeschlossener Strafverfahren bzw. rechtskräftiger Urteile

Drucksache 14/2316 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
a) in den Jahren 1980 bis 1990

b) in den Jahren 1990 bis 1998

c) in 1999

übermittelt (bitte ab 1990 jährliche Angaben)?

Wie viele dieser übermittelten Daten bezogen sich dabei auf in der Bundes-
republik Deutschland lebende Flüchtlinge und Migranten mit türkischer
Staatsangehörigkeit, wie viele bezogen sich auf in der Türkei lebende Fa-
milienangehörige, andere Verwandte und Freunde von hier lebenden
Flüchtlingen, Migranten usw.?

12. Welchen Umfang hat nach Kenntnis der Bundesregierung das gegenwärtig
laufende Modernisierungsprogramm der türkischen Streitkräfte?

a) Welche einzelnen Rüstungsvorhaben sind damit verbunden (bitte nach
Art der Modernisierung bzw. der neuen Waffen und deren voraussichtli-
chen Kosten aufschlüsseln)?

b) Welche parlamentarischen Beschlüsse in der Türkei sind hinsichtlich
dieser Rüstungsprogramme bisher gefallen bzw. wann ist mit deren par-
lamentarischer Billigung zu rechnen?

c) Für welche dieser Programme haben deutsche Firmen bzw. Firmenkon-
sortien mit deutscher Beteiligung bereits Aufträge erhalten?

d) Bei welchen Programmen haben sich nach Kenntnis der Bundesregie-
rung ebenfalls deutsche Firmen beworben und wann ist mit der endgül-
tigen Vergabe dieser Programme zu rechnen?

13. Wie beurteilt die Bundesregierung die Folgen dieser Rüstungsgeschäfte für
die innere demokratische und soziale Ordnung in der Türkei?

14. Welche äußeren Gefahrengebiete (Kaukasus, Iran etc.) für die türkischen
Streitkräfte bestehen nach Auffassung der Bundesregierung, die eine sol-
che Hochrüstung rechtfertigen bzw. erforderlich machen?

15. Wie beurteilt die Bundesregierung die griechischen Sorgen vor dieser
Hochrüstung der Türkei und wie will die Bundesregierung diesen Sorgen
Rechnung tragen?

16. Beabsichtigt die Bundesregierung ihre eventuelle Zustimmung zu Waffen-
lieferungen in die Türkei vom Verhalten der türkischen Regierung zur Lö-
sung der Zypernfrage abhängig zu machen?

17. Welche Vereinbarungen hat es nach Kenntnis der Bundesregierung im Rah-
men der OSZE-Konferenz in Istanbul hinsichtlich der Sicherung der
Rechte von Minderheiten gegeben?

18. Gelten nach Auffassung der Bundesregierung diese OSZE-Konvention und
auch die bisherigen Europarat-Konventionen bezüglich Rechte von Min-
derheiten auch für die kurdische Minderheit in der Türkei oder gilt hier –
wie von türkischer Seite dargestellt – noch immer der Lausanner Vertrag,
der eine kurdische Minderheit in der Türkei nicht kennt?

Berlin, den 30. November 1999

Ulla Jelpke
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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