BT-Drucksache 14/2066

Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis (sog. Altfallregelung) für lange in Deutschland lebende Ausländerinnen und Ausländer

Vom 11. November 1999


Deutscher Bundestag Drucksache 14/2066
14. Wahlperiode 11. 11. 99

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Rosel Neuhäuser, Petra Pau
und der Fraktion der PDS

Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthalts-
befugnis für lange in Deutschland lebende Ausländerinnen und Ausländer
(sog. Altfallregelung)

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die gesetzlichen
Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass lange in Deutschland lebende Aus-
länderinnen und Ausländer eine Aufenthaltsbefugnis für die Bundesrepublik
Deutschland erhalten können. Mit den gesetzlichen Regelungen sollen die Bun-
desländer dazu verpflichtet werden, die entsprechenden Verwaltungsvorschrif-
ten zu schaffen bzw. umzusetzen. Folgende Personen sollen eine Aufenthalts-
befugnis erhalten:

1. a) erwachsene Personen, die sich seit fünf Jahren,

b) verheiratete und unverheiratete Eltern und Alleinerziehende mit minder-
jährigen Kindern, die sich seit drei Jahren und

c) unbegleitete Minderjährige, die sich seit zwei Jahren in der Bundesrepub-
lik Deutschland aufhalten,

und zwar in allen drei Fällen (a, b und c) unabhängig von ihrem Aufenthalts-
status. Bei Eltern genügt die Erreichung der Aufenthaltsdauer von einem
Elternteil.

2. Personen, deren Asylverfahren am 14. Mai 1996 (Datum des Grundsatzur-
teils des Bundesverfassungsgerichts) bereits gerichtlich anhängig waren und
es zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes noch sind.

Des Weiteren wird die Bundesregierung aufgefordert, rechtlich abzusichern,
dass die aufgeführten Personen nach Gewährung der Aufenthaltsbefugnis eine
Arbeitserlaubnis erhalten.

Berlin, den 11. November 1999

Ulla Jelpke
Rosel Neuhäuser
Petra Pau
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Drucksache 14/2066 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Begründung

Es ist höchste Zeit, dass die Bundesregierung, wie bereits 1998 angekündigt,
für eine humanitäre Altfallregelung für lange in Deutschland lebende Auslän-
derinnen und Ausländer aktiv wird.

Insbesondere die Kirchen drängen auf eine Regelung und auf die Beachtung
humanitärer Grundsätze in der Flüchtlings- und Ausländerpolitik. Bereits am
6. Mai 1998 haben mehrere Organisationen Mindestanforderungen an ein
neues Asylrecht formuliert, in denen auch eine Altfallregelung gefordert wird.
Darin wird die Forderung gestellt, dass „aus humanitären Gründen eine Altfall-
regelung für Flüchtlinge (auch solche ohne Status), die länger als fünf Jahre in
Deutschland sind (z. B. Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina, Restjugosla-
wien), (zu) erlassen (ist). Ihnen ist eine Aufenthaltsbefugnis zu erteilen.“

Diese Anforderungen werden getragen vom Bundesverband der Arbeiterwohl-
fahrt, von der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche, dem Deutschen
Caritasverband, dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband, dem DGB
Bundesvorstand, dem Diakonischen Werk in Hessen und Nassau, der Ev. Frau-
enarbeit in Deutschland, der Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck, der Ev. Kir-
che in der Pfalz, der Ev. Kirche im Rheinland, der Humanistischen Union, dem
Interkulturellen Beauftragten der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Pax Christi,
Pro Asyl, terres des hommes Deutschland, dem Verband binationaler Familien
und Partnerschaften.

Pax Christi äußerte sich bereits nach der Innenministerkonferenz im November
1998 skeptisch gegenüber der Handlungswilligkeit der Bundesregierung. In
einem Artikel von Franz-Josef Conraths zu „Asyl- und Migrationspolitik in rot-
grünen Zeiten“ (Pax Christ Zeitschrift 1/99) kommentierte er die Vertagung des
Themas auf der Konferenz damit, die Folge davon sei, „dass einige Länder, dar-
unter auch rot-grün regierte wie Nordrhein-Westfalen ‚fleißig‘ abschieben. Am
Ende kann man sich dann ‚großzügig‘ auf eine Altfallregelung einigen, von der
fast kein Flüchtling mehr etwas hat.“

Ein Jahr nach dem Regierungsantritt ist immer noch nichts geschehen. Nach
wie vor wird das Thema von einer Innenministerkonferenz zur nächsten ver-
schoben und eine befriedigende Lösung ist nicht in Sicht.

Wir teilen die Auffassung der Rechtsberaterkonferenz, die am 10. August 1999
in einer Presseerklärung feststellte:

„Die Verabschiedung einer ‚Altfallregelung‘ ist eine Maßnahme der prakti-
schen Vernunft, die nicht nur zur Entlastung von Gerichten und Behörden füh-
ren würde, sondern die auch in vielen Einzelfällen Gerechtigkeit schaffen
würde. (...) Sieht man sich die Regelungen des neuen Staatsangehörigkeitsrech-
tes an, in denen nach acht Jahren Aufenthaltsdauer von einer so weitgehenden
Integration ausgegangen wird, dass (unter weiteren Voraussetzungen) ein Ein-
bürgerungsanspruch besteht“ erscheinen ihnen die oben genannten Fristen in
jeder Hinsicht angemessen.

Auch nach Ansicht des Deutschen Anwaltsvereins (DAV) liegt eine Altfallre-
gelung „im öffentlichen Interesse, da die Behörden dann die Neueingänge zügi-
ger bearbeiten können. Wegen der Belastung der Justiz durch solche Verfahren
muss es eine klare und großzügige Regelung auch für die Flüchtlinge aus Bos-
nien-Herzegowina und Jugoslawien geben.“ (Presseerklärung vom 25. Februar
1999)

Menschen, die auf Dauer nicht in ihr Herkunftsland zurück können und aus die-
sem Grund über viele Jahre Deutschland nicht verlassen haben, brauchen eine
planbare Perspektive, um menschenwürdig leben zu können. Die Ungewissheit,
ob man in wenigen Wochen oder Monaten des Landes verwiesen wird, ob man

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eine Ausbildung oder ein Schuljahr beenden kann, die Ungewissheit, ob man
sich auf ein Leben in einem Bürgerkriegsland, einem weiteren Leben in unkla-
ren Verhältnissen einstellen muss oder sich ein Leben in Sicherheit vertrauen
kann, die Abhängigkeit von politischen Konstellationen und juristischen Ent-
scheidungen, die Furcht vor einer Ausweisung oder Abschiebung insbesondere
von traumatisierten, vergewaltigen, misshandelten Menschen, all das ist – wenn
überhaupt – nur eine begrenzte Zeit zumutbar. Erfährt diese Situation über
Jahre hinweg keine Änderung, kommt es zu Verzweiflung, physischen und psy-
chischen Krankheiten. Manche Menschen ziehen es sogar vor, sich das Leben
zu nehmen, um nicht wieder in ihr Herkunftsland abgeschoben zu werden.

Dazu kommt die ohnehin schwierige Lebenssituation dieser Menschen. Selbst
wenn sie eine Arbeitsgenehmigung haben und es ihnen gelingt, eine Arbeitge-
berin oder einen Arbeitgeber zu finden, kommt es nur selten zu einer Anstel-
lung. Nur ganz wenige Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind bereit, Men-
schen zu beschäftigen, von denen nicht klar ist, ob sie in Kürze ausreisen
müssen. Gleichermaßen schwierig ist es, eigene Lebensperspektiven zu entwi-
ckeln, wenn man nicht weiß, für welches Leben in welchem Land.

Es ist zutiefst unwürdig, Menschen auf Dauer einer solchen Situation auszuset-
zen. Wenn sich die Lage der Menschen in den Herkunftsländern innerhalb von
fünf Jahren nicht geändert hat, wenn sie nicht abgeschoben werden können,
weil sie traumatisiert oder in ihrem Herkunftsland von Verfolgung bedroht sind,
wenn sie zu alt oder zu jung sind, um in ihrem Herkunftsland ein menschen-
würdiges Leben führen zu können, und wenn sie sich über fünf Jahre hinweg in
Deutschland eingelebt haben, gebietet es die Achtung vor ihrer Menschen-
würde, die Einhaltung der Menschenrechte und das gesellschaftliche Interesse,
diesen Menschen über eine sog. Altfallregelung eine Aufenthaltsbefugnis zu er-
teilen.

Dabei darf es keine Rolle spielen, warum die Menschen seit so langer Zeit in
Deutschland sind. Für eine humanitäre Berücksichtigung ihrer Lebenssituation
ist es gleichgültig, ob der Herkunftsstaat Schwierigkeiten bei der Beschaffung
der Papiere macht, ob die Durchführung eines Rückübernahmeabkommens bis-
lang gescheitert ist oder ob eine Asylentscheidung in den Mühlen der deutschen
Justiz oder Verwaltung stecken bleibt. Auch darf ihnen nicht zum Nachteil ge-
reichen, wenn sie die juristischen Möglichkeiten eines Rechtsstaates für sich in
Anspruch genommen und einen Asylfolgeantrag gestellt haben.

Eine großzügige Regelung darf aber auch nicht voraussetzen, dass Menschen
ihren Lebensunterhalt ohne Sozialhilfe bestreiten können und ihnen ausrei-
chend Wohnraum zur Verfügung steht. Menschen, die keine Arbeit finden, weil
sie ständig von Ausweisung bedroht sind und deswegen auf staatliche Unter-
stützung angewiesen sind, in Wohnheimen wohnen oder sich nur kleine Woh-
nungen leisten können, darf man für diese Situation nicht haftbar machen.

Die Regelung muss auch für Menschen gelten, die über keinen rechtlich sank-
tionierten Status mehr verfügen und als sog. Illegale im Bundesgebiet – zum
Beispiel im Kirchenasyl – leben. Dabei sind die Gründe unerheblich, warum je-
mand im Einzelnen die schwerwiegende Entscheidung gegen die Ausreise und
für ein Leben in der Illegalität getroffen hat. Im Sinne einer europäischen Har-
monisierung sollte sich Deutschland ein Beispiel an Spanien und Frankreich
nehmen und sich nicht länger einer Legalisierung verweigern, die sich an der
Dauer des Aufenthaltes in Deutschland orientiert.

Neben der allgemeinen Fünf-Jahres-Frist gibt es jedoch einzelne Gruppen von
Menschen, die sich in einer besonderen Situation befinden. Dazu gehören so-
wohl Eltern mit minderjährigen Kindern als auch Flüchtlingskinder, die ohne
Begleitung nach Deutschland gekommen sind.

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Kinder und Jugendliche stehen unter dem besonderen Schutz des Grundgeset-
zes und internationaler Konventionen. Familien mit Kindern und Jugendlichen
brauchen im besonderen Maße die Sicherheit vorausplanen zu können, damit
ihre Kinder im Kindergarten, in der Schule oder in einer Ausbildung eine Per-
spektive haben und nicht von heute auf morgen damit rechnen müssen, ausge-
wiesen zu werden.

Ganz besonders gilt dies jedoch für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Sie
sind in viel größerem Maße gezwungen, sich in dieser Gesellschaft zurecht zu
finden und sich zu integrieren, da sie keine vertraute, intime Bezugsgruppe ha-
ben, auf die sie sich verlassen können. Diese Kinder und Jugendlichen brau-
chen besonderen gesellschaftlichen Schutz und besondere Beachtung ihrer
schwierigen Lebenssituation.

Eine großzügige Altfallregelung würde nicht nur humanitären Gesichtspunkten
gerecht, sondern würde auch die Behörden, das Bundesamt für die Anerken-
nung ausländischer Flüchtlinge, die Justiz und die Petitionsausschüsse der Par-
lamente entlasten. Darüber hinaus könnte der Verfahrensstau bei den Verwal-
tungsgerichten aufgehoben werden, der eine zügige Entscheidungspraxis im
Justizbereich verhindert.

Die Bundesregierung sollte sich von einer Abschreckungspolitik verabschie-
den, die die Situation der Betroffenen unerträglich macht, um die einen zur
Ausreise zu bewegen und die anderen von der Einreise abzuschrecken. Es ist an
der Zeit, humanitäre Gesichtspunkte auch in der Innenpolitik wieder ins Zen-
trum der Handlungen und der politischen Entscheidungen zu setzen.

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