BT-Drucksache 14/1834

Zukunfsfähiger Handel und umfassende Reform der WTO

Vom 26. Oktober 1999


Deutscher Bundestag

Drucksache

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1834

14. Wahlperiode

26. 10. 99

Antrag

der Abgeordneten Ursula Lötzer, Carsten Hübner, Kersten Naumann,
Dr. Winfried Wolf, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS

Zukunftsfähiger Handel und umfassende Reform der WTO

DerBundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Neben dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank ist die
Welthandelsorganisation (WTO) die dritte Säule der Weltwirtschaftsordnung.
Wichtigstes Ziel der 134 Mitgliedstaaten umfassenden WTO ist die weitere
Liberalisierung des Weltmarktes. Die Erweiterung des Welthandels über mehrere
multilaterale Handelsrunden im Rahmen der Verhandlungen des General
Agreement on Tariffs and Trade (GATT) hat u.a. dazu geführt, dass die Zahl der
Beschäftigten, deren Arbeitsplätze direkt oder indirekt vom Export abhängen,
stetig gestiegen ist. Gleichzeitig relativiert sich die eindeutige Trennung zwi-
schen dem Güterhandel, dem Handel mit Dienstleistungen und ihrer Produk-
tion. Der Welthandel integriert zunehmend die Produkt-, Kapital- und Arbeits-
märkte. Diese Aspekte führen dazu, dass die Agenda der WTO wachsenden
Einfluss auf die einzelstaatliche Politik und die nationale Gesetzgebung ausübt.

Entscheidungen der WTO berühren direkt oder indirekt zentrale Bereiche jeder
nationalen Wirtschafts-, Struktur-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik. Trotz die-
ser Bedeutung unterliegt die WTO bis heute keiner wirklichen demokratischen
Kontrolle. Parlamente und die Öffentlichkeit sind bisher nur Zaungäste einer Ent-
wicklung, die durch eine permanente Liberalisierung zugunsten von international
agierenden Unternehmen die Sachzwänge schafft, die als Globalisierung um-
schrieben wird. Dies geschieht z.B. durch das Verbot der Bevorzugung von inlän-
dischen gegenüber ausländischen Unternehmen, der Begrenzung von Unterstüt-
zung für die Landwirtschaft und den Umweltschutz, den Abbau der sozialen
Regulierungen von Direktinvestitionen oder zur Verhinderung eines vollständi-
gen Gewinntransfers. All dies gilt nach Maßgabe der WTO als ineffizienter Ein-
griff in den Markt, behindert Wachstum und Entwicklung und gehört abgeschafft.

Vom 30. November bis zum 3. Dezember 1999 findet die 3. Ministerkonferenz
der WTO in Seattle statt. Hier sollen Themen für eine neue dreijährige Liberali-
sierungsrunde festgelegt werden. Das Hauptanliegen der Europäischen Kom-
mission, die einen Entwurf für die gemeinsame Verhandlungsführung vorgelegt
hat, besteht darin, eine umfassende Agenda für eine sehr breit angelegte WTO-
Verhandlungsrunde durchzusetzen. Neben der Weiterverhandlung und Über-
prüfung alter Aspekte (built in agenda) aus der Uruguay-Runde des GATT sol-
len neue Themen verhandelt werden.
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Die EU-Kommission weist in ihrem Mandat selbst darauf hin, dass das bishe-
rige Tempo der Liberalisierung viele Länder überfordert hat und dass die Um-
setzung der Beschlüsse der Uruguay-Runde noch nicht abgeschlossen ist.

Das betrifft zum einen die Entwicklungsländer. Schon heute zeigt sich, dass die
große Anzahl der gleichzeitig laufenden Verhandlungen in der WTO zu einzel-
nen Sachgebieten und deren Komplexität entsprechendes Personal und techni-
sche Voraussetzungen erfordert. Ohne diese könne nicht von demokratischen
Entscheidungsprozessen geredet werden. Viele Entwicklungsländer verfügen je-
doch nicht über diese Kapazitäten. Daneben können sich kleinere und finanziell
schwächere Volkswirtschaften das WTO-Streitschlichtungsverfahren nicht leis-
ten. Allein daran wird deutlich, dass die internationale Ungleichheit nicht durch
die formale Abstimmungsgleichheit aufgehoben werden kann. Folglich stehen
viele Länder den neuen Verhandlungen skeptisch bis ablehnend gegenüber.

Daneben sind die sozialen, politischen und ökologischen Wirkungen der ver-
gangenen Liberalisierungsrunden bisher nicht ausreichend behandelt worden.
Der ökonomischen Globalisierung steht keine politische Globalisierung gegen-
über, die im Sinne von Nachhaltigkeit regulierend eingreift. Im EU-Mandat
wird darauf hingewiesen, dass auch in Europa in zunehmendem Maße darüber
diskutiert wird, wie sich die Globalisierung auf die Beschäftigung, die Vermö-
gensverteilung, die Entwicklung, die Umwelt, den Gesundheits- und Verbrau-
cherschutz sowie die kulturelle Vielfalt auswirkt, ohne dass dies jedoch bislang
Konsequenzen nach sich gezogen hat. Ein erster Bericht wird der Kommission
erst Ende 1999 vorliegen, also erst nach der Tagung in Seattle.

Erst die Auswertung und umfassende Diskussion dieser Ergebnisse könnte die
Basis für eine sozial-, umwelt- und entwicklungsverträgliche Reform darstellen.

Diese Eile macht jedoch einen demokratischen Diskussions- und Abstim-
mungsprozess unmöglich.

Undemokratisch und intransparent ist die unzureichende Einbindung der natio-
nalen Parlamente und der Zivilgesellschaften. Dies zeigte sich beim Zustande-
kommen des EU-Mandats.

Noch deutlicher zeigt sich dies in der WTO selbst, deren innere Struktur und
Einbindung in die internationalen Systeme grundlegende Demokratiedefizite
aufweist. Weder die nationalen Parlamente noch die Zivilgesellschaften sind in
die Entscheidungsstrukturen eingebunden. Eine demokratische Reform der
WTO sollte damit vor einer weiteren Liberalisierungsrunde stehen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf,

1. sich dafür einzusetzen, dass auf der WTO-Ministertagung keine weitere um-
fassende Liberalisierungsrunde des Welthandels eingeleitet wird;

2. sich stattdessen dafür einzusetzen, dass eine Evaluierung der Auswirkungen
der bisherigen Liberalisierungspolitik und der Uruguay-Runde für die Indus-
trie-, Schwellen- und insbesondere Entwicklungsländer hinsichtlich der so-
zialen und ökologischen Situation, der Lage von Frauen und Kindern, der
Menschen- und Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenrechte, der Beschäf-
tigung und Vermögensverteilung und der Entwicklungsperspektiven der
Länder des Südens begonnen wird. In diese Evaluierung sind die nationalen
Parlamente und die Zivilgesellschaft einzubinden;

3. für eine umfassende Demokratisierung der WTO unter Einbeziehung der na-
tionalen Parlamente und der Zivilgesellschaften einzutreten und sie in den
Rahmen der UN-Entwicklungsinstitutionen einzubinden;
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4. für die Entwicklungsländer das Prinzip der Sonderbehandlung („special and
differential treatment“) im Rahmen der WTO zu stärken, indem diese nicht
nur als Ausnahmeregelungen Anwendung findet, sondern als grundsätz-
liches Recht in allen WTO-Beschlüssen solange festgeschrieben wird,
solange die ökonomischen Ungleichgewichte zwischen Nord und Süd/Ost
bestehen;

5. für den Bereich Dienstleistungen dafür einzutreten, dass

– Verhandlungen wie bisher im Rahmen des GATS (General Agreement on
Trade and Services) geführt werden, um so den Entwicklungsländern ih-
rem speziellen Entwicklungsstand angepasste Schutzregeln zuzugestehen;

– prinzipiell ein Recht für jede nationale Regierung besteht, spezielle
Dienstleistungen (Bildung, Gesundheit, Kultur, öffentlicher Verkehr,
Wasser-, Abwasser- und Energieversorgung etc.) zu nicht handelbaren öf-
fentlichen Gütern zu erklären, deren Liberalisierung nicht gegen den Wil-
len der jeweiligen nationalen Regierung durchgeführt werden kann;

– bei Finanzdienstleistungen, aufgrund der Rolle des liberalisierten Finanz-
sektors bei den jüngsten Finanzkrisen, auf Maßnahmen zum Schutz vor
Spekulation, insbesondere kurzfristige Spekulation

,

wie z.B. durch Tobin-
Steuer und Kapitalverkehrskontrollen, hinzuwirken;

6. sich für den Bereich Investitionen dafür einzusetzen, dass

– dieses Thema nicht in der WTO verhandelt wird, sondern durch eine Kon-
ferenz auf UN-Ebene mit allen relevanten Institutionen (UNCTAD,
UNDP, ILO, UNEP etc.);

– Transparenz herrscht, eine Partizipation der betroffenen Länder, sozialer
Gruppen und Parlamente gewährt ist und sämtliche internationalen Stan-
dards für die Bereiche Arbeit, Umweltschutz etc. anerkannt werden;

– bis zur Ausarbeitung solcher Standards ein Moratorium bezüglich aller
Vereinbarungen internationaler Organisationen bzw. Organisationen der
Industrieländer (OECD, WTO, NAFTA, EU), die einer weiteren Liberali-
sierung zum Abbau der Regulierung von Direktinvestitionen dienen, ver-
hängt wird;

– die Entwicklungs- und Schwellenländer mit personeller Ausstattung und
fachlicher Kompetenz unterstützt werden, um die bestehenden Bestim-
mungen des GATT und anderer Vorschriften (z.B. freiwillige Kodizes)
nachvollziehen zu können;

– bei allen Verhandlungen über Investitionsregeln, wie in der EU-Verhand-
lungsposition skizziert, das Recht auf innerstaatliche Regelung der Inves-
tition beibehalten wird;

– die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften, der sozialen Bewegungen
und der Politik gegenüber international agierenden Unternehmen gestärkt
wird;

– im EU-Mandat die Verpflichtung für einen europäischen Verhaltenskodex
für in Entwicklungsländern tätige europäische Unternehmen eingegangen
wird, der einen Überwachungs- und Sanktionsrahmen einschließt;

7. für den Bereich Wettbewerbspolitik dafür zu sorgen, dass

– die Entwicklung eines internationalen Wettbewerbsrechts unter der Maß-
gabe steht, die Macht der transnationalen Konzerne (TNC)

zu begrenzen
(z.B. durch die Festlegung von Obergrenzen für Weltmarktanteile und die
Verbesserung der internationalen Fusionskontrolle);
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– die übrigen internationalen Institutionen, vor allem diejenigen, die sich
auf UN-Ebene mit Fragen zu transnationalen Konzernen beschäftigen,
einbezogen werden;

– die Entwicklungsländer bei den notwendigen gesetzgeberischen und insti-
tutionellen Anpassungen durch finanzielle und technische Hilfe sowie
flexible Übergangsphasen unterstützt werden;

– Forderungen, wie sie in den OECD-Leitsätzen, dem EU-Verhaltenskodex
für transnationale Unternehmen etc. beschrieben werden, als rechtsver-
bindliche und sanktionsfähige Pflichten der Unternehmen etabliert werden;

– das nationale Kartellrecht den internationalen Anforderungen angepasst
und die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Wettbewerbsbehörden
verstärkt wird, so dass Konzentrationsprozesse wirkungsvoll verhindert
werden;

– eine weitreichende Publizitäts- und Offenlegungspflicht für die Unterneh-
men weltweit einheitlich geregelt wird, um die Informationsdefizite zu
minimieren und die Strategien der Konzerne der politischen Diskussion
frühzeitig zugänglich zu machen;

– menschenrechtliche, soziale, gewerkschaftliche und ökologische Min-
deststandards ein Kernbestandteil jeder Wettbewerbsordnung werden;

– ein internationales unabhängiges Schiedsgericht eingerichtet wird. Neben
der Streitschlichtung ist auch ein Petitions- und Klagerecht für nichtstaat-
liche Akteure (Gewerkschaften, NGOs, indigene Gemeinschaften etc.)
einzuführen, das Sanktions- und Schadenersatzregelungen beinhalten
sollte;

8. sich hinsichtlich sozialer und gewerkschaftlicher Standards dafür einzuset-
zen, dass

– die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), wie
bereits auf der Konferenz von Singapur beschlossen, mittels einer Klausel
oder eines Artikels über Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenrechte
aufgenommen, von allen WTO-Mitgliedsländern eingehalten werden und
ein Verfahren zur Duchsetzung bei Verstoß entwickelt wird;

– bestehende Sonderwirtschaftszonen oder sog. Freie Produktionszonen ab-
geschafft werden und keine neuen eingerichtet werden, um so das Umge-
hen sozialer und gewerkschaftlicher Standards zu verhindern;

– ein WTO-Ausschuss zum Thema „Beziehungen zwischen Handel und Ar-
beitsnormen“ eingerichtet wird, analog zur 1994 bei der Ministerkonfe-
renz in Marrakesch beschlossenen Einrichtung des Ausschusses für Han-
del und Umwelt (CTE);

– eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen ILO und WTO in den
Bereichen handelspolitischer Überprüfung, Streitbeilegungsverfahren und
Überwachung der Kernarbeitsnormen ermöglicht wird;

– die WTO den UN-Sonderorganisationen ILO, UNEP, UNDP sowie dem
Frauenentwicklungsprogramm UNIFEM den Beraterstatus gibt, damit sie
in den Ausschüssen bei der Behandlung sozialer Fragen einbezogen wer-
den können;

– den Entwicklungsländern, insbesondere bei Programmen des IWF und
der Weltbank, Hilfestellung bei der Umsetzung und Einhaltung der Men-
schen- und Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenrechte gewährt wird;
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9. für Handelserleichterungen Schritte einzuleiten, um

– die Finanzierung der im EU-Mandat erwähnten technischen Hilfen bei
der Umstellung der Außenhandelsprozeduren für Entwicklungsländer zu
sichern und ihnen angemessene Übergangsfristen einzuräumen;

– den zollfreien Zugang zu Märkten der Industrieländer für Produkte aus
den am wenigsten entwickelten Ländern (LLDC) zu ermöglichen;

10. für den Bereich öffentliches Beschaffungswesen dafür einzutreten, dass

– Regeln definiert werden, die eine Förderung nationaler bzw. regionaler
Wirtschaftsstrukturen und eine bevorzugte Behandlung von einheimi-
schen Unternehmen mit der Maßgabe der Stärkung des Binnenmarktes
ermöglichen;

– Analysen zu den Auswirkungen der Liberalisierung des Beschaffungs-
wesens erstellt werden;

– „Local content Klauseln“ (Anteil der im Inland erstellten Güter/Dienst-
leistungen etc.) eingeführt und - wo vorhanden - aufrecht erhalten wer-
den können;

– Regeln zur Vermeidung von Korruption im öffentlichen Beschaffungs-
wesen erstellt und durchgesetzt werden;

11. für den Bereich Landwirtschaft sich dafür einzusetzen, dass

– den Bauernorganisationen und den agrarischen Nichtregierungsorgani-
sationen die Möglichkeit gegeben wird, ihre Positionen in die WTO ein-
zubringen. Insbesondere sind die Organisationen der Kleinbauern in den
Entwicklungsländern auch finanziell zu fördern, damit sie ihre Interes-
sen bei der Umsetzung und Einhaltung von Vereinbarungen nachkom-
men können;

– Vereinbarungen geschlossen werden, die nachhaltige Ernährungssiche-
rung und Hungerbekämpfung gewährleisten. Deshalb sind möglichst ge-
naue Anforderungen an die Umwelt- und Gesundheitsstandards zu for-
mulieren und durchzusetzen;

– zur Sicherung der multifunktionalen Aufgaben der Landwirtschaft den
nationalen Regierungen die Möglichkeit eingeräumt wird, eine wettbe-
werbsneutrale Förderung der ländlichen Räume und der nichtagrarischen
Aufgaben der Landwirtschaftsbetriebe (Pflege der Landschaft, Erho-
lungs- und Kulturfunktion) vorzunehmen. Ziel dabei muss die gleichbe-
rechtigte Entwicklung aller Regionen sein;

– die Chance eines gleichberechtigten Zugangs zu den Agrarmärkten er-
öffnet wird. Dabei ist den wirtschaftlich schwachen Ländern, insbeson-
dere Entwicklungsländern, bei der Realisierung hoher Gesundheits- und
Umweltstandards finanziell, materiell und personell zu helfen (z.B. Min-
destmarktzugangsquoten, Senkung der Zolleskalation);

– Entwicklungsländern Unterstützungen zur Reduzierung der Exportmo-
nokultur gegeben werden mit dem Ziel, einen wachsenden Anteil des
Nahrungsgüterbedarfs durch eigene Produktion zu decken;

– von den Industrieländern für die Entwicklungsländer zur Erhaltung und
zum Schutz von Naturreichtümern (global common goods) und der Um-
welt schlechthin

finanzielle Mittel bereitgestellt werden.

Berlin, den 26. Oktober 1999
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Begründung

Die Handelsliberalisierungen und deren Umsetzung durch die WTO in den ver-
gangenen vier Jahren zeigen, dass Regierungen ihren Gestaltungsspielraum
durch die Verlagerung von Entscheidungen auf die WTO begrenzen. In den
Bereichen Gesundheits- und Arbeitsschutz, ökologische Standards, Umwelt-
schutz, Ernährungssicherheit kam es zu signifikanten Eingriffen bzw. wurden
diese nur durch Androhung nationaler und kommunaler Regierungen, das
WTO-Schiedsgericht anzurufen, zurückgenommen. In der jüngsten umfangrei-
chen Studie (Whose Trade Organization? Corporate Globalization and the
Erosion of Democracy) des größten amerikanischen Verbraucherverbandes
Public Citizen wird dies anhand 100 konkreter Fälle anschaulich belegt. Ent-
scheidungen werden von Verantwortlichen in der WTO getroffen und durchge-
setzt, die sich keiner demokratischen Wahl stellen und sich nicht vor der kriti-
schen Öffentlichkeit verantworten müssen. Die nationalen Regierungen
wiederum unterstützen diese Form der Entdemokratisierung mit dem Hinweis
darauf, dass nur Handelsliberalisierungen den sozialen und ökonomischen Fort-
schritt sichern würden.

Soziale, ökologische und ökonomische Ziele, die eine Gesellschaft festlegt, um
sie mittels politischen Handelns z.B. über den öffentlichen Sektor umzusetzen,
werden durch die rechtlich verbindlichen und sanktionsfähigen Regeln der
WTO behindert bzw. unmöglich gemacht. Die Verfügbarkeit von öffentlichen
Gütern, ein sozial-ökologischer Umbau durch die Förderung regionaler Wirt-
schaftsstrukturen oder der bewusste Schutz sozialer, kultureller und ähnlicher
Dienstleistungen vor dem Marktwettbewerb diente in der Vergangenheit zur Er-
höhung der Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft.

Absatzchancen für Produkte aus den Entwicklungsländern lassen sich durch ei-
nen verbesserten Marktzugang erhöhen. Ebenso wird sich

in den Industrielän-
dern die weitere Liberalisierung für einige Branchen und Unternehmen positiv
auswirken.

Eine Kompensation der negativen Effekte wird sich jedoch ohne politische Re-
gulierung nicht einstellen. Unternehmen und Wirtschaftspolitik setzen zuneh-
mend auf den Export und die Erhöhung der Weltmarktanteile. Die Folgen sind
weltweite Überproduktion und ein verschärfter Verdrängungswettbewerb. Per-
manente Exportüberschüsse bedeuten in anderen Ländern häufig Niederlagen
in ihren Exportanstrengungen bzw. Einfuhrüberschüsse. Weitere Fusionen mit
massivem Stellenabbau und Einschränkungen der Arbeitnehmerrechte, Umver-
teilung zu Gunsten der Gewinne und eine generelle Wachstumsschwäche bei
hohem Rationalisierungsdruck werden folgen.

Die Handlungsfähigkeit nationaler Politik wird eingeschränkt. Regierungen
werden gedrängt, soziale und ökologische Standards und Rechte zu deregulie-
ren. Unternehmen entziehen sich zunehmend der sozialen Verantwortung und
Teilhabe an den gesellschaftlichen Kosten. Stattdessen treiben gerade die trans-
nationalen Konzerne die Regierungen in Steuerdumpingskonkurrenz, eine der
Hauptursachen für die Staatsverschuldung. All dies wird die Binnenmärkte
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schwer belasten und die Arbeitslosigkeit weltweit erhöhen. Gerade die Unter-
nehmen mit einer Außenabhängigkeit von mehr als 40 % haben in der Bundes-
republik Deutschland seit 1980 die meisten Arbeitsplätze abgebaut.

Die soziale und wirtschaftliche Marginalisierung von Menschen, Ländern und
ganzen Ländergruppen lässt sich allein mit dem freien Welthandel nicht verhin-
dern. Denn in den meisten Entwicklungsländern gibt es neben dem Export von
Rohstoffen und tropischen Gütern nur wenig Waren, die sich überhaupt auf den
„Weltmärkten“ verkaufen lassen.

Handel kann das Wachstum und die Entwicklung unterstützen. Um jedoch am
Handel überhaupt teilzunehmen, bedarf es mehr als nur Liberalisierung, Dere-
gulierung und Wettbewerb. Die industrielle Basis für die gleichberechtigte Teil-
habe am Welthandel fehlt den meisten Ländern, so dass der weltweite Wettbe-
werb und der Handel unter ungleichen Partnern stattfindet.

Damit verteilen sich die positiven und negativen Wirkungen des Welthandels
ebenfalls ungleich: Die Industrieländer profitieren, die Entwicklungsländer ver-
lieren überproportional. Auch dies wurde u.a. von der OECD bereits 1993 in ei-
ner Studie (Trade Liberalization: Global Economic Implications) prognostiziert
und 1995 durch einen Bericht des Congressional Research Service an den
US Congress (GATT: The Uruguay Round Agreement and Developing Coun-
tries) bestätigt. Globalisierung und mit ihr die Handelsliberalisierung hatte nur
für wenige Länder positive Effekte. Gewinner waren vor allem die EU, die
USA und Japan. Die Fakten sind eindeutig: Laut Weltentwicklungsbericht
1999 des UNDP bedient die Gruppe der Industrieländer 82 % der Weltmärkte
und vereinigt auf sich 68 % der Direktinvestitionen. Der Einkommensunter-
schied zwischen dem reichsten und dem ärmsten Fünftel der Weltbevölkerung
wuchs von 30 zu 1 (1960) auf 74 zu 1 (1997). Der Marktanteil der zehn größten
Konzerne betrug 1998 im Bereich Telekommunikation 86 %, Pestizide 85 %,
Computer 70 %, Veterinärmedizin 60 %, Pharmazie 35 % und Saatgut 32 %.
Unternehmen in den Industrieländern hielten 97 % aller weltweiten Patente.

Auch der Hinweis auf die positiven Effekte der Handelsliberalisierung auf das
Wachstum, vor allem das Pro-Kopf-Einkommen, sind in dieser vereinfachten
Form nicht zutreffend. Integration in den Welthandel durch Liberalisierung ist
ein Versprechen, das in der Realität nicht eingelöst werden konnte. Nach mehr
als einer Dekade dieser Politik besteht nach wie vor Zahlungsungleichgewicht
in den Entwicklungsländern, eine hohe Verschuldung. Die Entwicklungsländer
sind stärker denn je auf externe Finanzmittel angewiesen. Nach dem Trade and
Development Report 1999 der UNCTAD spiegelt sich dies u.a. darin wider,
dass das Wachstum in den Entwicklungsländern generell unter dem durch-
schnittlichen Wachstum der 70er Jahre von 5,7 % liegt. Gleichzeitig stieg ihr
Handelsbilanzdefizit in den 90er Jahren deutlich an und liegt über den Werten
aus den 70er Jahren. Ihre Verschuldungsrate ist schneller gestiegen als die Ein-
nahmen aus den Exporten. Ab den 90er Jahren galt dies auch für die „erfolgrei-
chen“ Schwellenländer. Das langsame Wachstum war bei einer hohen Anzahl
von Entwicklungsländern mit Deindustrialisierung und Stagnation auf dem
Binnenmarkt verbunden. Die Volkswirtschaften, die ein hohes Wachstum er-
zielten, finanzierten ihre steigenden Handelsbilanzdefizite zunehmend über den
externen Kapitalzufluss in Form von Direktinvestitionen und Krediten aus dem
Privatsektor. Dies führte zu Währungskrisen, was zu massiven negativen Aus-
wirkungen auf Produktion und soziale Sicherung in den betreffenden Ländern
führte.

Ähnlich negative Wirkungen ergeben sich aus der Verteilungswirkung der
Liberalisierung, wie in den Berichten von UNCTAD, UNDP oder der ILO
nachgewiesen wird. Es steigt nicht nur die Ungleichverteilung von reich und
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arm zwischen den Ländern, sondern die Ungleichverteilung innerhalb aller
Länder erhöhte sich: Die Kluft zwischen qualifizierten und unqualifizierten Be-
schäftigten steigt sowohl im Norden als auch im Süden. Die Restrukturierung
im Zuge der internationalen Arbeitsteilung z.B. durch Outsourcing führt zu
niedrigeren Löhnen, einer geringeren sozialen Sicherung und der Reduzierung
gewerkschaftlicher Rechte. Die Rückflüsse aus Gewinnen und Vermögen stie-
gen schneller als die Löhne der abhängig Beschäftigten. Die Reichtumskonzen-
tration nahm zu und die überschüssigen Mittel wurden immer weniger beschäf-
tigungsintensiv investiert. Für die Liberalisierung der Landwirtschaft kann
festgestellt werden, dass die Gewinne zunehmend bei den Händlern verbleiben
und nicht an die Bauern gehen. Sie haben für ihre Exportprodukte keine höhe-
ren Preise erzielt.

Zahlen zum Exportwachstum oder zur Produktion sagen nur wenig oder gar
nichts über die sozialen Wirkungen des Handels aus. Genauso wenig sagen sie
etwas über die Akteure des Welthandels und darüber, wie sich die Gewinne und
Verluste konkret verteilen. Die eindeutigen Gewinner der Handelsliberalisie-
rung sind internationale Unternehmen, wobei 40 % des gesamten Welthandels
innerhalb transnationaler Konzerne stattfindet und ca. 32 % zwischen den Kon-
zernen. Handel fördert zwar die internationale Arbeitsteilung, gleichzeitig aber
auch die Verlagerung von Produktionsstandorten und das Umgehen sozialer,
ökologischer und gewerkschaftlicher Standards. Der Wettlauf um die lukrativs-
ten Produktionsbedingungen für die Unternehmen und gleichzeitig um die
schlechtesten Bedingungen für die Beschäftigten ist somit das Ergebnis der Li-
beralisierung, wie sie von der WTO durchgesetzt wird und liegt auch nicht im
Interesse der Verbraucher.

Seit Beginn der 50er Jahre sinkt der Welthandelsanteil der Entwicklungsländer.
Trotz hoher Wachstumsraten des Welthandels insgesamt und Exportzuwächsen
der Entwicklungsländer ging ihr Welthandelsanteil kontinuierlich zurück. Dies
gilt vor allem für die traditionellen Bereiche Rohstoffe und agrarische Güter.
Die OECD-Länder weiteten den Grad ihrer Selbstversorgung nachhaltig aus.
Die Mehrzahl der ca. 120 Entwicklungsländer exportiert überwiegend Primär-
güter und verliert damit an Bedeutung. Eine Kompensation durch den Export
von industriellen Fertigwaren gelang nur wenigen asiatischen und lateinameri-
kanischen Schwellenländern. Generell stagnierte der Export von Fertigwaren
auf niedrigem Niveau und fällt in einer wachsenden Zahl von Entwicklungslän-
dern auf marginale Größen zurück. Mit dem Ausbruch der asiatischen Finanz-
krise vor zwei Jahren gerieten auch die bis dato „erfolgreichen“ Schwellenlän-
der mit ihrer exportorientierten Entwicklungsstrategie in eine Krise, die bisher
nicht überwunden wurde. Die ungleichen Wirkungen der Globalisierung sind
nicht durch mehr Liberalisierung auszugleichen, denn die Ungleichheit ist Er-
gebnis der Liberalisierung. Sie schränkt in ihrer gegenwärtigen Form die sozi-
ale Entwicklung ein und konzentriert immer mehr Macht bei internationalen
Konzernen, die den Handel nach ihren Interessen gestalten. Deregulierung und
Handelsliberalisierung sind in der Realität die Regulierung des Handels durch
Unternehmen, Banken und Fonds. Entdemokratisierung und soziale Spaltung
sind ihr Ergebnis.

Zunächst wären also Voraussetzungen zu schaffen, die eine soziale und demo-
kratische Entwicklung erst ermöglichen. Unabhängig von den Forderungen
nach einer dementsprechenden Politik in den Entwicklungsländern sind dafür
die Bedingungen, wie sie durch die Industrieländer gesetzt werden, bestim-
mend. Von ihnen wird entschieden, ob und welche Entwicklung stattfindet.
Eine der maßgeblichen Institutionen dabei ist die WTO, die die „Verfassung der
Globalisierung“ schreibt, wie ihr ehemaliger Generalsekretär Renato Ruggiero
äußerte. Folglich sind die Bundesrepublik Deutschland und Europa mit dafür
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verantwortlich, welche Richtung die Globalisierung nehmen soll: Zunehmen-
der Verdrängungswettbewerb, Machtkonzentration bei Unternehmen, Banken
und Finanzfonds, Verteilungskonflikte und soziale Spaltung oder eine Welt-
wirtschaftsordnung, die den Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe ermög-
licht. Dafür ist eine Politik notwendig, die wirkungsvolle Instrumentarien zur
Fusionskontrolle und Bankenaufsicht entwickelt, die Umverteilung von oben
nach unten beendet, die demokratischen Mitbestimmungsrechte auf allen Ebe-
nen, auch in den Unternehmen, erhöht und eine gerechte Weltwirtschaftsord-
nung fördert. Die politische Regulation des internationalen Handels steht damit
auf der Tagesordnung. Eine Transformation der WTO ist somit unumgänglich.

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