BT-Drucksache 14/1689

Bericht des Auswärtigen Amtes zur Menschenrechtslage in der Türkei

Vom 29. September 1999


Deutscher Bundestag Drucksache 14/1689
14. Wahlperiode 29. 09. 99

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS

Bericht des Auswärtigen Amts zur Menschenrechtslage in der Türkei

Das Auswärtige Amt hat nun den seit langer Zeit diskutierten Lagebericht zur
Türkei fertiggestellt. Der 33-seitige Bericht soll den deutschen Behörden und
Verwaltungsgerichten als Grundlage für Asylentscheidungen dienen.

Auch nach dem neuen Lagebericht lehnt das Auswärtige Amt weiterhin ab, von
einer Gruppenverfolgung von Kurdinnen und Kurden in der Türkei zu spre-
chen, und behauptet weiter die Existenz einer angeblichen „Fluchtalternative in
der Westtürkei“.

Der neue Lagebericht hat deshalb an der Rechtslage der kurdischen Flüchtlinge
nichts geändert. Das Oberverwaltungsgericht in Münster hat am 15. September
1999 stattdessen unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den neuen Bericht ent-
schieden, dass „Kurden in keinem Landesteil der Türkei einer politischen Ver-
folgung allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit ausgesetzt“ seien. Auch würden
nach diesem Urteil Kurden bei ihrer Rückkehr, wenn sie vorher nicht als PKK-
Aktivisten tätig waren, keiner staatlichen Verfolgung ausgesetzt.

Gerade aufgrund dieser Aspekte aber haben Flüchtlingsorganisationen in der
Bundesrepublik Deutschland und Menschenrechtsorganisationen in der Türkei
seit langem gefordert, einen Abschiebestopp für kurdische Flüchtlinge in die
Türkei zu veranlassen. Weil eine Gruppenverfolgung von Kurdinnen und Kur-
den in der Türkei vorliegt und weil die Westtürkei keine sichere Alternative für
kurdische Flüchtlinge ist, forderten sie eine Korrektur der deutschen Türkei-
und Kurdenpolitik in dieser Frage. Der niedersächsische Flüchtlingsrat hat zu-
dem in zahlreichen Fällen die Verfolgung und Folterung von wieder in die Tür-
kei abgeschobenen kurdischen Flüchtlingen dokumentiert. Diese Korrektur der
deutschen Türkei- und Kurdenpolitik steht damit auch nach der Vorlage des
neuen Lageberichts des Auswärtigen Amtes weiterhin aus.

Wie die wirkliche Situation kurdischer Menschen in der Westtürkei aussieht,
hat der türkische Menschenrechtsverein IHD in einer Falldokumentation vom
Dezember 1998 beschrieben. Die Dokumentation beschreibt die Lebenssitua-
tion von kurdischen Flüchtlingen in Istanbul, unter welchen katastrophalen so-
zialen und politischen Bedingungen Kurdinnen und Kurden generell in der
Westtürkei leben. In der Broschüre heißt es: „Sie leben nach der Flucht in
Stadtteilen ohne Infrastruktur, in schlechten, meist illegal gebauten Häusern. In
diesen Wohngebieten führt die Polizei fortwährend Kontrollen durch (…).
Diese Menschen leben in der Angst, selbst aus den äußersten Randgebieten
Istanbuls, wo sie ‚hängengeblieben‘ sind, wieder vertrieben zu werden. Viele
haben ihren Wohnort nicht gemeldet. Der Grund hierfür ist die Tatsache, dass

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sie in der Regel, wo immer sie auch hinkamen, sich den staatlichen Sicherheits-
kräften gegenüber sahen und der Angst ausgesetzt waren, dies könne an ihrem
jetzigen Aufenthaltsort wieder geschehen. Sie wollen sich sozusagen verste-
cken und von niemanden gesehen werden. Eine Meldebestätigung aus ihren
Heimatdörfern können die Vertriebenen nicht beibringen, da diese Dörfer nicht
mehr existieren. Schon deshalb wäre es ihnen auch nicht möglich, sich an ih-
rem jetzigen Wohnort anzumelden. Somit können sie gleichzeitig auch eine
Menge sozialer und wirtschaftlicher und medizinischer Leistungen nicht in
Anspruch nehmen.“ (Broschüre des Türkischen Menschenrechtsvereins IHD,
Sektion Istanbul: Über die Lebensbedingungen kurdischer Flüchtlinge in Istan-
bul, S. 72).

In direkter Kritik an der deutschen Asylpolitik heisst es in der gleichen Bro-
schüre: „In Deutschland werden die Asylgesuche von kurdischen Flüchtlingen
häufig abgelehnt mit der Begründung, dass sie in der Westtürkei Zuflucht fin-
den könnten. Die Tatsache aber, dass in den Städten der Westtürkei kaum noch
Flüchtlinge aufgenommen werden können und diese Menschen vor den Re-
pressalien der Sicherheitskräfte keineswegs sicher sein können, wie es in den
vorliegenden Fällen zum Ausdruck kommt, macht diese Begründung der Asyl-
verfahren absurd.“ (ebenda, S. 3).

Darüber hinaus heisst es in der Dokumentation, dass Kurden keine Möglichkeit
haben, eine reguläre Arbeit in der Westtürkei zu finden. Sie sind in erster Linie
im Textil- und Bausektor beschäftigt, ohne Versicherungsschutz und soziale
Absicherung, ihre Bezahlung liegt unter dem gesetzlichen Mindestlohn, bei Ar-
beitszeiten von mehr als 12 Stunden täglich. Bereits kleine Kinder sind deshalb
gezwungen, zum Lebensunterhalt der Familien beizutragen. „Wer selbständig
als Straßenhändler, Muschelverkäufer o.ä. arbeitet, ist ständig in der Gefahr,
durch die Ungleichbehandlung und das grobe Verhalten der städtischen Polizei
seine Waren, seinen Verkaufsstand und damit seine Arbeit zu verlieren.“

Auch nach Berichten der Menschenrechtsstiftung (TIHV) wurden kurdische
Flüchtlinge aus Städten in der Westtürkei vertrieben und ihre Häuser und Ar-
beitsstätten zerstört, lediglich weil sie kurdischstämmig waren.

Darüber hinaus sind Kurden nicht nur in den kurdischen Provinzen einer will-
kürlichen Verfolgung durch staatliche Sicherheitskräfte ausgesetzt. Auch in der
Westtürkei kann eine Person, wenn in ihren Ausweispapieren eine kurdische
Provinz als Geburtsort angegeben ist, verfolgt werden. Die Herkunft aus einer
kurdischen Provinz kann dazu führen, dass Kurden als potentielle „Separatis-
ten“ verfolgt, inhaftiert und gefoltert werden.

Nach einer Feststellung der Menschenrechtsorganisation amnesty international
vom März 1999 kommt es in der Westtürkei zunehmend zu Übergriffen der Si-
cherheitskräfte auf kurdische Flüchtlinge. „Immer weniger ist dabei ein konkre-
ter Tatverdacht gegen die betroffenen Personen ausschlaggebend. Immer wie-
der werden von Kurden bewohnte Stadtteile abgeriegelt oder kurdische
Versammlungen und Feste gestört und willkürlich Personen festgenommen.
Die Festgenommenen sind während der Polizeihaft sehr häufig Misshandlun-
gen und Folter ausgesetzt. Unter Folter erpresste Aussagen werden oft als Be-
weismittel in Gerichtsverfahren zugelassen.“ (amnesty international, 2. März
1999).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Aufgrund welcher Erkenntnisse geht das Auswärtige Amt davon aus, dass
keine Gruppenverfolgung der Kurden in der Türkei vorliegt und dass für
Kurden in der Westtürkei eine Fluchtalternative existiert?

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2. Wie erklärt sich das Auswärtige Amt, dass der Menschenrechtsverein IHD
als eine in der Westtürkei tätige und international anerkannte Menschen-
rechtsorganisation zu einer gänzlich anderen Einschätzung der politischen
und sozioökonomischen Situation von kurdischen Flüchtlingen als das
Auswärtige Amt kommt?

3. Aus welchem Grund ist der Bericht des Menschenrechtsvereins nicht in die
Bewertung der Lage von Kurden in der Westtürkei einbezogen worden?

4. In welchen für Asylentscheidungen relevanten Gesichtspunkten unter-
scheidet sich der aktuelle Lagebericht von denen der früheren Berichte?

5. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die von amnesty internatio-
nal im März dieses Jahres beschriebene zunehmende Repression gegen
kurdische Flüchtlinge sich erledigt hat?

Wenn ja, aufgrund welcher Erkenntnisse kommt die Bundesregierung zu
dieser Schlussfolgerung?

6. Welche Bedingungen müssen vorliegen, damit eine Gruppenverfolgung an-
erkannt wird?

7. Was unterscheidet nach Auffassung der Bundesregierung die Lage der Ko-
sovo-Albaner, bei denen eine pauschale Verfolgung anerkannt wurde, von
der Verfolgung der Kurden in der Türkei?

8. Welche Institutionen haben bei der Erstellung des Lageberichts mitgewirkt,
und wer hat über seine Endfassung entschieden?

9. Wer oder welche Institutionen haben Einsicht in den Lagebericht zur Tür-
kei?

10. Wird der Lagebericht allen Entscheidungsorganen in Asylverfahren von
kurdischen Flüchtlingen (inkl. Verteidigung und Bundesamt für die Aner-
kennung ausländischer Flüchtlinge) zur Verfügung gestellt?

Berlin, den 22. September 1999

Ulla Jelpke
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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