BT-Drucksache 14/1619

Die Bundesregierung und ihre Haltung gegenüber ehemaligen NS-Firmen bei Entschädigungsverfahren von jüdischen Opfern vor amerikanischen Gerichten

Vom 15. September 1999


Deutscher Bundestag Drucksache 14/1619
14. Wahlperiode 15. 09. 99

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke-Reymann, Ulla Jelpke,
Petra Pau und der Fraktion der PDS

Die Bundesregierung und ihre Haltung gegenüber ehemaligen NS-Firmen bei
Entschädigungsverfahren von jüdischen Opfern vor amerikanischen Gerichten

In seiner Sendung vom 12. August 1999 brachte „Monitor“ einen Bericht über
ein Entschädigungsverfahren von jüdischen Opfern gegen die Degussa AG.

Der Bericht von „Monitor“ wurde mit den Worten anmoderiert: „Während des
Nazi-Regimes hat die ‚Deutsche Gold- und Silberscheidanstalt‘ Degussa ge-
raubten Schmuck und Zahngold aus Vernichtungslagern und Ghettos einge-
schmolzen und damit Millionen verdient. Holocaust-Opfer haben deshalb bei
einem amerikanischen Gericht Klage gegen die Degussa AG eingereicht. Doch
ihre Prozess-Chancen sind schlecht. Denn die Bundesregierung, die öffentlich
erklärt, mit einem Entschädigungsfonds aus Mitteln der Industrie erlittenes
NS-Unrecht abmildern zu wollen, hat vor einem amerikanischen Gericht mas-
siv Partei für die Degussa ergriffen und sie geradezu als ein Opfer des NS-Re-
gimes dargestellt.“

„Monitor“ geht in seinem Bericht auf die Klage einer Jüdin gegen die Degussa
AG vor einem Gericht in New Jersey ein:

„Der Außenminister Joschka Fischer hat in Absprache mit Bundeskanzler Ger-
hard Schröder einen offiziellen Brief an das amerikanische Gericht geschrie-
ben, um in dem Verfahren A. B.–F. gegen die Firma Degussa die Position der
deutschen Bundesregierung klarzumachen. Dies ist nach amerikanischem
Recht mit einem sogenannten ‚Amicus Curiae‘-Brief möglich. In diesem Brief
vom 15. Juni diesen Jahres versucht die Bundesregierung wider besseren Wis-
sens Einfluss auf den Prozess zugunsten der Firma Degussa zu nehmen. In dem
Brief heißt es: ‚Die Industrie wurde gezwungen, die Ziele zu erfüllen, die zur
Produktion von Materialien für die Kriegswirtschaft aufgestellt wurden. (…) Je
wichtiger wirtschaftliche Aktivitäten wurden, um Krieg zu führen und für die
Zerstörungspläne der Nazis, um so schwieriger wurde es, die Forderungen des
Staates zu umgehen. Das trifft im Besonderen auf die frühere Degussa zu, die
ein Monopol auf dem Gebiet des Schmelzens von Edelmetallen hatte.‘“

„Monitor“ konfrontiert diesen Brieftext mit Äußerungen des Historikers Hans
Mommsen, der sich intensiv mit der Rolle der Industrie im Dritten Reich be-
schäftigt hatte. Hans Mommsen widerspricht der Behauptung der deutschen
Bundesregierung entschieden. „Monitor“ gibt seine Äußerungen wie folgt wie-
der: „Nach dem, was wir wissen, ist es genau umgekehrt gelaufen. Dass die De-
gussa sich um diese Aufträge bemüht hat, und insofern war Degussa ein klarer
Komplize des Dritten Reiches und hat nicht nur in einer Zwangssituation ge-

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handelt. Etwa unter der Fiktion, bei einer Zurückweisung bestimmter Aufträge
dann das Monopol in dem Bereich des Einschmelzens zu verlieren. Jedenfalls
müsste, wenn man das Gegenteil behaupten will, dies im Einzelnen nachgewie-
sen werden.“

„Monitor“ weiter in seinem Bericht: „Das Ghetto Lodz, das die deutschen
‚Litzmannstadt‘ nannten. Hier starben von 1940 bis 1943 43 000 Menschen an
Krankheit und Hunger. Die Juden mussten ihre Vermögenswerte, Schmuck,
Gold und Silber an die Ernährungs- und Wirtschaftsstelle des Ghettos abgeben.
Die Degussa-Filiale in Berlin, Französische Straße 33, warb intensiv um den
Auftrag des Ghettos, Gold und Silber aus jüdischem Besitz zu verwerten. Das
belegt der Schriftverkehr zwischen der Firma Degussa und der Ghetto-Verwal-
tung von Litzmannstadt. Am 10. Oktober 1940 schreibt die Berliner Filiale der
Firma Degussa an die Ernährungs- und Wirtschaftsstelle Litzmannstadt: ‚Wir
danken für Ihr Schreiben vom 4. Oktober und haben uns gern bemerkt, dass Sie
beabsichtigen, uns diverse Gold- und Silberwaren, die dort zur Ablieferung ge-
kommen sind, zur Verwendung zu übersenden. (…) Eventuell wären wir bereit,
nach Eingang und Verwiegung der Sendung hier Ihnen einen Vorschuss auf das
Gut zu überweisen. Heil Hitler!‘

Und 18 Tage später ein weiterer Brief der Degussa an die Leitung des Ghettos:

‚Leider sind wir bis heute ohne Ihre Rückäußerung zu Ihrem Angebot vom
4. Oktober, die Verwertung von Gold- und Silberwaren aus jüdischem Besitz
stammend, geblieben.‘

Die Degussa bleibt beharrlich, will den Auftrag bekommen. Am 3. Dezember
1940 schreibt sie erneut einen Brief:

‚Sie dürfen überzeugt sein, dass sich die Ausarbeitung bei uns in jeder Weise
vorteilhaft für Sie gestalten würde, und es sollte uns freuen, von Ihnen nunmehr
recht bald einen positiven Bescheid zu erhalten.‘“

„Monitor“ fasst zusammen: „Das Werben der Degussa war erfolgreich. Sie be-
kommt den Auftrag aus dem Ghetto Litzmannstadt. Das belegt diese Abrech-
nung aus dem Ghetto. Allein in diesem Fall wurde über eine Tone Silber aus
dem Ghetto in Lodz gewinnbringend verwertet. Vor allem mit dem ‚Judengold‘
konnte das Hitler-Regime die Kriegswirtschaft in Gang halten. Firmen wie De-
gussa haben kräftig mitgeholfen. Das Verfahren zwischen A. B.–F. und der
Firma Degussa könnte zu mehr Gerechtigkeit und Klarheit führen. Doch in
Bonn, so scheint es, gibt es daran kein Interesse. In dem Schreiben der Bundes-
regierung, in dem sogenannten ‚Amicus Curiae‘-Brief an das amerikanische
Gericht heißt es abschließend: ‚Die Bundesrepublik Deutschland bittet deshalb
das Gericht, die Klage abzuweisen.‘“

„Monitor“ zitiert das NS-Opfer, die Jüdin A. B.–F. mit der Äußerung in Rich-
tung Bundesregierung: „Warum denkt Ihr an diese Leute? Warum denkt Ihr
nicht an uns? An unser Volk, das getötet wurde. Wenn Ihr Bedauern für diese
Leute habt, warum dann nicht für die Opfer? Wir sind die Opfer, nicht sie. Sie
sollen bezahlen für ihre Verbrechen.“ (Monitor, 12. August 1999).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Aus welchem Grund sah sich die Bundesregierung veranlasst, für das oben
angegebene Verfahren einen „Amicus Curiae“-Brief zu schreiben?

2. Wer hat die Bundesregierung wann mit welcher Intention gebeten, einen
„Amicus Curiae“-Brief zu schreiben?

3. Auf welcher Quellenlage ist der Bundesminister des Auswärtigen zu den
Folgerungen seines Briefes gekommen?

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4. Würde Bundesminister Joseph Fischer auch heute weiter behaupten, dass
die Degussa AG gezwungen war, Aufträge des NS-Regimes auszuführen,
oder würde er heute einräumen, dass sich Firmen wie die Degussa AG
durchaus freiwillig und beharrlich um solche Aufträge bewerben konnten?

5. Welche Gewinne konnten die Degussa AG und ihre Tochterunternehmen
nach Kenntnis der Bundesregierung aus der Vernichtungsmaschinerie der
Nazis ziehen?

6. Gedenkt die Bundesregierung in diesem konkreten Fall, einen neuen Brief
an das amerikanische Gericht in New Jersey zu schreiben, in dem die alte
Position korrigiert und für die jüdischen Opfer Stellung bezogen werden?
Wenn nein, warum nicht?

7. In welchen weiteren Fällen wurden „Amicus Curiae“-Briefe für Entschädi-
gungsverfahren von NS-Opfern gegen deutsche Firmen von Vertretern der
neuen und alten Bundesregierungen geschrieben (bitte einzeln nach Jahres-
angaben, Gerichtsort und Beklagten auflisten)?

8. Wann hat sich die Bundesregierung in welchen Verfahren zugunsten der
NS-Opfer geäußert (bitte einzeln nach Jahresangaben, Gerichtsort und Be-
klagten angeben)?

Berlin, den 14. September 1999

Wolfgang Gehrcke-Reymann
Ulla Jelpke
Petra Pau
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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