BT-Drucksache 14/1571

Verfolgung kurdischer Flüchtlinge und die Obhutspflichten der Bundesregierung

Vom 8. September 1999


Deutscher Bundestag Drucksache 14/1571
14. Wahlperiode 08. 09. 99

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS

Verfolgung kurdischer Flüchtlinge und die Obhutspflichten der Bundesregierung

Der in der Bundesrepublik Deutschland als anerkannter Asylbewerber lebende
kurdische Flüchtling C. S. ist Mitte Juli in Moldawien, wohin er mit deutschen
Papieren gereist war, von einem türkischen Kommando überfallen und in die
Türkei entführt worden. Er wird von türkischen Stellen beschuldigt, ein Funkti-
onär der PKK zu sein. Nach Berichten seiner Anwälte wurde er dann in der Tür-
kei während tagelanger Verhöre schwer gefoltert. Seine Bremer Anwälte schil-
derten die Folterungen am 26. Juli in einer Presseerklärung so: „Unser Mandant
wurde dort (in der Haft des Geheimdienstes MIT und später des Sicherheitsam-
tes zur Bekämpfung des Terrorismus) schlimmster Folter ausgesetzt, insbeson-
dere mittels Elektroschock, Aufhängens an sog. Palästinenserhaken, nacktem
Liegens auf Eisblöcken, Abspritzen mit einem Hochdruckwasserstrahl, der er-
zwungenen Einnahme von Medikamenten und Verabreichung von Spritzen,
durch die er weinen musste, seine geistige und körperliche Widerstandskraft
verlor und benommen war … Außerdem wurde er der als ‚chinesische Folter‘
bezeichneten Verhörmethode ausgesetzt, bei der er in einer winzigen Zelle ste-
hen musste und Wassertropfen auf seinen Kopf fielen. Die Verteidiger Herr A.
und Herr S. teilen uns weiter mit, dass sie an dem Mandanten an den Beinen,
Rücken und an den Armen Wundmale feststellen mussten.“ (aus: Kurdistan
Rundbrief 16/99 vom 11. August 99)

Die hier lebende Ehefrau von C. S. hat in einer späteren Pressekonferenz noch
einmal eindringlich an die Staats- und Regierungschefs der Türkei, der Bundes-
republik Deutschland und Moldawiens appelliert, ihr ihren Mann wieder zu-
rückzugeben. In ihrem Brief, den sie auch veröffentlich hat, schreibt sie u.a.:
„Mein Mann C. S. ist ein politischer Flüchtling aufgrund schlimmster erlittener
Folterungen. Der jetzt wieder vergewaltigt wird. Gibt es denn keinen Schutz
mehr für politisch verfolgte Folteropfer in Europa? Kann man diese jetzt ge-
wohnheitsmäßig kidnappen und immer wieder mißbrauchen?“ (zit. nach: Kur-
distan-Rundbrief 16/99, 11. August 99)

Trotz dieser Appelle ist vonseiten der Bundesregierung praktisch nichts unter-
nommen worden, um den Entführten wieder freizubekommen. Noch nicht ein-
mal eine deutsche Protestnote oder Strafanzeige wegen der von seinen Anwälten
berichteten Folterungen ist derzeit bekannt.

Wenige Tage nach Bekanntwerden der Entführung von C. S. berichteten tür-
kische Zeitungen, dass das türkische Staatssicherheitsgericht in Ankara nun
auch gegen 33 in Europa lebende Mitglieder des „Kurdischen Exilparlaments“
Haftbefehle erlassen habe und dass nun auch diese womöglich durch den tür-
kischen Geheimdienst MIT entführt und in die Türkei gebracht würden (Mil-

Drucksache 14/1571 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

liyet, 29. Juli 99). Nach kurdischen Angaben leben von den 33 Mitgliedern des
Exilparlaments, gegen die in Ankara Haftbefehle erlassen wurden und deren
Entführung deshalb womöglich droht, 20 in der Bundesrepublik Deutschland als
anerkannte Flüchtlinge, z.T. haben sie sogar die deutsche Staatsbürgerschaft.

In der kurdischen Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland haben diese
Vorgänge zu großer Unruhe geführt und zu Fragen, ob und welche Sicherheit vor
der Verfolgung durch den türkischen Geheimdienst MIT und andere türkische
Staatsorgane sie eigentlich in der Bundesrepublik Deutschland noch haben.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Obhutsverpflichtungen sieht die Bundesregierung gegenüber in
Deutschland lebenden anerkannten Asylbewerbern, wenn diese von Sicher-
heitsorganen ihres Herkunftsstaates erneut verfolgt werden?

2. Gibt es nach der Rechtsauffassung der Bundesregierung Unterschiede zwi-
schen deutschen Staatsbürgern und hier anerkannten Asylbewerbern in ihren
Ansprüchen auf Schutz durch die hiesigen staatlichen Organe gegen Entfüh-
rung, Freiheitsberaubung, Folterung und andere Straftaten, und wenn ja, wel-
che?

3. Sieht die Bundesregierung in rechtlicher Hinsicht einen Unterschied zwi-
schen der Entführung und Folterung von C. S. und früheren Entführungen
südkoreanischer Oppositioneller aus der Bundesrepublik Deutschland durch
den südkoreanischen Geheimdienst oder der Ermordung kurdischer Politiker
durch den iranischen Geheimdienst im Berliner Restaurant Mykonos vor
einigen Jahren, und wenn ja, welche?

4. Haben die Bundesregierung bzw. der Bundesminister des Auswärtigen,
Joseph Fischer, während seiner Türkeireise nach Bekanntwerden der Entfüh-
rung und der Foltervorwürfe der Anwälte von C. S. bei der türkischen Regie-
rung in irgendeiner Weise interveniert?

Wenn ja, in welcher Weise und mit welcher Forderung?

Wenn nein, warum nicht?

5. Welche Schritte will die Bundesregierung in nächster Zeit ergreifen, um
sicherzustellen, dass C. S. wieder freigelassen wird und zu seiner Familie
nach Deutschland zurückkehren kann?

6. Überlegt die Bundesregierung, wegen der bekannt gewordenen Foltervor-
würfe Klage vor einem europäischen Gericht einzureichen?

Wenn ja, wann und vor welchem?

Wenn nein, warum nicht?

7. Wie bewertet die Bundesregierung die bekannt gewordenen Foltervorwürfe
der Anwälte von C. S. vor dem Hintergrund der Anti-Folter-Konventionen
der UNO und des Europarats?

Welche Schritte will sie ggf. einleiten, um bei den zur Überwachung der Ein-
haltung dieser Konventionen zuständigen Instanzen ein Verfahren einzu-
leiten?

Wann ist ggf. mit diesen Schritten zu rechnen?

Wie begründet die Bundesregierung ihre Haltung, falls sie keine Schritte ein-
leiten will?

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/1571

8. Sind der Bundesregierung weitere Fälle von Entführungen kurdischer
Flüchtlinge durch türkische Staatsorgane aus anderen Ländern in den letzten
20 Jahren bekannt?

Wenn ja, welche?

9. Wie reagiert die Bundesregierung auf den Haftbefehl des Staatssicherheits-
gerichts in Ankara gegen in der Bundesrepublik Deutschland lebende Mit-
glieder des Kurdischen Exilparlaments?

10. Wie sollen sich nach Auffassung der Bundesregierung deutsche Justiz- und
Sicherheitsorgane gegenüber diesem Haftbefehl verhalten?

11. Beabsichtigt die Bundesregierung, auf die wiederholten Drohungen in tür-
kischen Zeitungen gegen hier lebende kurdische Asylbewerber, sie würden
ähnlich wie C. S. in die Türkei entführt, zu reagieren, und wenn ja, wie?

12. Welche Schritte will die Bundesregierung ergeifen, um dem vor allem in der
hier lebenden kurdischen Bevölkerung verbreiteten Eindruck entgegen-
zuwirken, kurdische Asylbewerber seien, auch wenn sie anerkannte Flücht-
linge sind, für ihre Verfolgerstaaten weiter „vogelfrei“ und könnten jeder-
zeit irgendwo entführt werden, ohne dass dies Konsequenzen für ihre
Verfolgerstaaten hat?

13. Wie beurteilt die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Entführung
von C. S. und der bekannt gewordenen weiteren Entführungsdrohungen die
Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes MIT und die Gefahr weiterer
Entführungsversuche und anderer Verfolgungsmaßnahmen seitens des MIT
auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland?

14. Welche Schritte will die Regierung ergreifen, um der Gefahr von weiteren
Übergriffen des MIT auf hier lebende kurdische Asylbewerber zu verrin-
gern und seine rechtswidrigen Aktivitäten soweit wie möglich einzuschrän-
ken?

Berlin, den 3. September 1999

Ulla Jelpke
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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